ArchivDeutsches Ärzteblatt16/2022Klinische Studien: Abgehängtes Deutschland

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Klinische Studien: Abgehängtes Deutschland

Reinhart, Konrad; Welte, Tobias

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Bei der translationalen klinischen Forschung existieren in Deutschland im internationalen Vergleich erhebliche Defizite, die während der Pandemie besonders deutlich zutage getreten sind. Deshalb appellieren klinisch Forschende, zu deren Überwindung zeitnah die notwendigen Maßnahmen umzusetzen.

Die seit mehr als zwei Jahren anhaltende Pandemie hat die Stärken und Schwächen unseres Gesundheitssystems offengelegt: Es besteht eine gute Gesundheitsversorgung bei gleichzeitig mangelhafter klinischer Forschung.

Deutschland nimmt im internationalen Vergleich bei den Kenngrößen für die verfügbaren materiellen und personellen Ressourcen Spitzenplätze ein. Eine Überlastung unseres Gesundheitssystems konnte während der Pandemie weitgehend vermieden werden. Die medizinische Grundlagenforschung in Deutschland ist national und international anerkannt. Objektiv sind die Bedingungen erfüllt, um sowohl eine stabile Gesundheitsversorgung nach dem aktuellen Wissensstand zu gewährleisten als auch die Gesundheitswirtschaft und Biotechnologie als innovative und zukunftsträchtige Wirtschaftszweige zu stärken.

Der Übergang von der Grundlagenforschung zur Klinik geschieht in der translationalen klinischen Forschung. Doch hier existieren in Deutschland Defizite, die in der Pandemie besonders deutlich zutage getreten sind. Während andere Länder rasch reagierten und viele klinische Studien initiierten, geschah das in Deutschland nur spärlich. Eine Schweizer Analyse zeigt: Von 3 177 weltweit registrierten randomisierten kontrollierten COVID-19-Studien wurden nur 65 ganz oder wenigstens teilweise in Deutschland durchgeführt. Das Vereinigte Königreich zeigte hingegen, was durch beherzte Maßnahmen und geeignete Infrastrukturen möglich ist: So rekrutierte die Recovery-Studie 10 000 Patientinnen und Patienten allein zwischen dem 1. April und dem 31. Mai 2020. Eine vergleichbare Leistung ist in Deutschland aktuell undenkbar.

Das muss sich dringend ändern. Nicht viele Länder haben die Möglichkeiten und Ressourcen, die das deutsche Gesundheitssystem und die hiesigen wissenschaftlichen Institutionen besitzen. Die Bundesrepublik hat sich in den letzten Jahren zunehmend der globalen Gesundheitspolitik zugewendet. Dieser Impetus hat Deutschland viel Anerkennung gebracht. Er bringt allerdings auch die Verpflichtung gegenüber der Weltgemeinschaft mit sich, einen angemessenen Teil zur allgemeinen Wissensentwicklung beizutragen.

Auch aus wirtschaftlicher Sicht besteht Änderungsbedarf: Die Durchführung klinischer Studien ist der entscheidende, sehr kostenintensive, aber zwingend notwendige Entwicklungsschritt, der von der Grundlagenforschung über die Prüfung neuer Medikamente bis zur Zulassung führt. In Deutschland wurden und werden in der staatlich adäquat geförderten Grundlagenforschung vielversprechende Therapieoptionen erfolgreich entwickelt. Wenn anschließend aber das Durchführen der notwendigen klinischen Studien nicht angemessen gefördert wird, erfolgen die Finanzierung und auch die Verwertung der Nutzungsrechte meist im Ausland. Damit aber werden auch die Medikamente im Ausland vermarktet und produziert. Deutschland gehen dadurch Wissen, Arbeitsplätze und Kapital verloren, das zur Entwicklung weiterer biotechnologischer Innovationen eingesetzt werden könnte.

Studien im Ausland

Die Bedeutung der Arzneimittel- beziehungsweise Impfstoffentwicklung nicht nur für den Wissensstandort, sondern auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland lässt sich daran ermessen, dass der Impfstoff-Produzent BioNTech im Jahr 2021 mit fast einem Fünftel zum Wirtschaftswachstum in Deutschland beigetragen hat. Die klinischen Studien zur Zulassung des Impfstoffes fanden jedoch nicht in Deutschland statt. Kaum einer der Probanden kam aus Deutschland. Und es bedurfte eines international agierenden Pharmapartners, um die Zulassungen der nationalen Arzneimittel-Agenturen zu erhalten und die Produktion wie den Vertrieb auszubauen.

Was vielen Menschen außerdem nicht bewusst ist: Studien verbessern nicht nur die Versorgung kranker Menschen, sie sparen auch viel Geld. Die Überprüfung der Effektivität innovativer präventiver, therapeutischer und diagnostischer Optionen erspart nicht nur den Patientinnen und Patienten unnötiges Leid, sondern auch dem Gesundheitssystem unnötige Kosten durch Vermeidung von Fehl- oder Überversorgung.

Jede Krise birgt aber auch eine Chance für die Verbesserung struktureller Schwächen und eine echte Weiterentwicklung. Auf dem Gebiet der klinischen Forschung könnte Deutschland künftig sein Potenzial besser ausschöpfen. Die finanziellen Ressourcen, Deutschland zu einem sehr erfolgreichen Studienstandort zu machen, sind vorhanden. Doch momentan können die in Deutschland von der öffentlichen Hand zur Strukturförderung klinischer Studiengruppen zur Verfügung gestellten Mittel die tatsächlich anfallenden Kosten für die Durchführung klinischer Studien nicht decken.

Es sind also zwingend neue Modelle für die öffentliche Finanzierung klinischer Studien nötig, um diese kostendeckend durchführen zu können. Im Vergleich mit beispielsweise Großbritannien sind klinische Studien in Deutschland stark unterfinanziert. In Frankreich etwa werden klinische Studien durch eine feste Abgabe auf den Krankenkassenbeitrag finanziert, mit denen verlässlich und langfristig geplant werden kann. Dies hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einer wesentlichen Stärkung der klinischen Forschung in Frankreich beigetragen.

Zentrale Hindernisse

Der Weg zu nachhaltigen Verbesserungen auf dem Gebiet der klinischen Forschung muss künftig über die Umsetzung von strukturellen, kulturellen, finanziellen und rechtlichen Maßnahmen führen. Aus Sicht der Autorengruppe* müssen vor allem zentrale Hindernisse für die rasche und erfolgreiche Durchführung klinischer Studien beseitigt werden.

So müssen gesetzliche, behördliche und kulturelle Hemmnisse auf Bundes- und Länderebene sowie auf Ebene der Studienzentren abgebaut und die Qualitätssicherungsprozesse, Nutzungsbedingungen und Teilnahmekriterien unter Berücksichtigung von national bindenden Ethikvoten aktualisiert werden. Nötig sind ferner zentral abgestimmte Aufwandspauschalen für Studienleistungen, zentral abgestimmte Musterverträge, gemeinsame Nutzungs-, Verwertungs- und Publikationsordnungen sowie eine allgemeine Verpflichtung zur Einhaltung vorgegebener Zeitschienen.

Fotos: bearsky23/stock.adobe.com
Fotos: bearsky23/stock.adobe.com

Ausgebaut, weiterentwickelt und verstetigt werden müssen die bereits bestehenden Studienstrukturen. Dabei sollte explizit die Fähigkeit zur Durchführung international kompetitiver klinischer Studien gestärkt werden, beispielsweise durch die Koordinierungszentren für klinische Studien (ZKS/KKS), die Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, das Netzwerk der Universitätsmedizin (NUM), DFG- und BMBF-geförderte Kompetenznetzwerke sowie regionale und assoziierte Forschungsnetzwerke und lokale Studienzentren.

Für die spezielle Situation zukünftiger Pandemien bedarf es ferner zusätzlicher struktureller Maßnahmen, vor allem einer nationalen Studienkoordination. Die Verantwortung für die Initiierung sollte beim Bundesforschungs- und/oder Gesundheitsministerium liegen. Hinzugezogen sollten in solchen Fällen aber auch Bundesbehörden, die Erfahrungen mit klinischen Studien zur Evaluierung und Zulassung von Wirkstoffen haben, wie beispielsweise das Paul-Ehrlich-Institut. Einbezogen werden sollten aber auch der Deutsche Ethikrat und der Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen sowie Expertinnen und Experten aus der Industrie mit ausgewiesener Erfahrung bei der Planung und Durchführung international kompetitiver Studien und/oder in der Arznei- und Impfstoffentwicklung sowie Datenschutzbeauftragte und Patientenorganisationen.

Auch generell muss künftig die Studienkultur in Deutschland gestärkt werden. Dazu sind nationale Aufklärungskampagnen zu den Themen Klinische Forschung und Datenschutz versus Datennutzung ebenso notwendig wie eine Stärkung der administrativen und infrastrukturellen Voraussetzungen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist eine ausreichende Finanzierung der klinischen Studien. Noch immer mangelt es an Aufwandspauschalen in einer Größenordnung, die dem personellen Aufwand entspricht. Ein Vielfaches bisheriger Fördersummen ist nötig, um unabhängige von der Wissenschaft initiierte Studien (IITs) zu fördern und die Grundstrukturen der dafür benötigten Studiengruppen zu erhalten. Öffentlich gefördert werden müssten alle Phasen klinischer Studien – auch Phase-III-Studien. Dazu müssen innovative Förderinstrumente entwickelt werden.

Rechtliche Anpassungen

Erforderlich sind auch rechtliche Maßnahmen. So sollten Förderrichtlinien für klinische Studien, einschließlich einer Ad-hoc-Förderung, erarbeitet werden, das Arzneimittelgesetz angepasst und interventionelle und nicht interventionelle Studien (§ 4 Abs. 23 AMG) sowie nicht- und niedrig invasive Diagnostik neu definiert werden. Prospektive Kohortenstudien mit breiter Dokumentation verschiedener Arzneimittel ohne Einflussnahme auf Verordnungsverhalten sollten zum Beispiel als nicht interventionelle Studien gelten. Eine Intervention im Sinne der Verabreichung eines Medikaments muss klar von der Diagnostik abgegrenzt werden. Sie sollten nicht per se als klinische Prüfung gemäß AMG eingeordnet werden.

Verbesserungswürdig ist zudem die Beantragung von klinischen Studien. Diese muss generell vereinfacht werden. Nötig sind beispielsweise einheitliche Musterstudienverträge im Baukastenprinzip, die für alle Studienzentren bindend sind sowie einheitliche Muster für Aufklärungsbögen zu den Studien. Auch Haftung und Versicherung sowie der Umgang mit dem Datenschutz sollte einheitlich geregelt sein. Endlich eingeführt werden muss auch eine forschungskompatible elektronische Patientenakte (ePA), für die mittlerweile die gesetzlichen Grundlagen geschaffen wurden.

Prof. Dr. med. Konrad Reinhart, Prof. Dr. med. Tobias Welte

* Michael Bauer und Niels Riedemann aus Jena, Oliver A. Cornely und Sibylle Mellinghoff aus Köln, Markus Löffler aus Leipzig, Patrick Meybohm aus Würzburg, Maria Vehreschild und Janne Vehreschild aus Frankfurt sowie Martin Witzenrath und Roman Marek aus Berlin

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