ArchivDeutsches Ärzteblatt7/2022Pflegemangel: Entlastung durch Tarifverträge

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Pflegemangel: Entlastung durch Tarifverträge

Osterloh, Falk

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Seit einigen Jahren vereinbart Verdi mit einzelnen Krankenhäusern Tarifverträge, die eine Entlastung des Personals durch die Einstellung neuer Kollegen vorsehen. Verdi ist mit den Ergebnissen zufrieden. Bundeseinheitliche Vorgaben will nun die neue Bundesregierung festlegen.

Beschäftigte von Charité und Vivantes demonstrierten 2021 vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus für die Verabschiedung der Entlastungstarifverträge. Foto: picture alliance/SZ Photo/Mike Schmidt
Beschäftigte von Charité und Vivantes demonstrierten 2021 vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus für die Verabschiedung der Entlastungstarifverträge. Foto: picture alliance/SZ Photo/Mike Schmidt

Das größte Problem in den deutschen Krankenhäusern ist derzeit der Personalmangel – insbesondere in der Pflege. Union und SPD haben in der vergangenen Legislaturperiode zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, um dieses Problem zu beheben – mit mäßigem Erfolg.

Eine Maßnahme brachten sie dabei erst spät auf den Weg: Im Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung wurde die Selbstverwaltung damit beauftragt, bis Ende 2024 ein wissenschaftlich fundiertes Instrument zur Bemessung des Pflegepersonalbedarfs in der unmittelbaren Patientenversorgung im Krankenhaus zu erarbeiten. Die Messung des Pflegebedarfs mithilfe der Pflegepersonal-Regelung (PPR) 2.0, wie sie die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Pflegerat (DPR) und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi seit Langem fordern, hat die Regierung nicht umgesetzt.

So hat Verdi versucht, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln Fakten zu schaffen. Erstmals im Jahr 2016 hat sie mit der Berliner Charité einen sogenannten Entlastungstarifvertrag abgeschlossen. Der Vertrag sah eine dezentrale Personalbemessung auf den Normalstationen mithilfe der PPR vor, mit der in den 1990er-Jahren für einige Zeit der Pflegeaufwand in deutschen Krankenhäusern errechnet wurde. Anhand der so erhaltenen Orientierungswerte sollte die Charité neues Pflegepersonal einstellen. Fand die Charité trotz Bemühens nicht genügend Pflegekräfte, griff eine Kaskade von Vorgaben: von der Übernahme bestimmter Tätigkeiten durch andere Berufsgruppen bis zur Sperrung von Betten.

Bis heute hat Verdi mit verschiedenen Krankenhausträgern weitere Entlastungstarifverträge vereinbart, in erster Linie mit Universitätskliniken. Neben der Charité gehören die Unikliniken in Heidelberg dazu, in Tübingen, Freiburg, Ulm, Jena, Düsseldorf, Essen, Mainz und Augsburg sowie das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein mit den Standorten Kiel und Lübeck und das Universitätsklinikum des Saarlands. Hinzu kommen das private SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinach und Vivantes, der größte kommunale Krankenhausträger Deutschlands.

„Die Voraussetzung für die Durchsetzung von Tarifverträgen ist eine gute Organisierung der Belegschaft.“ Grit Genster, Verdi. Foto: shift/studio für Verdi
„Die Voraussetzung für die Durchsetzung von Tarifverträgen ist eine gute Organisierung der Belegschaft.“ Grit Genster, Verdi. Foto: shift/studio für Verdi

Wieso hat sich Verdi gerade diese Träger ausgesucht? „Die Voraussetzung dafür, dass Tarifverträge zur Entlastung durchgesetzt werden können, ist eine gute Organisierung der Belegschaft“, erklärt Grit Genster, Bereichsleiterin Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik bei Verdi, dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). „Überall dort, wo sich Beschäftigte zusammenschließen, sich kollektiv organisieren und starkmachen für Entlastung, gehen wir in die tarifpolitische Auseinandersetzung und setzen Regelungen durch, die dem Arbeits- und Gesundheitsschutz nützen.“

Arbeitsbedingungen verbessert

Mit dem Erfolg der Verträge ist Verdi zufrieden. „Dort, wo Entlastungstarifverträge umgesetzt werden, haben sich die Arbeitsbedingungen verbessert – und zwar für die verschiedenen Beschäftigtengruppen im Krankenhaus, nicht nur für die Pflege. So wurden unter anderem konkrete Personalschlüssel für Stationen und die Besetzung zusätzlicher Stellen vereinbart. Geregelt wurde auch ein Ausfallmanagement und Ausgleichsvorgaben für den Fall, dass Personalschlüssel nicht eingehalten werden können.“ Die Umsetzungsstände bei den verschiedenen Trägen seien aber sehr unterschiedlich, ebenso wie die Regelungsinhalte. Daher gebe es noch keine übergreifende Evaluation.

Neue Verträge in Berlin

Zum Jahresbeginn sind in Berlin zwei neue Entlastungstarifverträge in Kraft getreten, der „Tarifvertrag Gesundheitsberufe“ in der Charité und der Vertrag „Pro Personal Vivantes“ bei Vivantes. „Ziel des Tarifvertrags ist es, Belastungssituationen von Beschäftigten im Pflege- und Funktionsdienst zu identifizieren, zu vermeiden und zu beseitigen und dadurch eine deutliche, nachhaltige und messbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen und damit einhergehend der Qualität der Patientenversorgung herbeizuführen“, erklärt eine Sprecherin von Vivantes dem DÄ. „Dies geschieht, indem für Bereiche wie die bettenführenden Stationen und unterschiedliche Funktionsabteilungen konkrete Besetzungsregelungen vereinbart wurden. Werden diese unterschritten, erhalten die Beschäftigten sogenannte Vivantes-Freizeitpunkte, die nach einem gestaffelten System in Freizeit oder Entgelt umgewandelt werden können.“ 

Zudem lege der Tarifvertrag einen Schwerpunkt auf die Förderung der Ausbildung. Neben konkreten Verbesserungen der praktischen Ausbildungsqualität regele Vivantes nun auch tarifvertraglich die Ausstattung aller Auszubildenden mit Notebooks zur schulischen und privaten Nutzung. Zudem erhalten die Auszubildenden im zweites Ausbildungsjahr ein konkretes Übernahmeangebot. Die dreijährige Laufzeit des Tarifvertrages will Vivantes für eine fortlaufende, wissenschaftliche Evaluation zur konkreten Verbesserung der Arbeitsbedingungen nutzen.

Der „Tarifvertrag Gesundheitsberufe“ bei der Charité schreibt unter anderem Mindestbesetzungen auf verschiedenen Stationen vor, zum Beispiel im OP und in der Anästhesie. Dreimal täglich wird die Anzahl der Pflegenden und der Patienten gemessen und ins Verhältnis zueinander gesetzt. Es wird definiert, ab wann die Mitarbeitenden als überlastet gelten. Bei Überlastungen erhalten sie auch hier Punkte, die sie gegen Geld oder Freizeit einlösen können.

„Wir haben feste Bemessungsregelungen vereinbart, machen jederzeit transparent, wo Kolleginnen und Kollegen fehlen und können so sehr zielgerichtet steuern und rekrutieren“, erklärt ein Sprecher der Charité dem DÄ. „Unser gemeinsames Ziel ist es, eine realistisch erreichbare und nachhaltige Entlastung der Mitarbeitenden in den Gesundheitsfachberufen an der Charité in den nächsten drei Jahren herbeizuführen. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen soll zu einer Steigerung der Verweildauer im Beruf an der Charité und zu einer höheren Arbeitgeberattraktivität beitragen.“ Darüber hinaus sollen drei neue Ausbildungsstationen und eine multiprofessionelle Intensiv-Lernstation eingeführt werden, eine zwei Monate im Voraus bestehende Dienstplansicherheit und eine Ausweitung der Betreuungszeit der Praxisanleitenden.

„Die fehlenden Stellen zu besetzen, ist die Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte.“ Christine Vogler, Deutscher Pflegerat. Foto. Gudrun Arndt
„Die fehlenden Stellen zu besetzen, ist die Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte.“ Christine Vogler, Deutscher Pflegerat. Foto. Gudrun Arndt

Der Deutsche Pflegerat zeigt sich mit den Ergebnissen der neuen Tarifverträge grundsätzlich zufrieden. „Die Entlastungstarifverträge verfolgen etwas, das der DPR schon lange für die Pflegenden einfordert – bessere Arbeitsbedingungen durch mehr Personal“, sagt die DPR-Präsidentin Christine Vogler dem DÄ. Allerdings würden mit den Entlastungstarifverträgen nur Mindestbesetzungen geregelt – ohne Anspruch auf den Blick einer pflegerischen Versorgungsqualität. Das sei am Ende aber auch nicht das Aufgabengebiet der Gewerkschaften. „Der DPR wendet den Blick auf die Personalbemessung aus Sicht der Pflegebedarfe der Bedürftigen – das fehlt hier“, sagt Vogler. „Die Gefahr, dass Mindestbesetzungen zu Normalbesetzungen werden, schwingt immer mit.“

Die neue Bundesregierung hat eine schnelle Einführung der PPR 2.0 in den Krankenhäusern in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, mit der die tatsächlichen Pflegebedarfe gemessen werden sollen. „Die Frage, wie wir bei dem bestehenden Fachkräftemangel allerdings die Besetzung der dann fehlenden Stellen bewerkstelligen und auch die Finanzierung sicherstellen, wird die Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte werden“, meint Vogler. Die Entlastungstarifverträge seien in jedem Fall ein Schritt, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Weitere Verträge in Planung

Und weitere Verträge sind geplant. „In Nordrhein-Westfalen haben sich die Beschäftigten der sechs Unikliniken – Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster – in diesem Jahr auf den Weg gemacht, für Entlastung zu kämpfen“, sagt Genster. „Sie fordern die Landesregierung und den zuständigen Arbeitgeberverband auf, Maßnahmen gegen den Personalnotstand einzuleiten. Dafür haben sie den Kliniken ein Ultimatum gestellt, das am 1. Mai 2022 endet. Bis dahin erwarten sie den Abschluss eines Tarifvertrages zur Entlastung, der Mindestpersonalausstattungen für alle Bereiche der Unikliniken festlegt und angemessene Belastungsausgleiche vorsieht.“

Genster fordert die neue Bundesregierung auf, die PPR 2.0 unverzüglich anzugehen. „Beim Gesetzgeber bleibt die Verantwortung, die bedarfsgerechte Personalausstattung durch verbindliche Vorgaben zu regeln, damit sich Patientinnen und Patienten auf eine gute Versorgung verlassen können“, sagt sie. Falk Osterloh

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