ArchivDeutsches Ärzteblatt8/2022Richtlinienpsychotherapien bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Häufigkeit, Therapieverfahren und Therapiedauer
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Die Prävalenz psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter (2–18 Jahre) wird in einer Metaanalyse von 34 Studien für Deutschland mit knapp 18 % angegeben (1). Bei fast allen psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen stellt eine Richtlinienpsychotherapie (das heißt Psychotherapie entsprechend der „Richtlinie über die Durchführung der Psychotherapie“ des Gemeinsamen Bundesausschusses) einen wesentlichen Baustein einer leitliniengerechten Behandlung dar (2). Daten zur Inanspruchnahme und Dauer von Richtlinienpsychotherapien (RP) bei Kindern und Jugendlichen fehlen jedoch bislang weitgehend beziehungsweise sind nur sehr grob gerastert verfügbar (3).

Methode

Die Arbeit basiert auf bundesweiten vertragsärztlichen Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland nach § 295 SGB V. Die Daten wurden vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) zur Verfügung gestellt. Hinsichtlich der RP-Inanspruchnahme wurden gesetzlich Versicherte im Alter von 0–19 Jahren mit mindestens einem Abrechnungsfall im Jahr 2019 betrachtet (N = 13,37 Mio. Patientinnen und Patienten). Eine ausführliche Darstellung der Methodik ist Jaite et al. (4) zu entnehmen, die die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen im weitesten Sinne untersuchten.

Zur Ermittlung der Anzahl der Therapiestunden wurden RP betrachtet, die im Jahr 2019 endeten, frühestens im Jahr 2010 begonnen hatten, bei denen der Patient zu Therapiebeginn jünger als 20 Jahre war und die im Einzelsetting ohne Verfahrenswechsel stattfanden. Insgesamt wurden Therapieverläufe von 68 351 Patienten untersucht (männlich: 42,9 %, weiblich: 56,0 %, andere/unbekannt: 1,1 %).

Ergebnisse

Inanspruchnahme

Im Jahr 2019 erhielten 1,4 % aller gesetzlich versicherten Kinder/Jugendlichen eine RP. Hierbei fanden sich insgesamt nur geringe regionale Unterschiede (neue versus alte Bundesländer: 1,5 % versus 1,4 %, städtische versus ländliche Wohnregionen: 1,5 % versus 1,3 %). Allerdings gab es zwischen einzelnen Landkreisen starke Häufigkeitsunterschiede (Stadt Suhl: 2,8 %, Kreis Deggendorf: 0,6 %). Bei Mädchen/weiblichen Jugendlichen war die RP-Inanspruchnahme etwas höher als bei männlichen Versicherten (1,6 % versus 1,2 %). 15- bis 19-Jährige erhielten am häufigsten RP (2,5 %), 0- bis 4-Jährige am seltensten (0 %). Kinder/Jugendliche mit Zwangsstörungen wurden am häufigsten mit RP behandelt (24,1 % aller Versicherter mit dieser Diagnose), gefolgt von Kindern/Jugendlichen mit depressiven Störungen (18,2 %) und Anpassungsstörungen (14,2 %) (Grafik 1).

Häufigkeit von Richtlinienpsychotherapie in den jeweiligen Diagnosegruppen ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Grafik 1
Häufigkeit von Richtlinienpsychotherapie in den jeweiligen Diagnosegruppen ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Therapieverfahren und Leistungserbringer

Bei Kindern/Jugendlichen, die RP erhielten, wurde am häufigsten Verhaltenstherapie eingesetzt (56,7 %), gefolgt von tiefenpsychologischer Psychotherapie (35,2 %) und Psychoanalyse (9,5 %) (Grafik 1). Die meisten Kinder/Jugendlichen wurden von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten behandelt (insgesamt: 87,0 %; Verhaltenstherapie: 86,7 %, Tiefenpsychologie: 85,1 %, Psychoanalyse: 96,8 %).

Therapiedauer

In Abhängigkeit vom jeweiligen Psychotherapieverfahren zeigten sich deutliche Unterschiede hinsichtlich der Anzahl der Therapiestunden: Die mit Abstand meisten Therapiestunden fielen im Rahmen psychoanalytischer Psychotherapien an (Mittelwert [MW]: 54,4 Stunden; Standardabweichung [SD]: 56,1), gefolgt von tiefenpsychologischer Psychotherapie (MW: 37,1; SD: 38,5) und Verhaltenstherapie (MW: 27,1; SD: 22,7). Über alle RP-Verfahren hinweg war die Stundenzahl in Berlin am höchsten (MW: 40,1; SD: 39,0) und in Mecklenburg-Vorpommern am niedrigsten (MW: 25,8; SD: 24,2) (Grafik 2). Es konnten insgesamt nur marginale Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Anzahl der Therapiestunden festgestellt werden. Unabhängig vom Therapieverfahren erhielten 5- bis 9-jährige Kinder die meisten Therapiestunden (MW: 36,6; SD: 36,2). Nach Diagnosen betrachtet erhielten Kinder/Jugendliche mit dissoziativen Störungen (MW: 43,4; SD: 40,8), Ausscheidungsstörungen (MW: 41,4; SD: 41,0) und Persönlichkeitsstörungen (MW: 39,7; SD: 38,2) die meisten Therapiestunden.

Therapiedauer (Stundenzahl, Median) nach Landkreisen
Grafik 2
Therapiedauer (Stundenzahl, Median) nach Landkreisen

Diskussion

Die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit sind:

  • Die RP-Inanspruchnahme liegt erheblich unter der Prävalenz psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter, was für eine Unterversorgung mit RP spricht. Lange RP-Wartezeiten (durchschnittlich 17,8 Wochen im Jahr 2018 [5]) stützen diese Auffassung. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass im Versorgungsalltag neben RP viele andere psychotherapeutische Leistungen zum Einsatz kommen (4), von denen jedoch nur für wenige Wirksamkeitsnachweise existieren.
  • Insgesamt gibt es in Deutschland nur geringe regionale Unterschiede hinsichtlich der RP-Inanspruchnahme. Dies kann als Indikator eines grundsätzlich ausgeglichenen Versorgungsangebots gewertet werden.
  • Häufigste Leistungserbringer waren Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, was auch auf die Schaffung neuer Vertragsarztsitze für diese Berufsgruppe zurückzuführen ist.
  • Verhaltenstherapie war das am häufigsten angewandte Therapieverfahren. Dies entspricht der gegenwärtigen Evidenzlage, die für Verhaltenstherapie am stärksten und für Psychoanalyse/psychodynamische Therapien vergleichsweise schwach ist (2). In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass psychoanalytische Behandlungen eine höhere Stundenzahl als Verhaltenstherapien aufwiesen, was angesichts der schwächeren Evidenzlage kritisch zu sehen ist.
  • Der Anteil von RP war bei Kindern/Jugendlichen mit Zwangsstörungen am höchsten, was unter anderem durch das hohe Chronifizierungsrisiko dieses Störungsbilds erklärt werden könnte.
  • Im Gegensatz zur Inanspruchnahme zeigte die durchschnittliche Therapiestundenzahl eine deutlich stärkere regionale Spreizung. Zur Analyse des Einflusses von Angebotsstrukturen sind weiterführende Analysen nötig, die in der vorliegenden Studie nicht realisiert werden konnten.

Limitationen

Die vorliegende Untersuchung basiert auf Sekundärdaten, für die verschiedene Limitationen gelten. So kann die Validität der kodierten Diagnosen nicht überprüft werden, ebenso ist eine Differenzierung nach Haupt- beziehungsweise Nebendiagnosen nicht möglich; zudem fehlen Angaben zu möglicher Pharmakotherapie. Schlussfolgerungen zur Angemessenheit der psychotherapeutischen Versorgung insbesondere bei Anpassungsstörungen sind mit Unschärfen behaftet, auch weil die Diagnose der Anpassungsstörung sehr heterogen ist und für eine derartige Sammelkategorie die psychotherapeutische Versorgung nur schwer zu evaluieren ist.

Charlotte Jaite*, Anja Seidel*, Falk Hoffmann, Fritz Mattejat, Christian J. Bachmann

*Die Autorinnen teilen sich die Erstautorinnenschaft.

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm; Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Medizinische Universität Wien; christian.bachmann@uniklinik-ulm.de

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Charité – Universitätsmedizin Berlin (Jaite)

Fachbereich „Data Science und Versorgungsanalysen“, Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland, Berlin (Seidel)

Abteilung Ambulante Versorgung und Pharmakoepidemiologie, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften,
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Hoffmann)

Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin (IVV), Philipps-Universität Marburg (Mattejat)

Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 22. 11. 2021, revidierte Fassung angenommen: 11. 1. 2022

Zitierweise
Jaite C, Seidel A, Hoffmann F, Mattejat F, Bachmann CJ: Guideline-based psychotherapy of children and adolescents in Germany—frequency, treatment modalities, and duration of treatment.
Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 132–3.
DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0106

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Barkmann C, Schulte-Markwort M: Prevalence of emotional and behavioural disorders in German children and adolescents: a meta-analysis. J Epidemiol Community Health 2012; 66: 194–203 CrossRefMEDLINE
2.
Midgley N, Mortimer R, Cirasola A, Batra P, Kennedy E: The evidence-base for psychodynamic psychotherapy with children and adolescents: a narrative synthesis. Front Psychol 2021; 12: 662671. DOI: 10.3389/fpsyg.2021.662671 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Steffen A, Akmatov MK, Holstiege J, Bätzing J: Diagnoseprävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: eine Analyse bundesweiter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten der Jahre 2009 bis 2017. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi). Versorgungsatlas-Bericht Nr. 18/07. Berlin 2018.
4.
Jaite C, Hoffmann F, Seidel A, Mattejat F, Bachmann C: Ambulante psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Status quo und Trends im Zeitraum 2009–2018. Psychiatr Prax 2021 (online ahead of print) CrossRef
5.
Bundespsychotherapeutenkammer: Ein Jahr nach der Reform der Psychotherapie-Richtlinie. Wartezeiten 2018. www.bptk.de/wp-content/uploads/2019/01/20180411_bptk_studie_wartezeiten_2018.pdf (last accessed on
17 December 2021).
Häufigkeit von Richtlinienpsychotherapie in den jeweiligen Diagnosegruppen ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Grafik 1
Häufigkeit von Richtlinienpsychotherapie in den jeweiligen Diagnosegruppen ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Therapiedauer (Stundenzahl, Median) nach Landkreisen
Grafik 2
Therapiedauer (Stundenzahl, Median) nach Landkreisen
1.Barkmann C, Schulte-Markwort M: Prevalence of emotional and behavioural disorders in German children and adolescents: a meta-analysis. J Epidemiol Community Health 2012; 66: 194–203 CrossRefMEDLINE
2.Midgley N, Mortimer R, Cirasola A, Batra P, Kennedy E: The evidence-base for psychodynamic psychotherapy with children and adolescents: a narrative synthesis. Front Psychol 2021; 12: 662671. DOI: 10.3389/fpsyg.2021.662671 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.Steffen A, Akmatov MK, Holstiege J, Bätzing J: Diagnoseprävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: eine Analyse bundesweiter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten der Jahre 2009 bis 2017. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi). Versorgungsatlas-Bericht Nr. 18/07. Berlin 2018.
4.Jaite C, Hoffmann F, Seidel A, Mattejat F, Bachmann C: Ambulante psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Status quo und Trends im Zeitraum 2009–2018. Psychiatr Prax 2021 (online ahead of print) CrossRef
5.Bundespsychotherapeutenkammer: Ein Jahr nach der Reform der Psychotherapie-Richtlinie. Wartezeiten 2018. www.bptk.de/wp-content/uploads/2019/01/20180411_bptk_studie_wartezeiten_2018.pdf (last accessed on
17 December 2021).

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