ArchivDeutsches Ärzteblatt13/2022Diagnosehilfe für akutes Nierenversagen: Laborbasierter Alarm erhöht die Patientensicherheit

MEDIZINREPORT

Diagnosehilfe für akutes Nierenversagen: Laborbasierter Alarm erhöht die Patientensicherheit

Kister, Thea; Schmidt, Maria; Voigt, Jenny; Richter, Heike; Haase, Michael; Kaiser, Thorsten

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Das akute Nierenversagen ist ein Beispiel dafür, wie wichtig bei der stationären Behandlung das rechtzeitige Erkennen einer Erkrankung ist, die ansonsten das Outcome etwa von Operationen erheblich verschlechtert. Unterstützende Algorithmen bieten sich hierfür als Hilfe an.

Wo Zeit rar ist: Ärztinnen und Ärzte können beim Auswerten der Laborwerte effizient unterstützt werden. Foto: picture alliance/Westend61 Daniel González
Wo Zeit rar ist: Ärztinnen und Ärzte können beim Auswerten der Laborwerte effizient unterstützt werden. Foto: picture alliance/Westend61 Daniel González

Das akute Nierenversagen (AKI, „acute kidney injury“) ist ein häufiges Krankheitsbild im klinischen Alltag, wie zahlreiche Studien belegen. Inzidenzen von 12,1 % bis zu 23,2 % über alle stationären Fachdisziplinen dokumentieren eine hohe interdisziplinäre Relevanz (1, 2, 3, 4, 5). Assoziiert mit einem signifikant erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko bedarf das AKI einer kurzfristigen, adäquaten Therapie (6, 7, 8).

Die Progression einer eingeschränkten Nierenfunktion geht mit einem signifikant schlechteren Outcome und hohen zusätzlichen Behandlungskosten einher (4, 9, 10). Daher sollte im Sinne einer verbesserten Patientensicherheit ein AKI zum Beispiel während eines stationären Aufenthaltes nicht übersehen werden.

Hierfür eignen sich innovative „Clinical Decision Support Systems“ (CDSS). Es handelt sich um automatisierte Meldesysteme, welche die Entscheidungsfindungen von Klinikerinnen und Klinikern unterstützen (11). Bislang scheinen diese Systeme nur geringe Effekte auf das Outcome von AKI-Patienten zu haben (12, 13). So kommt ein Review zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit des Fortschreitens der Erkrankung zwar tendenziell, aber nicht signifikant beeinflusst werden konnte (13). Mangel an Akzeptanz und Vertrauen, unpräzise Anleitung oder ein verspäteter Therapiebeginn werden als Gründe genannt. Dass hingegen ein zeitgerechtes Management deutlich positive Effekte auf das klinische Outcome haben kann, lässt eine jüngere Interventionsstudie aus Deutschland erkennen (14).

Das mögliche Potenzial von CDSS ist groß. Sie können sich beispielsweise positiv auf die Leitlinienadhärenz auswirken und so die Patientensicherheit erhöhen (15).

Das Forschungsprojekt „Analyse- und Meldesystem zur Verbesserung der Patientensicherheit durch Echtzeitintegration von Laborbefunden“ (AMPEL; www.ampel.care) der Universitätsmedizin Leipzig (UML) entwickelt und nutzt seit 3 Jahren ein CDSS, das diese Aufgabe durch die automatisierte Analyse labormedizinischer Befundkonstellationen erfüllt (16).

Zeitachse für Laborwerte nutzen

Sein Nutzen für die Patientensicherheit wird prospektiv randomisiert evaluiert (17, 18). Für verschiedenste biomarkerassoziierte Krankheitsbilder – zum Beispiel Sepsis, Elektrolytstörungen oder akutes Nierenversagen – wurden bereits Regelwerke und Meldesysteme entwickelt, die an der UML und den Muldentalkliniken (Standorte Grimma und Wurzen) genutzt werden. Ein solcher Algorithmus berücksichtigt zum Beispiel nicht nur den akut angeforderten Laborbefund. Er integriert automatisch zusätzlich jene Nierenwerte, die etwa vor einem chirurgischen Eingriff und später vielleicht mehrfach auf Station erhoben worden sind.

Er unterstützt so einen Stationsarzt bei der exakten Interpretation eines zeitlichen Monitorings von Laborwerten – abgestimmt mit den Kriterien der Leitlinie des internationalen Verbandes „Kidney Disease – Improving Global Outcomes“ (KDIGO). Das ist im Stationsalltag angesichts der Vielzahl von Informationen kaum noch zeitgerecht zu leisten.

Obwohl allgemein das Potenzial der CDSS gesehen wird, gibt es ein Publikationsdefizit. Aktuell lassen sich keine Veröffentlichungen identifizieren, die aus der Laboratoriumsmedizin heraus entwickelt, prospektiv wissenschaftlich evaluiert und angewendet werden (18). Seit 2021 ist der AMPEL-AKI-Algorithmus für aktuell n = 38 631 Fälle am Maximalversorger UML im Einsatz und liefert vielversprechende Ergebnisse. So konnte dadurch die Zahl der AKIN3-Diagnosen wegen rechtzeitiger AKI-Alarmierung verringert werden.

Support aus dem Kliniklabor

Auch die Progression von AKI selbst ist signifikant vermindert (p = 0,038) (Grafik). Diese Ergebnisse belegen, dass ein leicht implementierbares, laborbasiertes CDSS einen Benefit zur besseren Versorgung von AKI hat. In Leipzig hat die Arbeitsgruppe ähnliche Erfolge zum Beispiel mit der Warnung bei Hypokaliämien erzielt. Hier erfolgt etwa automatisch eine Nachfrage auf Station, falls auf kritische Werte nicht reagiert wurde.

Häufigkeit und Progression von AKI
Grafik
Häufigkeit und Progression von AKI

Die CDSS in der Labormedizin in Leipzig haben auch die Glukosewerte und das HbA1c auf dem Radar. Hierüber erhalten die Stationen nur dann ein Feedback, wenn der Patient noch nicht eine einschlägige Diagnose erhielt. Ist die metabolische Störung indes bereits festgestellt, erfolgt kein Alarm. Denn das System soll als Sicherheitsnetz dienen, jedoch nicht die Aufmerksamkeit abstumpfen. Dort, wo Limitierungen erkennbar werden, hat dies seinen Grund, wie Rückmeldungen aus den Kliniken erkennen lassen. Vermutlich erschweren knappe personelle Ressourcen trotz der spezifischen AKI-Alarmierungen mitunter eine kurzfristige adäquate medizinische Konsequenz.

Aktuell ist an der Universitätsmedizin Leipzig daher eigens ein Einsatz spezialisierter Kollegen geplant, die die Patienten unmittelbar visitieren und mit behandeln. Refinanziert werden kann dieser zusätzliche Personalaufwand durch eine erhöhte Fallpausche im Rahmen einer adäquaten DRG-Kodierung im stationären Umfeld. In Leipzig zeigte sich auch, dass man Informatiker benötigt, die die Datenanalyse und technische Implementierung professionell unterstützen. Immer öfter zeigen Ärzte aus anderen Kliniken Interesse an der Implementierung der Unterstützungssysteme. Angesichts der wachsenden Vielfalt von Laborparametern wird der Bedarf an solchen Hilfen erkennbar steigen.

Zusammenfassend zeigt das Beispiel AKI als häufiges und bedrohliches Krankheitsbild, dass zeitnahe Diagnostik und adäquate Versorgung eine Herausforderung in der klinischen Routine darstellt. Die AMPEL-Ergebnisse lassen erkennen, dass ein CDSS die Versorgung der Patienten nachhaltig verbessern könnte. Laut aktueller Studienlage ist die Wirkung der Unterstützungssysteme, bemessen an relevanten klinischen Endpunkten, jedoch weiterhin begrenzt. Die Ursachen dafür müssen wissenschaftlich analysiert werden, um die Effekte zu optimieren. Die Alarmierung und Bereitstellung spezifischer Therapieempfehlungen stellen hierbei nur den ersten Schritt dar. Ausreichende personelle Ressourcen sind eine wesentliche Voraussetzung, um daraus ableitbare Konsequenzen auch umzusetzen.

Thea Kister, Dipl.-Biol. Maria Schmidt,
Dr. rer. nat. Jenny Voigt
Institut für Laboratoriumsmedizin,
Klinische Chemie und Molekulare Diagnostik, Universitätsmedizin Leipzig

Dr. rer. pol. Heike Richter
Krankenhäuser Grimma und Wurzen,
Muldentalkliniken Gemeinnützige Gesellschaft

Prof. Dr. med. Michael Haase
Zentrum für Innere Medizin,
Universität Magdeburg

PD Dr. med. Thorsten Kaiser
Institut für Laboratoriumsmedizin,
Klinische Chemie und Molekulare Diagnostik, Universitätsmedizin Leipzig

Interessenkonflikte: PD Dr. Kaiser, Dr. Richter, Dr. Voigt und Frau Schmidt geben an, Fördergelder im Rahmen des aus Steuergeldern mitfinanzierten AMPEL-Projektes erhalten zu haben. Prof. Haase erklärt, Honorare der Firma Abbott Diagnostics erhalten zu haben. Frau Kister erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Der Artikel unterliegt keinem Peer-Review.

Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit1322 oder über QR-Code.

1.
Wang HE, Muntner P, Chertow GM, et al.: Acute Kidney Injury and Mortality in Hospitalized Patients. Am J Nephrol 2012; 35: 349–55 CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.
Susantitaphong P, Cruz DN, Cerda J, et al.: World Incidence of AKI: A Meta-Analysis. CJASN 2013; 8: 1482–93 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Al-Jaghbeer M, Dealmeida D, Bilderback A, et al.: Clinical Decision Support for In-Hospital AKI. JASN 2018; 29: 654–60 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
Kister TS, Remmler J, Schmidt M, et al.: Acute kidney injury and its progression in hospitalized patients—Results from a retrospective multicentre cohort study with a digital decision support system. PLoS ONE 2021; 16: e0254608 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.
Zeng X, McMahon GM, Brunelli SM, et al.: Incidence, Outcomes, and Comparisons across Definitions of AKI in Hospitalized Individuals. CJASN 2014; 9: 12–20 CrossRef MEDLINE PubMed Central
6.
Khadzhynov D, Schmidt D, Hardt J, et al.: The Incidence of Acute Kidney Injury and Associated Hospital Mortality. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 397–404 VOLLTEXT
7.
Bihorac A, Yavas S, Subbiah S, et al.: Long-Term Risk of Mortality and Acute Kidney Injury During Hospitalization After Major Surgery. Annals of Surgery 2009; 249: 851–8 CrossRef MEDLINE
8.
Chertow GM, Burdick E, Honour M, et al.: Acute Kidney Injury, Mortality, Length of Stay, and Costs in Hospitalized Patients. JASN 2005; 16: 3365–70 CrossRef MEDLINE
9.
Silver SA, Harel Z, McArthur E, et al.: Causes of Death after a Hospitalization with AKI. JASN 2018; 29: 1001–10 CrossRef MEDLINE PubMed Central
10.
Collister D, Pannu N, Ye F, et al.: Health Care Costs Associated with AKI. CJASN 2017; 12: 1733–43 CrossRef MEDLINE PubMed Central
11.
Muhiyaddin R, Abd-Alrazaq AA, Househ M, et al.: The Impact of Clinical Decision Support Systems (CDSS) on Physicians: A Scoping Review. Stud Health Technol Inform 2020; 272: 470–3.
12.
Haase M, Kribben A, Zidek W, et al.: Electronic Alerts for Acute Kidney Injury. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 1–8 VOLLTEXT
13.
Zhao Y, Zheng X, Wang J, et al.: Effect of clinical decision support systems on clinical outcome for acute kidney injury: a systematic review and meta-analysis. BMC Nephrol 2021; 22: 271 CrossRef MEDLINE PubMed Central
14.
Haase-Fielitz A, Elitok S, Schostak M, et al.: The Effects of Intensive Versus Routine Treatment in Patients with Acute Kidney Injury. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 289–96 VOLLTEXT
15.
Sutton RT, Pincock D, Baumgart DC, et al.: An overview of clinical decision support systems: benefits, risks, and strategies for success. npj Digit Med 2020; 3: 17 CrossRef MEDLINE PubMed Central
16.
Forschungsprojekt „Analyse- und Meldesystem zur Verbesserung der Patientensicherheit durch Echtzeitintegration von Laborbefunden“ (AMPEL); gemäß eHealthSax-Richtlinie Nr.: 100331796 mitfinanziert durch Steuermittel auf Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushalts. www.ampel.care.
17.
Walter Costa MB, Wernsdorfer M, Kehrer A, et. al.: The Clinical Decision Support System AMPEL for Laboratory Diagnostics: Implementation and Technical Evaluation. JMIR Med Inform 2021; 9 (6): e20407 CrossRef MEDLINE PubMed Central
18.
Eckelt F, Remmler J, Kister T, et al.: Verbesserte Patientensicherheit durch „clinical decision support systems“ in der Labormedizin. Internist 2020; 61: 452–9 CrossRef MEDLINE
Häufigkeit und Progression von AKI
Grafik
Häufigkeit und Progression von AKI
1.Wang HE, Muntner P, Chertow GM, et al.: Acute Kidney Injury and Mortality in Hospitalized Patients. Am J Nephrol 2012; 35: 349–55 CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.Susantitaphong P, Cruz DN, Cerda J, et al.: World Incidence of AKI: A Meta-Analysis. CJASN 2013; 8: 1482–93 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.Al-Jaghbeer M, Dealmeida D, Bilderback A, et al.: Clinical Decision Support for In-Hospital AKI. JASN 2018; 29: 654–60 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.Kister TS, Remmler J, Schmidt M, et al.: Acute kidney injury and its progression in hospitalized patients—Results from a retrospective multicentre cohort study with a digital decision support system. PLoS ONE 2021; 16: e0254608 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.Zeng X, McMahon GM, Brunelli SM, et al.: Incidence, Outcomes, and Comparisons across Definitions of AKI in Hospitalized Individuals. CJASN 2014; 9: 12–20 CrossRef MEDLINE PubMed Central
6.Khadzhynov D, Schmidt D, Hardt J, et al.: The Incidence of Acute Kidney Injury and Associated Hospital Mortality. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 397–404 VOLLTEXT
7.Bihorac A, Yavas S, Subbiah S, et al.: Long-Term Risk of Mortality and Acute Kidney Injury During Hospitalization After Major Surgery. Annals of Surgery 2009; 249: 851–8 CrossRef MEDLINE
8.Chertow GM, Burdick E, Honour M, et al.: Acute Kidney Injury, Mortality, Length of Stay, and Costs in Hospitalized Patients. JASN 2005; 16: 3365–70 CrossRef MEDLINE
9. Silver SA, Harel Z, McArthur E, et al.: Causes of Death after a Hospitalization with AKI. JASN 2018; 29: 1001–10 CrossRef MEDLINE PubMed Central
10.Collister D, Pannu N, Ye F, et al.: Health Care Costs Associated with AKI. CJASN 2017; 12: 1733–43 CrossRef MEDLINE PubMed Central
11.Muhiyaddin R, Abd-Alrazaq AA, Househ M, et al.: The Impact of Clinical Decision Support Systems (CDSS) on Physicians: A Scoping Review. Stud Health Technol Inform 2020; 272: 470–3.
12. Haase M, Kribben A, Zidek W, et al.: Electronic Alerts for Acute Kidney Injury. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 1–8 VOLLTEXT
13.Zhao Y, Zheng X, Wang J, et al.: Effect of clinical decision support systems on clinical outcome for acute kidney injury: a systematic review and meta-analysis. BMC Nephrol 2021; 22: 271 CrossRef MEDLINE PubMed Central
14.Haase-Fielitz A, Elitok S, Schostak M, et al.: The Effects of Intensive Versus Routine Treatment in Patients with Acute Kidney Injury. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 289–96 VOLLTEXT
15.Sutton RT, Pincock D, Baumgart DC, et al.: An overview of clinical decision support systems: benefits, risks, and strategies for success. npj Digit Med 2020; 3: 17 CrossRef MEDLINE PubMed Central
16.Forschungsprojekt „Analyse- und Meldesystem zur Verbesserung der Patientensicherheit durch Echtzeitintegration von Laborbefunden“ (AMPEL); gemäß eHealthSax-Richtlinie Nr.: 100331796 mitfinanziert durch Steuermittel auf Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushalts. www.ampel.care.
17.Walter Costa MB, Wernsdorfer M, Kehrer A, et. al.: The Clinical Decision Support System AMPEL for Laboratory Diagnostics: Implementation and Technical Evaluation. JMIR Med Inform 2021; 9 (6): e20407 CrossRef MEDLINE PubMed Central
18.Eckelt F, Remmler J, Kister T, et al.: Verbesserte Patientensicherheit durch „clinical decision support systems“ in der Labormedizin. Internist 2020; 61: 452–9 CrossRef MEDLINE
Themen:

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote