THEMEN DER ZEIT
Telenotarztqualifikation: Einheitliche Ausbildung sinnvoll
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Die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe haben im August 2020 ein einheitliches Qualifikationscurriculum Telenotarzt verabschiedet. Die Erfahrungen aus den ersten erfolgreichen Kursen zeigen, dass eine ärztekammerübergreifende und einheitliche Ausbildung von Telenotärzten möglich und sinnvoll ist.
Deutschland verfügt über ein duales Rettungssystem, bestehend aus qualifiziertem nichtärztlichen Rettungsdienstpersonal sowie Notärztinnen und Notärzten. So werden circa die Hälfte der anfallenden Notfalleinsätze durch den Rettungsdienst alleine und zur anderen Hälfte gemeinsam mit einem Notarzt bewältigt. Verlängerte Eintreffzeiten, steigende Einsatzzahlen, in einigen Regionen vorkommender Notärztemangel, veraltete Kommunikationsmittel und fehlende systematische Qualitätskontrollen sowie eine daraus resultierende regional sehr heterogene Behandlungsqualität in der Notfallversorgung stellen aktuell zu lösende Probleme dar – hier könnten innovative telenotärztliche Ansätze einen Beitrag leisten.
Telemedizinische Anwendungen haben bereits in unterschiedlichsten Konzepten erfolgreich Einzug in verschiedenste Bereiche der Patientenversorgung gehalten, so auch in die prähospitale Notfallmedizin (1, 2). Erstmals wurde 2014 in Aachen der sogenannte Telenotarzt nach mehrjähriger Forschungs- und Entwicklungsarbeit in den Regelrettungsdienst eingebunden (3). In den letzten sieben Jahren wurden bereits über 35 000 Einsätze erfolgreich in der Telenotarztzentrale abgearbeitet. Aktuell etabliert sich der Telenotarzt als zusätzliche Ressource an verschiedenen Standorten. So wird eine leitliniengerechte und rechtssichere Versorgung von Notfallpatienten und zugleich ein ressourcenoptimierter Einsatz des konventionellen Notarztes für die Fälle ermöglicht, welche die manuellen Fertigkeiten des Arztes an der Einsatzstelle erfordern. Die 24/7-Erreichbarkeit dieses hoch qualifizierten Notarztes auf Knopfdruck führt zu mehr Arztkontakten von Notfallpatienten und damit zu einer Qualitätssteigerung der rettungsdienstlichen Versorgung auch über die geltenden Verfahrensanweisungen und damit Möglichkeiten des Notfallsanitäters hinaus. Aufgrund einer oftmals nur punktuell erforderlichen Unterstützung ist die Übernahme von mehreren Einsätzen aus unterschiedlichen Rettungsdienstbereichen nahezu gleichzeitig realisierbar. Die moderne Technik ermöglicht ebenfalls die Übernahme von Einsätzen durch Redundanzplätze innerhalb eines überregionalen Netzwerkes bei Auslastung des zuständigen Telenotarztes.
Mit der im Jahr 2020 unterzeichneten Absichtserklärung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) in Nordrhein-Westfalen (NRW), den Telenotarzt landesweit einzuführen, wurde der Weg für eine strukturierte Etablierung von Trägergemeinschaften für Telenotarztsysteme geebnet. Aus diesen Entwicklungen heraus sowie den Zielen von vergleichbarer Versorgungsqualität und dem Aufbau eines Telenotarztnetzwerkes, erwuchs der Bedarf eines einheitlichen Ausbildungsniveaus aller Telenotärzte (4).
Aus diesem Grunde haben die Ärztekammern Nordrhein (ÄkNo) und Westfalen-Lippe (ÄKWL) im August 2020 ein Qualifikationscurriculum Telenotarzt verabschiedet. Damit werden sowohl einheitliche Qualifikationsvoraussetzungen als auch Ausbildungsinhalte für im Notarztdienst erfahrene und am Telenotarztdienst interessierte Ärzte etabliert.
Entstehung des Curriculums
Die Qualifikationsanforderungen (Tabelle 1) und die Inhalte des Curriculums (Tabelle 2) wurden durch Mitglieder der Ausschüsse Weiterbildung, Notfallversorgung und Rettungsdienst der ÄkNo, Mitglieder des Arbeitskreises Rettungsdienst, innerklinische Notfallmedizin und Katastrophenschutz der ÄKWL sowie durch Mitglieder der Fachsektion Notfallmedizin der Akademie für medizinische Fortbildung der ÄKWL und der KVWL erarbeitet. Das Aachener Institut für Rettungsmedizin und zivile Sicherheit (ARS) hat im Dialog mit den Ärztekammern die Inhalte des Curriculums basierend auf Lernzielen in ein Kursformat umgesetzt.
Dieses umfasst 28 Unterrichtseinheiten (UE) eingeteilt in drei Module auf drei Tage. Zwei UE werden vorab in Form von E-Learning und zwei UE am Ende in Form eines Abschlusskolloquiums absolviert. Die ersten Kurse im Kammerbereich Westfalen-Lippe fanden im April und Juli 2021 statt, der erste Kurs im Kammerbereich Nordrhein im Juni 2021. Den Pandemiebedingungen folgend, wurden die ersten zwei Kurstage jeweils als Webinar und der dritte Tag als Praxistag in Präsenz durchgeführt. Der Praxistag gliederte sich nach einer kurzen Wiederholung der beiden Theorietage in drei wesentliche Aufgabenfelder des Telenotarztes. In drei Kleingruppen rotierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die Praxisstationen, welche jeweils mit zwei UE abgebildet waren:
- 1. Telekonsultation im Notfalleinsatz,
- 2. Abklärung von Sekundärtransporten,
- 3. Kommunikation und Führung im Team.
Insgesamt konnten in den ersten drei Kursen 61 Notärzte (Altersdurchschnitt 48 Jahre) zu Telenotärzten qualifiziert werden. Viele der aufgrund der Qualifikationsanforderungen in der Notfallmedizin erfahrenen Ärztinnen und Ärzte hatten zusätzlich eine Führungsqualifikation im Bereich Notfallmedizin.
Konstruktives Feedback
Dies zeigt, dass sich noch vor der praktischen Einführung der Telenotarztarbeitsplätze die leitenden Ärzte mit dem Tätigkeitsfeld und vor allem dessen Unterschiede zum konventionellen Notarztdienst, Möglichkeiten, Grenzen und Erfordernisse vertraut machten. Die Bewertung der einzelnen Kursteile durch die Teilnehmenden (Grafik) macht deutlich, dass den Teilnehmenden besonders der Praxisteil mit ausreichenden Einsatzbeispielen wichtig ist. Auch die Relevanz der Themen Datenschutz und Recht wird als sehr hoch bewertet.
Konsultation im Primäreinsatz: An dieser Station wurde anhand von Audioaufnahmen von Telekonsultationen sowie simulierter Gespräche und Informationen, der Ablauf eines Einsatzes mit Schwerpunkt auf Entscheidungsfindung und therapeutische Maßnahmen durchlaufen. Im Rahmen äußerst konstruktiver Diskussionen wurden die trägerabhängig heterogene Struktur des Rettungsdienstes und die regional unterschiedlichen Gegebenheiten bezogen auf den Notarztindikationskatalog zum Ausdruck gebracht. In diesem Zusammenhang wurde die Abhängigkeit von Indikationskatalog und Telenotarztquote mit und ohne Disposition des Telenotarztes diskutiert. Darüber hinaus wurde klar, dass eine Vereinheitlichung der rettungsdienstlichen Vorgaben wie Standardarbeitsanweisungen (SAA) vorteilhaft ist, wenn ein Telenotarzt als Redundanz für ausgelastete Plätze in unterschiedlichen Rettungsdienstbereichen fungieren soll.
Sekundärtransporte: Basierend auf Beispielen konnte bei dieser Praxisübung die Abklärung eines Sekundärtransportes mit dem abgebenden Krankenhaus durchgespielt werden. Dabei zeigte sich, dass der Telenotarzt auch in diesem Bereich einen optimalen Einsatz der vorhandenen Ressourcen sicherstellen kann. In diesem Zusammenhang wurden in nahezu allen Heimatbereichen der Teilnehmenden ähnliche Probleme vor allem im Bereich von Schnittstellen identifiziert. Auch scheint die ärztliche Abklärung von Sekundärtransporten bisher nur vereinzelt etabliert zu sein, an vielen Stellen erfolgt die Ressourcenauswahl noch durch den Leitstellendisponenten gemäß Anforderung ohne vorherige Abklärung. Dies führt oftmals zum unnötigen Einsatz eines Notarztes. Auch die zur Verfügung stehenden Ressourcen mit mehr oder weniger guter Kenntnis der Ausstattung wurden angesprochen (5).
Kommunikation: Im Rahmen von fallbasierten Kommunikationsübungen wurden Fallstricke bei der Telekonsultation erläutert. Auch die Wichtigkeit der Konzentrationsfähigkeit, der Beschränkung auf das Wesentliche sowie der routinierten checklistenbasierten Abarbeitung einer Konsultation wurden herausgearbeitet. Betont wurde auch die Berücksichtigung von weniger Einsatzpersonal vor Ort, insbesondere die frühzeitige Alarmierung von Tragehilfe.
Diskussion
Die Rückmeldungen und Erfahrungen aus den ersten drei Kursen zeigen, dass das gemeinsame Curriculum der ÄKWL und ÄkNo von den Absolvierenden gut bewertet wird und damit erfahrene Notärzte adäquat auf die Tätigkeit als Telenotarzt vorbereitet. Auf Grundlage der Evaluation der Teilnehmenden waren nur wenige inhaltliche Anpassungen erforderlich.
Es herrschte Einigkeit darüber, dass eine Ausweitung der Präsenz die Effektivität des Kurses aufgrund der dann möglichen persönlichen Diskussionen und des Austausches über Rahmenbedingungen sowie Vorteile und Nachteile einzelner Regionen erhöhen würde. Auch wünschten sich die Teilnehmenden viel Praxistraining mit herausfordernden Fällen für erfahrene Notärzte. Im Abschlusskolloquium zeigten die Teilnehmenden, dass die ausgewählten Praxisfälle mit den vermittelten Lehrinhalten adäquat abgearbeitet werden konnten. Um eine qualitativ hochwertige und einheitliche Patientenversorgung sicherzustellen, wäre eine Übernahme des Curriculums durch andere Ärztekammern wünschenswert. Nur so kann eine einheitliche Qualifikation aller Telenotärzte und damit eine redundante telenotärztliche Versorgung auch an den Landesgrenzen sichergestellt werden. Die Teilnahme an dem Curriculum „Qualifikation Telenotarzt“ ersetzt in keinem Fall die Einarbeitung an einem lokalen Telenotarztarbeitsplatz, welche auch die Gegebenheiten der verfügbaren Technik berücksichtigen muss.
Fazit
Die Einführung des Curriculums zeigt, dass eine ärztekammerübergreifende, einheitliche Ausbildung von Telenotärzten möglich und sinnvoll ist. Neben relevanten theoretischen Grundlagen sollten praktische Einsatzbeispiele im Vordergrund stehen und die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch genutzt werden. Zur Gewährleistung eines redundanten Telenotarztnetzwerks wäre die Übernahme des Curriculums durch andere Ärztekammern vorteilhaft.
- Zitierweise dieses Beitrags: Dtsch Arztebl 2022; 119 (6): A 225–8
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Hanna Schröder
Aachener Institut für Rettungsmedizin und zivile Sicherheit,
Uniklinik RWTH Aachen und Stadt Aachen
Stolberger Str. 155, 52068 Aachen
ARS@ukaachen.de
Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit0622 oder über QR-Code.
Aachener Institut für Rettungsmedizin und zivile Sicherheit, Uniklinik RWTH Aachen und Stadt Aachen: Dr. med. Hanna Schröder, Dr. med. Marc Felzen, Prof. Dr. med. Stefan K. Beckers
Kliniken für Notfallmedizin am Klinikum Lippe, Zentrale Notaufnahmen Lemgo/Detmold: Daniel Fischer
Ärztekammer Westfalen-Lippe: Daniel Fischer, Elisabeth Borg
Ärztekammer Nordrhein: Thomas Franke, Dipl.-Ing. Veronika Maurer
St. Marien-Hospital, Zentrale Notaufnahme: Thomas Franke
1. | Metelmann C, Renzing N, Gräsner JT, et. al.: Prähospitale Telenotfallmedizin. Notfallmedizin Up2date 2020; 15: 381–95 CrossRef |
2. | Koncz V, Kohlmann T, Bielmeier S, Urban B, Prückner S: Tele-emergency physician: New care concept in emergency medicine. Unfallchirurg 2019; 122: 683–9 CrossRef MEDLINE |
3. | Brokmann JC, Rossaint R, Bergrath S, et. al.: Potenzial und Wirksamkeit eines telemedizinischen Rettungsassistenzsystems: Prospektive observationelle Studie zum Einsatz in der Notfallmedizin. Anaesthesist 2015; 64: 438–45 CrossRef MEDLINE |
4. | Felzen M, Hirsch F, Brokmann JC, Rossaint R, Beckers SK: Anforderungs- und Qualifikationsprofil an den Notarzt in der Telenotfallmedizin. Notf Rettungsmedizin 2018; 21: 590–7 CrossRef |
5. | Schröder H, Brockert A-K, Beckers SK, et. al.: Indikationsgerechte Durchführung von Sekundärtransporten im Rettungsdienst – Hilft der Arzt in der Leitstelle? Anaesthesist 2020; 69: 726–32 CrossRef MEDLINE |