MEDIZIN: Originalarbeit
Spiritualität, Selbstfürsorge und soziale Aktivität in der hausärztlichen Versorgung älterer Patienten
Ergebnisse einer clusterrandomisierten Interventionsstudie (HoPES3)
Spirituality, self-care, and social activity in the primary medical care of elderly patients—results of a cluster-randomized interventional trial (HoPES3)
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Hintergrund: Selbstwirksamkeit ist entscheidend für die Lebensqualität älterer, multimorbider Menschen. Möglicherweise lässt sich die Selbstwirksamkeit der Patientinnen und Patienten stärken, indem die individuelle Spiritualität, soziale Aktivität und Selbstfürsorge gezielter berücksichtigt werden. Diese Hypothese wurde mit Hilfe einer komplexen Intervention untersucht.
Methode: Es wurde eine unverblindete, explorative, clusterrandomisierte, kontrollierte Studie mit Hausarztpraxen als Randomisierungseinheit durchgeführt (Registriernummer DRKS00015696). Eingeschlossen wurden Patienten im Alter ≥ 70 Jahre, die ≥ 3 chronische Krankheiten hatten, ≥ 3 Medikamente einnahmen und an einem Disease-Management-Programm teilnahmen. In der Interventionsgruppe erhoben Hausärztinnen und Hausärzte eine spirituelle Anamnese und Medizinische Fachangestellte berieten zum Gebrauch von Hausmitteln (zum Beispiel Tee, Wärme-/Kälteanwendungen) und zu regionalen Angeboten für Ältere. Der primäre Endpunkt – die gesundheitsbezogene Selbstwirksamkeit, erhoben mit der SES6G-Skala – sowie weitere sekundäre Endpunkte wurden mittels mehrstufiger Regressionsanalysen ausgewertet.
Ergebnisse: Daten von 297 Patienten aus 24 Praxen wurden berücksichtigt. Die Analyse des primären Endpunkts wies auf keinen Effekt hin (durchschnittliche Differenz zwischen den Studienarmen: 0,30 Punkte; 95-%-Konfidenzintervall: [−0,21; 0,81]; d = 0,14; p = 0,25). Die Subgruppenanalysen ergaben hinsichtlich des sekundären Endpunkts „psychisches Wohlbefinden“ (SF12-Subskala) folgende Situation: Patienten, die bereits vor Studienbeginn Hausmittel genutzt hatten, erfuhren eine deutliche Verbesserung (Punktdifferenz von 7,3 auf einer Skala von 0–100; d = 0,77; p < 0,001). Dies galt ebenfalls für Patienten, die angaben, dass Spiritualität eine große Bedeutung in ihrem Leben habe (Punktdifferenz von 6,2 auf einer Skala von 0–100; d = 0,65; p = 0,002).
Schlussfolgerung: Die Haupthypothese bezüglich der gesundheitsbezogenen Selbstwirksamkeit wurde nicht bestätigt. Die Ergebnisse der Analysen der Sekundärparameter weisen darauf hin, dass bestimmte Patientensubgruppen von dem Interventionsansatz profitieren könnten.


Etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung leidet unter chronischen Erkrankungen, die eine Behandlung mit einer Mehrfachmedikation erfordern (1). Im Rahmen von Disease-Management-Programmen (DMP) werden chronisch kranken Patientinnen und Patienten alle 3–6 Monate strukturierte Assessments angeboten (2). Während DMPs insbesondere auf eine Standardisierung von Diagnostik und Behandlung abzielen, könnte die Integration von ganzheitlichen Aspekten der Gesundheitsversorgung – wie Spiritualität, soziale Aktivität und Selbstfürsorge – die Selbstwirksamkeit der Patienten stärken und zu mehr Patienten-Empowerment beitragen.
Selbstwirksamkeit, das heißt die subjektiv empfundene Fähigkeit, selbstgesetzte Ziele erreichen zu können, ist erwiesenermaßen ein entscheidender Faktor für die Lebensqualität älterer Patienten (3).
Spiritualität wurde bereits mit Selbstwirksamkeit in Verbindung gebracht (4). Die Definitionen von Spiritualität und spirituellen Bedürfnissen sind heterogen, haben aber oft vier Attribute gemeinsam (5, 6):
- Verbundenheit (zum Beispiel sich mit der Familie verbunden zu fühlen)
- Transzendenz (zum Beispiel in die Natur einzutauchen, zu beten)
- Frieden (zum Beispiel inneren Frieden zu finden, in einer friedvollen Umgebung zu entspannen)
- Lebenssinn (zum Beispiel Lebenserfahrungen weiterzugeben, sicher zu sein, dass das eigene Leben einen Sinn hat) (5, 6).
Im Rahmen dieser Studie wurde Spiritualität als all das definiert, was dem Leben eines Menschen Sinn gibt und als persönliche Ressource dient. Diese Definition wurde auch gewählt, um zu betonen, dass Spiritualität mehr umfasst als Religion.
Selbstfürsorge – in der vorliegenden Studie definiert als Dinge, die Patienten neben der Einnahme von Medikamenten selbst tun können, um ihr persönliches Wohlbefinden zu steigern – und soziale Aktivität stehen mit Selbstwirksamkeit (7, 8, 9) und Spiritualität (4, 10) wechselseitig in Beziehung.
Das übergreifende Ziel des „Holistic Care Program for Elderly Patients to Integrate Spiritual Needs, Social Activity and Self-Care into Disease Management in Primary Care (HoPES3)” war es, diese Aspekte in der hausärztlichen Versorgung zu stärken. Es wurde angenommen, dass Interventionen, die dazu konzipiert sind, das Bewusstsein von Patienten für ihre persönlichen und spirituellen Ressourcen zu erhöhen und die Patienten zu sozialen Aktivitäten und zur Selbstfürsorge zu ermutigen, die Selbstwirksamkeit stärken und auf lange Sicht die Lebensqualität verbessern. Selbstwirksamkeit wurde daher als primärer Endpunkt definiert. Die Rationale für diese Annahmen ist im Studienprotokoll, das auch ein theoretisches Modell der vermuteten Wirkmechanismen der Intervention enthält, detailliert beschrieben (11).
Das Ziel der vorliegenden Studie war es, die Effektivität der HoPES3-Intervention hinsichtlich der primären und sekundären Endpunkte auf Patientenebene zu untersuchen.
Methoden
Studiendesign
Zwischen März 2019 und Juni 2020 wurde eine cluster-randomisierte, kontrollierte Studie mit Hausarztpraxen als Randomisierungseinheit und einer Follow-up-Zeit von sechs Monaten durchgeführt. Aufgrund der fehlenden Vorerfahrung hinsichtlich möglicher Interventionseffekte wurde die Studie als explorative Pilotstudie konzipiert. Die Studie wurde von den zuständigen Ethikkommissionen des Universitätsklinikums Heidelberg und der Landesärztekammer Baden-Württemberg begutachtet, im Deutschen Register Klinischer Studien registriert (DRKS 00015696) und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen 01GL1803).
Rekrutierung
Alle Hausarztpraxen in definierten Regionen im südlichen Baden-Württemberg wurden postalisch kontaktiert. Hausärztinnen und Hausärzte, die mindestens ein DMP anboten, sowie deren Medizinische Fachangestellten (MFA) kamen für eine Studienteilnahme in Frage (eine Tätigkeitsbeschreibung von Medizinischen Fachangestellten in Deutschland findet sich in [12]). Die teilnehmenden Hausärzte informierten alle Patienten, die innerhalb der nächsten drei Monate einen DMP-Termin hatten und die Teilnahmekriterien erfüllten, über die Studie. Die Teilnahmekriterien umfassten:
- Alter ≥ 70 Jahre
- ≥ drei chronische Erkrankungen
- Einnahme von ≥ drei Medikamenten
- Teilnahme an mindestens einem DMP
- Fähigkeit zur aktiven Studienteilnahme.
Die Hausärzte wurden zudem aufgefordert, vorwiegend Patienten einzuschließen, die nach ihrer Einschätzung von der Intervention profitieren könnten.
Datenerhebung
Die Daten zur Messung der Endpunkte wurden mit Fragebögen zum Zeitpunkt des Studieneinschlusses (T0) und sechs Monate nach der Intervention (T1) erhoben. Zusätzlich wurden bei T0 die im Praxisverwaltungssystem hinterlegten Medikationspläne ausgestellt.
Interventionen
Während in der Kontrollgruppe das DMP wie bisher durchgeführt wurde, erhielten Patienten in der Interventionsgruppe zusätzlich die HoPES3-Intervention, die sich auf drei Themenfelder konzentrierte:
- Spiritualität
- Selbstfürsorge durch Hausmittel
- soziale Aktivität und Einsamkeit.
Die Hausärzte erhoben eine spirituelle Anamnese nach dem Gesprächs-Modell SPIR: Die vier Schlüsselfragen (Kasten und eSupplement 1), die durch Unterfragen ergänzt oder ersetzt werden können, um die Sprache an den einzelnen Patienten anzupassen, ermöglichen es, strukturiert wichtige Informationen über die Spiritualität der Patienten, einschließlich ihrer Wünsche nach mehr sozialen Kontakten und Selbstfürsorgemaßnahmen, in Erfahrung zu bringen (13).
Anschließend stellten die MFA Informationen über regionale soziale Aktivitäten für Seniorinnen und Senioren und/oder über Hausmittel zur Verfügung. Mit Letzterem sind nichtpharmakologische Maßnahmen gemeint, die Patienten selbstständig anwenden können, um häufige Beschwerden im Alter zu lindern (zum Beispiel Wärme-/Kälte-Behandlungen und Kräuteranwendungen). Zu diesem Zweck erhielten Praxen und Patienten „Infozepte“ zu verschiedenen Hausmitteln (eSupplement 2) und eine webbasierte Zusammenstellung von sozialen Aktivitäten für Senioren im Umkreis von zehn Kilometern der jeweiligen Praxis. Alle Materialien waren vom Studienteam erarbeitet worden und über die Homepage der Studie abrufbar (www.hopes3.de). Die Patienten wurden gebeten, ihre spirituellen, sozialen und Selbstfürsorgeaktivitäten in einem standardisierten Tagebuch zu dokumentieren. Die Hausärzte und MFA wurden in einem vierstündigen Workshop geschult. Eine detailliertere Beschreibung der Intervention kann separaten Veröffentlichungen entnommen werden (11, 14).
Endpunkte und Instrumente
Die gesundheitsbezogene Selbstwirksamkeit, gemessen mit der „Self-Efficacy for Managing Chronic Disease-6-Item-Skala“ (SES6G) (15), wurde als primärer Endpunkt definiert. Entsprechend des explorativen Charakters der Studie wurde eine Reihe sekundärer Endpunkte mit validierten Fragebögen (n = 8) gemessen (Tabelle 1, eTabelle 1). Zudem wurden nichtvalidierte Items verwendet, um das Bewusstsein der Patienten für ihre Kraftquellen (2 Items) und die Nutzung von Hausmitteln (1 Item) zu messen (eTabelle 1).
Statistische Methoden
Die primäre Effektivitätsanalyse erfolgte über ein gemischtes lineares Modell, mit dem SES6G-Score zu T1 als abhängiger Variable sowie den festen Faktoren Behandlungsgruppe, Geschlecht, SES6G-Score zu T0, Alter und Medikamentenanzahl und dem zufälligen Faktor Praxis. Die primäre Analyse wurde gemäß Intention-to-treat-Prinzip (ITT) durchgeführt. Sekundäre Endpunkte wurden analog zum primären Endpunkt ausgewertet. Eine detaillierte Beschreibung der statistischen Methoden kann dem eMethodenteil entnommen werden.
Ergebnisse
Ein- und Ausschluss der Teilnehmer
Die Grafik zeigt den Ein- und Ausschluss der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer. Es wurden Daten von 24 Praxen (13 Interventions- und 11 Kontrollgruppen) und 297 Patienten (164 in der Interventions- und 133 in der Kontrollgruppe) ausgewertet.
Rekrutierung
Die Hausarztpraxen wurden zwischen März und Mai 2019 rekrutiert. Die Baseline-Erhebung erfolgte innerhalb von vier Wochen vor den Workshops für Praxisteams (am 29. 06. 2019 and 03. 07. 2019), die den Beginn der Interventionsphase markierten. Da die angestrebte Patientenfallzahl bis dahin noch nicht erreicht war, wurde der Patienteneinschluss bis September 2019 fortgesetzt. Daher konnte die verdeckte Randomisierung für Patienten, die nach dem Workshop eingeschlossen wurden (n = 73, 24,6 %), nicht aufrechterhalten werden. Sechs Monate nach der HoPES3-Intervention, zwischen Dezember 2019 und Juni 2020, füllten die Patienten die Fragebögen für die Follow-up-Erhebung aus.
Baseline-Daten
Tabelle 2 beschreibt die soziodemografischen Eigenschaften der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Baseline-Charakteristika in beiden Gruppen waren weitgehend vergleichbar.
Primäre und sekundäre Endpunkte
Intention-to-treat-Analyse
Wie Tabelle 1 zeigt, wurde in der Intention-to-treat-Analyse, die alle 297 Patienten aus 24 Praxen berücksichtigte, kein Effekt auf den primären Endpunkt (gesundheitsbezogene Selbstwirksamkeit, gemessen mit der SES6G-Skala) nachgewiesen. Der Intraklassen-Korrelationskoeffizient für den primären Endpunkt lag bei 0,0479. Das spricht dafür, dass die Patienten aus einer Praxis einen kleinen, aber nicht unwesentlichen Grad an Ähnlichkeit hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Selbstwirksamkeit untereinander aufwiesen.
Unter den elf sekundären Endpunkten konnte ein marginaler Effekt der HoPES3-Intervention auf das psychische Wohlbefinden beobachtet werden, das mit einer Subskala des SF12-Fragebogens (17) gemessen wurde. Der Unterschied von 3,34 Punkten auf einer Skala von 0–100 entspricht einem schwachen Effekt (d = 0,35; p =0,006). Die Daten für die übrigen sekundären Endpunkte können der eTabelle 1 entnommen werden.
Per-protocol und Subgruppenanalysen
eTabelle 2 zeigt die Ergebnisse der Subgruppenanalysen im Detail. Interessante Beobachtungen wurden insbesondere in Bezug auf das psychische Wohlbefinden gemacht:
Patienten, die angaben, bereits vor der Studie Hausmittel angewendet zu haben (n = 71), wiesen mit einer Differenz von 7,34 Punkten eine deutliche Verbesserung auf. Das entspricht beinahe einem starken Effekt (d = 0,77, p < 0,001). Das gleiche traf auf Patienten zu, die berichteten, dass Spiritualität eine große Bedeutung in ihrem Leben habe (n = 69). Hier verbesserte sich der SF12-Skalenwert um 6,2 Punkte, was auf einen moderaten Effekt hinweist (d = 0,65, p = 0,002).
Patienten mit einem großen sozialen Netzwerk (n = 157) zeigten eine deutlichere Verbesserung bezüglich des psychischen Wohlbefindens (Punktedifferenz von 4,83 entsprechend einem moderaten Effekt mit d = 0,50 und p = 0,003) als Patienten mit einem kleinen sozialen Netzwerk (Differenz von −0,58 Punkten als Hinweis auf keinen Effekt). In ähnlicher Weise stellte sich bei Patienten, die sich nicht einsam fühlten, (n = 174) eine stärkere Verbesserung ein (3,78 Punkte Unterschied entsprechend einem schwachen Effekt mit d = 0,39 und p = 0,003) als bei einsamen Patienten (− 1,11 Punkte Differenz als Hinweis auf keinen Effekt).
Des Weiteren wurden schwache Effekte bei Patienten ohne Psychopharmakaeinnahme gefunden (Punktdifferenz von 3,78, d = 0,39, p = 0,003), während bei Patienten mit Psychopharmakaverordnungen (n = 22) kein Effekt nachgewiesen werden konnte.
Eine weitere interessante Beobachtung wurde beim Vergleich der vordefinierten Patientenpopulationen (eMethodenteil) gemacht: Die Effekte auf das psychische Wohlbefinden waren unter Berücksichtigung aller Patienten tendenziell stärker, wenn sowohl eine spirituelle Anamnese als auch eine Beratung zu Hausmitteln und/oder sozialen Aktivitäten wahrgenommen worden war (EST 3,36 versus 4,17). Dies war bei der Subgruppe der Hausmittelnutzer (EST 7,15 versus 7,73) ebenso der Fall.
Schädliche Auswirkungen
Die Patienten wurden gebeten, innerhalb von zwei Wochen nach der HoPES3-Intervention einen Fragebogen auszufüllen. Nur 2,5 % (n = 3) der Patienten gaben an, dass das Gespräch (sehr) belastend für sie gewesen sei.
Diskussion
Die vorliegende Studie untersuchte die Effektivität einer komplexen Intervention zur Stärkung der Selbstwirksamkeit und damit zur Verbesserung der Lebensqualität älterer, multimorbider Patienten. Während kein relevanter Effekt auf den primären Endpunkt nachgewiesen wurde, führten die Analysen der sekundären Endpunkte sowie die Subgruppenanalysen zu einigen interessanten Beobachtungen hinsichtlich des psychischen Wohlbefindens:
Starke Effekte auf das psychische Wohlbefinden konnten bei Patienten festgestellt werden, die schon vor Studienteilnahme Hausmittel angewendet hatten. Dies stimmt mit den Ergebnissen von Puig Llobet et al. überein, die einen positiven Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zur Selbstfürsorge und psychischer Gesundheit feststellten (18). Eine Erklärung wäre, dass sich die Patienten – unabhängig von möglichen spezifischen therapeutischen Wirkungen der Hausmittel – darin bestärkt fühlten, ihren eigenen Coping-Strategien zu vertrauen. Möglicherweise empfanden die Patienten die proaktive Empfehlung von Hausmitteln und das tiefgreifende Interesse des Praxisteams an ihren persönlichen Kraftquellen als Ausdruck von Respekt und Zuspruch gegenüber ihren schon vorhandenen Selbstfürsorgefähigkeiten.
Die komplexe Intervention führte bei Patienten, die angaben, dass spirituelle oder religiöse Überzeugungen große Bedeutung in ihrem Leben habe, zu einer merklichen Verbesserung auf der Skala zum psychischen Wohlbefinden. Eine positive Korrelation zwischen spirituellem/religiösem Coping und psychischem Wohlbefinden wurde bereits in früheren Studien beschrieben (4). Die begleitende Prozessevaluation der HoPES3-Studie (19, 20) zeigte, dass sich spirituelle Patienten stärker auf die spirituelle Anamnese einließen, während weniger spirituelle Patienten zurückhaltender waren – in erster Linie weil sie Spiritualität in negativer Art und Weise mit Kirche oder Religion assoziierten. Dies könnte die fehlenden Effekte in dieser Patientengruppe erklären.
Keine Verbesserung konnte in der Subgruppe der Patienten mit Psychopharmaka-Einnahme festgestellt werden. Mögliche Erklärungen könnten sein, dass diese Patienten ernsthaft erkrankt waren und daher eine intensivere Intervention benötigt hätten oder dass sie weniger offen für nichtpharmakologische Alternativen waren.
Ebenso konnte bei einsamen sowie bei Patienten mit kleinem sozialem Netzwerk keine Wirkung auf das psychische Wohlbefinden festgestellt werden. Diese Beobachtung könnte auf den geringen Anteil von weniger als 10 % einsamer, isolierter Patienten in der Studienpopulation zurückzuführen sein, sodass die statistische Power nicht ausreichte, um schwächere Effekte zu detektieren. Dies legt nahe, dass eher aktive, gut integrierte Patienten an der Studie teilnahmen, was auch die Prozessevaluation bestätigt (20). Darüber hinaus schränkte die COVID-19-Pandemie soziale Aktivitäten ein. Eine andere Erklärung ist, dass die Strategien, die zur Steigerung von Sozialkontakten eingesetzt wurden, nicht ausreichten, um einsame, isolierte Patienten zu aktivieren. Wahrscheinlich wäre hierzu ein intensiveres Case-Management-Programm erforderlich, das auch Hausbesuche und edukative, auf Verhaltensänderung ausgerichtete Maßnahmen umfasst (21). Zudem deuten andere Studien darauf hin, dass spirituelles/religiöses Coping nur dann positiv mit dem psychischen Wohlbefinden korreliert, wenn soziale Unterstützung und Selbstwirksamkeit vorhanden sind (4).
Interessanterweise waren die Effekte tendenziell stärker, wenn die Patienten sowohl eine spirituelle Anamnese durch ihren Hausarzt als auch Informationen zu Hausmitteln und/oder sozialen Aktivitäten erhalten hatten, die überwiegend von den MFA vermittelt wurden. Dieses Ergebnis bestärkt unsere Erfahrungen aus früheren Studien hinsichtlich der Einbindung von MFA bei der Versorgung chronisch kranker Patienten. Patienten wenden sich häufig mit Fragen an die MFA, die sie sich während des Arztgesprächs nicht zu stellen trauen (22). Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Patienten sollten dieses Potenzial ausschöpfen.
Limitationen
Die Hauptlimitation der vorliegenden Studie ist in der eingeschränkten Repräsentativität der Stichproben zu sehen. Es ist wahrscheinlich, dass überwiegend Hausärzte an der Studie teilnahmen, die ein besonderes Interesse an Komplementär- und ganzheitlicher Medizin haben. Zudem ist ein Selektionsbias zugunsten von aktiveren, engagierteren Patienten wahrscheinlich. Überdies erlaubt es der explorative Charakter der Studie nicht, konfirmatorische Schlussfolgerungen hinsichtlich der Effektivität der komplexen Intervention zu ziehen.
Fazit
Die primäre Hypothese der Studie hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Selbstwirksamkeit der Patienten konnte nicht bestätigt werden. Dennoch legen einige interessante Beobachtungen den Schluss nahe, dass ein proaktives Gespräch über die Spiritualität von Patienten verbunden mit proaktiver Information über Hausmittel und regionale soziale Aktivitäten die DMP für gewisse Patientengruppen sinnvoll ergänzen können. MFA können eine wichtige Rolle bei der Durchführung dieser Interventionen einnehmen.
Es scheint, dass Patienten mit stärkeren spirituellen Überzeugungen und einer Präferenz für nichtpharmakologische Therapieoptionen wie Hausmittel von niederschwelligen Interventionen profitieren können. Im Gegensatz dazu benötigen Patienten, die weniger aktiv, weniger integriert und sich ihrer persönlichen und spirituellen Ressourcen weniger bewusst sind, womöglich eine intensivere oder andersartige Intervention.
Die stärksten Effekte in den genannten Subgruppen wurden auf das psychische Wohlbefinden beobachtet. Dieses Ergebnis könnte für das neue DMP „Depression“ von Interesse sein, das nach Beginn dieser Studie entwickelt wurde. Wenngleich noch keine Empfehlungen für die tägliche Praxis abgeleitet werden können, liefern die Ergebnisse wertvolle Informationen für künftige, konfirmatorische Studien.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 27. 7. 2021, revidierte Fassung angenommen: 2. 12. 2021
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Cornelia Straßner
Universitatsklinikum Heidelberg
Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung
Im Neuenheimer Feld 130.3, 69120 Heidelberg
cornelia.strassner@med.uni-heidelberg.de
Zitierweise
Sturm N, Krisam J, Szecsenyi J, Bentner M, Frick E, Mächler R,
Schalhorn F, Stolz R, Valentini J, Joos S, Straßner C: Spirituality, self-care, and social activity in the primary medical care of elderly patients—results of a cluster-randomized interventional trial (HoPES3). Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 124–31.
DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0078
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eMethodenteil, eTabellen, eSupplements:
www.aerzteblatt.de/m2022.0078 oder über QR-Code
Experiences of health care professionals with a spiritual needs assessment in general practice—a mixed-method study within the HoPES3 project. Family Practice 2022; submitted.
Universitätsklinikum Heidelberg, Institut für Medizinische Biometrie: Dr. sc. hum. Johannes Krisam
Professur für
Spiritual Care und psychosomatische Gesundheit, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München: Prof. Dr. med. Eckhhard Frick, Dr. rer. pol. Ruth Mächler
Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung, Eberhard Karls Universität Tübingen: Dr. med. Friederike Schalhorn,
Regina Stolz M.A., Dr. med. Jan Valentini, Prof. Dr. med. Stefanie Joos
Datenfreigabe
Aufgrund datenschutzrechtlicher Beschränkungen ist es uns nicht möglich den gesamten Datensatz öffentlich zugänglich zu machen. Ausgewählte Daten können einzelnen Forschenden bei begründeter Anfrage zur Verfügung gestellt werden. Das Studienprotokoll wurde bereits veröffentlicht und der statistische Analyseplan kann bei den Autorinnen und Autoren angefragt werden.
Förderung
Die Studie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.
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Witzel, Kai; Hack, Tobias; Schiel, Sebastian
Straßner, Cornelia