BÜCHER
Individualpsychologie: Die Festung der Psychoanalyse auflösen


Manchmal führt eine Erkrankung dazu, dass wir in schmerzlichen Prozessen versuchen, die Anfänge der Leidenszustände in der Kindheit, in prä-, peri- und postnatalen Erlebnissen oder transgenerationalen Zusammenhängen aufzuspüren. Die analytische und tiefenpsychologische Methode bietet für dieses Unternehmen Hilfestellungen an. Aber befindet sich diese Theorie und Praxis nicht in einer Krise, hat die psychoanalytische Bewegung in ihrer „Kindheit“ nicht selbst Schaden genommen durch eine Fixierung an „Vater Freud“, durch Ausgrenzungen von „Störenfrieden“ und deren innovativen Ideen?
Mit der vorliegenden Ausgabe wartet die Zeitschrift für Individualpsychologie mit einer Überraschung auf. Es geht um nichts Geringeres als um „Möglichkeiten einer Erneuerung der Psychoanalyse“, die Ludwig Janus gewohnt kenntnisreich darlegt. Die Krise der Psychoanalyse begründet er mit einer Verengung, die zum Beispiel mit der Ausgrenzung von Otto Rank einherging. Mit der Person wurden auch seine Konzepte der Erlebnisbedeutung vorgeburtlicher und geburtlicher Erfahrungen sowie seine Kulturpsychologie über Bord geworfen. Beide Ansätze haben sich dann außerhalb der Psychoanalyse etabliert. Auch bei der Behandlungsmethode kam es innerhalb der Bewegung zu Verkrustungen, was zu kreativen Vorgehensweisen – wieder im externen Raum – führte (Regressionstherapien, Psychodrama, Gestalttherapie, Pesso-Therapie). So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch Janus nicht mehr in der tradierten Psychoanalyse zu Hause fühlt und ein Experte der Pränatalen Psychologie und Medizin sowie der Psychohistorie wurde. Sein Anliegen ist, eine Reflexion anzustoßen, um die unzeitgemäße Gebundenheit der Psychoanalyse an den paternalistischen Begründer infrage zu stellen, die Pränatale Psychologie und damit Otto Rank zu reintegrieren, den Fokus vermehrt auf die biopsychologisch geschichtlichen Prozesse zu legen und die weiterentwickelten therapeutischen Methoden einzuarbeiten. Janus geht von einer bifokalen Struktur des Ichs aus, in der das Ich als Nachfolger des pränatalen Selbst zur Mutterleibswelt hinstrebt und andererseits seinen Primatenbedürfnissen in der realen Welt gerecht werden muss. Aus diesem Urkonflikt resultiert die besondere Seinsart, aber auch soziale, psychische und körperliche Erkrankungen des Menschen. Aufgabe der Psychotherapie ist es, diese Zusammenhänge fühlbar zu machen. Den Ideen von Janus folgen Erwiderungen von Wolfgang Mertens, Bernd Rieken, H.-J. Lang und Johannes Döser. Alle würdigen die Verdienste von Janus mit unterschiedlichen Argumenten und Temperamenten, sind sich aber einig, dass die Psychoanalyse keine Erneuerungen braucht. Es tut sich das Bild einer Festung mit Zugbrücke auf, in der ein Ritter mit Geschenken zu sehen ist, der um Einlass bittet. Die vier Burgherren weisen ihn zurück und verschmähen seine Geschenke. Vielleicht wird dem Ritter hier deutlich, dass er eine harmonische Mutterleibswelt imaginiert hat, sich nun aber wieder auf seine Primatenfähigkeiten besinnen muss.
Zum Abschluss des Heftes kommt William Emerson in einem Interview zu Wort. Er erzählt empathisch von den ungeborenen Kindern, die er als „hellsichtig“ bezeichnet. Die Texte der Zeitschrift enthalten große Leseerlebnisse, die bei engagierter Lektüre auf verschiedenen Ebenen gut informieren, nachdenklich stimmen und letztlich erfrischen. Es findet eine Horizonterweiterung statt. Günter Weier
Zeitschrift für Individualpsychologie, Heft 3 2021, Jg. 46, Themenschwerpunkt: Möglichkeiten einer Erneuerung der Psychoanalyse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, 125 Seiten, kartoniert, 22,00 Euro