MEDIZIN: cme
Zielkrankheiten des Neugeborenenscreenings in Deutschland
Herausforderungen an Therapie und Langzeitbetreuung
Target diseases for neonatal screening in Germany—challenges for treatment and long-term care
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Hintergrund: Das Neugeborenenscreening in Deutschland umfasst heute 19 angeborene Krankheiten, wobei 13 Stoffwechselkrankheiten sind. Circa eines von 1 300 Neugeborenen weist eine der Zielkrankheiten auf. Frühe Diagnostik und Therapie ermöglichen für Betroffene eine bessere Entwicklung und oft sogar ein normales Leben.
Methode: Es erfolgte eine selektive Literaturrecherche in den Datenbanken PubMed und Embase.
Ergebnisse: Positive Screeningbefunde bestätigen sich etwa bei einem von fünf Neugeborenen. Eine zügige Abklärung von Verdachtsdiagnosen ist essenziell, da bei einigen Erkrankungen die Therapie zur Vermeidung von Langzeitschäden direkt nach der Geburt begonnen werden muss. Zu den häufigsten Befunden zählen primäre Hypothyreose (1 : 3 338), Phenylketonurie/Hyperphenylalaninämie (1 : 5 262), Mukoviszidose (1 : 5 400) und Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (1 : 10 086). Durch die Identifikation neuer Varianten der Zielkrankheiten steigen die Patientenzahlen und die Therapien müssen an die heterogenen Manifestationsformen angepasst werden. Die genaue Diagnose und Behandlungsplanung bei in der Regel lebenslang notwendigen Therapien sollten in einem spezialisierten Zentrum erfolgen.
Schlussfolgerung: Durch verbesserte Diagnose und Therapie steigt bei vielen Patienten die Lebenserwartung. Kompetenz in der Langzeitbehandlung, auch in der Erwachsenenmedizin, wird eine zentrale Strukturaufgabe in der Zukunft der Screeningmedizin sein.


Das Neugeborenenscreening zur Früherkennung angeborener Krankheiten erfordert die kontinuierliche Anpassung und Optimierung der Therapien nicht nur für Patientinnen und Patienten mit klassischen, sondern auch mit varianten Krankheitsformen, die erst seit Implementierung des Screenings identifiziert werden. Frühe Diagnose, verbesserte Ergebnisse und eine höhere Lebenserwartung führen zu steigendem Bedarf an Langzeitbetreuung bis ins Erwachsenenalter. Die ersten Patienten, die nach Einführung der ersten Reihenuntersuchung auf Phenylketonurie im Jahr 1969 in Deutschland diagnostiziert wurden, sind mittlerweile > 50 Jahre alt.
Seitdem wurden in Deutschland mehr als 34 Millionen Neugeborene untersucht (1), und bei mehr als 14 000 Kindern wurde die frühe Diagnose einer angeborenen Stoffwechselkrankheit oder Endokrinopathie gestellt (1). Heute geht man davon aus, dass etwa 1 : 1 300 Neugeborenen an einer der Zielkrankheiten des Screenings leidet (Tabelle 1), sodass gut abzuschätzen ist, wie viele betroffene Kinder jährlich neu hinzukommen. Auch durch die Aufnahme weiterer Zielkrankheiten, die aktuell in Pilotstudien evaluiert werden (2), ist zukünftig von einer weiteren Zunahme an Patientinnen und Patienten und Diagnosen auszugehen.
Ein erfolgreiches Neugeborenenscreening umfasst eine valide Screeningmethode sowie eine schnelle und sichere Konfirmationsdiagnostik (3). Für manche Krankheiten ist eine hohe Rate an unklaren oder falsch positiven Befunden bekannt wie für den Very-Long-chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase (VLCAD)-Mangel oder das Adrenogenitale Syndrom (AGS) (4), sodass der Screeningbefund zunächst nur eine Verdachtsdiagnose darstellt. Nach aktueller Datenlage aus dem deutschen Screening bestätigt sich nur bei jedem fünften positiven Screeningbefund eine Zielkrankheit (5). Die regelmäßige Evaluation des Screeningprozesses durch die Deutsche Gesellschaft für Neugeborenenscreening (DGNS) zeigt überdies, dass 18 % der kontrollbedürftigen Befunde nicht korrekt überprüft (1) und angemahnt werden müssen („tracking“). Hierzu wurden in einigen Bundesländern sogenannte Trackingzentralen eingerichtet.
Bei Identifizierung milder oder sogar asymptomatischer Manifestationsformen im Screening ist unklar, ob die Einleitung einer frühen Therapie gerechtfertigt ist. Eine große aktuelle und zukünftige Herausforderung des Screenings ist es daher, die Patienten nach Sicherung der Diagnose richtig einzuordnen und ihr Risiko einer symptomatischen Erkrankung zu stratifizieren, um die notwendigen prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen bei den richtigen Patienten einzuleiten.
Die Wilson und Jungner Screeningkriterien (6) sind auch heute noch Grundlage dafür, welche Krankheiten in den Screeningkatalog aufgenommen werden sollen. In vielen Ländern, wie Australien oder den USA, ist die Anzahl der Screeningkrankheiten deutlich umfangreicher (7, 8). 49 der 61 Screeningkrankheiten (80 %) in den USA sind angeborene metabolische Krankheiten (Grafik 1). Hingegen umfasst das nationale Neugeborenenscreeningprogramm im Vereinigten Königreich (UK) aktuell nur 10 Krankheiten (9), sechs davon sind angeborene Stoffwechselkrankheiten. Für eine deutlich größere Anzahl an Krankheiten ist bekannt, dass eine frühe Identifizierung und Therapie mit einem besseren Outcome einhergehen. Der Aufnahme einer Krankheit in den Screeningkatalog sollte jedoch immer eine strenge Prüfung des konkreten Vorteils für die Patienten vorausgehen (10, 11). Insgesamt nimmt die Zahl an behandelbaren Stoffwechselkrankheiten rapide zu. Ein aktuelles Review weist in 2021 von den insgesamt > 1 400 bekannten Stoffwechselkrankheiten 116 als behandelbare aus, von denen 44 erst in den letzten 8 Jahren identifiziert wurden (12).
Diese Übersichtsarbeit soll die Komplexität des aktuell in Deutschland verfügbaren Neugeborenenscreenings darlegen und die notwendigen Voraussetzungen für eine optimale Durchführung und Weiterentwicklung beschreiben (Grafik 2). Hierzu wurde im April 2021 eine selektive Literaturrecherche zu den aktuellen Zielkrankheiten in den Datenbanken PubMed und Embase durchgeführt. Die Zielkrankheiten (Tabelle 1) und die krankheitsspezifischen Herausforderungen werden im Folgenden dargestellt (Tabelle 2).
b) Zeitstrahl der Entwicklung des Neugeborenenscreenings in Deutschland
Lernziele
Die Leserin und der Leser soll nach der Lektüre dieses Beitrags
- die Screeningkrankheiten in Deutschland und die jeweiligen Screeningprozesse kennen
- einen Überblick über die Herausforderungen des Neugeborenenscreenings bezüglich der Konfirmationsdiagnostik und Therapie erlangen
- wichtige Maßnahmen zur Sicherung der Langzeitbetreuung der Patienten verinnerlicht haben.
Die Zielkrankheiten und aktuelle Herausforderungen
Stoffwechselkrankheiten
Very-Long-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel
Der VLCAD-Mangel ist der häufigste Defekt der mitochondrialen Oxidation langkettiger Fettsäuren (FS) mit einer Inzidenz von circa 1 : 75 000 Neugeborenen (5). Er resultiert in einer gestörten Energiegewinnung aus langkettigen Fettsäuren und manifestiert sich mit Kardiomyopathie, Skelettmyopathie, Rhabdomyolysen, Koma und Hypoglykämie. Zu den heterogenen Phänotypen gehören auch asymptomatische Verläufe (13), beispielsweise sind Frauen nach der Geburt ihres Kindes durch ein auffälliges Screening des Neugeborenen identifiziert worden. Hierdurch hat sich in den letzten Jahren das Management der Krankheit stark verändert.
Die Konfirmationsdiagnostik nach einem auffälligen Neugeborenenscreeningbefund spielt beim VLCAD-Mangel eine besondere Rolle, da die krankheitsspezifischen Metabolite C14 : 1 und C:14 : 2 bei gesunden Neugeborenen im schweren Katabolismus nach der Geburt gleichermaßen erhöht sein können (falsch positive Befunde) (14). Umgekehrt können bei Anabolismus im Screening nur sehr milde erhöhte Werte beziehungsweise bei der Befundkontrolle (Zweitscreening) normale Werte vorliegen, wodurch die Diagnose übersehen werden kann (15). Ein auffälliger Screeningbefund muss daher zwingend enzymatisch (16, 17) (oder genetisch) nachuntersucht werden.
Aufgrund der unterschiedlichen Schweregrade der Krankheit, die verschiedene therapeutische Interventionen erfordern, ist eine frühe Risikostratifizierung essenziell (18). Bei milde betroffenen Patienten und Patientinnen kann die Mutter beispielsweise weiter in vollem Umfang stillen (Kasten).
Grundbaustein der Therapie sind die Vermeidung von Katabolismus sowie eine fettreduzierte und fettmodifizierte Diättherapie (19), die einer interdisziplinären Behandlung zusammen mit qualifizierten, in der Stoffwechselmedizin weitergebildeten Diätassistenten und Diätassistentinnen (www.vdd.de) und engmaschigem biochemischem und klinischem Monitoring bedarf. Verschiedene experimentelle Therapien sind in Erprobung, wie der Einsatz von anapleurotisch wirkenden ungradzahligen C7-FS (Triheptanoin) (20).
Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase(MCAD)-Mangel
Der MCAD-Mangel ist ein angeborener Enzymdefekt, bei dem langkettige FS aus der Nahrung nur bis auf die Stufe der mittelkettigen FS verkürzt werden können, sodass aus Fett nicht die komplette Energie gewonnen werden kann. Entsprechend sind die Symptome beim MCAD-Mangel insgesamt milder als beim VLCAD-Mangel, es kann jedoch auch zu tödlichen Stoffwechselkrisen mit Koma und Hypoglykämie kommen (21). Im Screening werden auch variante Formen identifiziert, für die noch unklar ist, ob die Patienten im natürlichen Verlauf symptomatisch werden. Die Therapie besteht aus der konsequenten Vermeidung von Hungerphasen und Vorgaben für Mahlzeitenabstände, auch nachts, die altersabhängig angepasst werden. Es bedarf keiner Diättherapie. Wichtig sind eine gute Kommunikation und Schulung der Eltern.
Defekte des mitochondrialen trifunktionellen Proteins und Carnitinzyklusdefekte
Bei allen genannten Enzymdefekten ist die Oxidation langkettiger FS gestört. Biochemisch sind Long-Chain-3-OH-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (LCHAD) und mitochondrialer trifunktioneller Protein(MTP)-Mangel im Screening nicht zu unterscheiden. Gleiches trifft auf den Carnitin-Palmitoyl-Transferase-II-Mangel (CPT-II) und Carnitin-Acylcarnitin-Translokase-Mangel (CACT) zu, sodass weitere Enzym- oder genetische Diagnostik notwendig sind (22). Der Energiemangel und die Akkumulation toxischer Fettsäurenmetabolite resultieren in Stoffwechselkrisen mit Koma, Kardiomyopathie, Skelettmyopathie, rezidivierenden Rhabdomyolysen und Hypoglykämie. Beim LCHAD- und MTP-Mangel entwickelt sich zusätzlich eine irreversible Neuropathie und Retinopathie (23). Die Behandlung basiert auf einer fettreduzierten und fettmodifizierten Diät und der Vermeidung von Katabolismus in Analogie zum VLCAD-Mangel.
Phenylketonurie
Die Phenylketonurie (PKU) beruht auf einem genetischen Enzymdefekt im Abbau der Aminosäure Phenylalanin und führt unbehandelt zu schwerer geistiger Beeinträchtigung (21). Die Behandlung besteht aus einer proteinarmen Diät mit Supplementierung synthetischer Aminosäuren. Für bestimmte Patientengruppen (Tetrahydrobiopterin-responsive PKU) ist eine zusätzliche Kofaktortherapie mit Tetrahydrobiopterin erfolgreich, um die Proteintoleranz zu erhöhen. Die milde Verlaufsform (Hyperphenylalaninämie) erfordert keine Diättherapie. Erhöhte Phenylalaninwerte im Screening können auch auf Enzymdefekte des Tetrahydrobiopterin-Recyclings hinweisen, die zu Neurotransmitterstörungen führen und einer anderen Therapie bedürfen.
Ahornsirupkrankheit
Bei der Ahornsirupkrankheit, auch „Maple Sirup Urine disease“ (MSUD), besteht ein genetischer Enzymdefekt im Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren, der insbesondere zur Akkumulation des toxischen Metaboliten Leuzin führt und bereits in der Neonatalperiode in Koma und Hirnödem mit der langfristigen Folge schwerer psychomotorischer Retardierung resultieren kann. Zur schnellen Senkung des Leuzins können initial Dialyseverfahren notwendig werden. Die Therapie besteht aus einer proteinreduzierten Diät mit Supplementierung einer synthetischen Aminosäuremischung sowie Valin und Isoleuzin. Die Vermeidung von Katabolismus ist essenziell, um den körpereigenen Proteinabbau zu unterbinden. Die Therapie erfolgt lebenslang. In den USA ist die Lebertransplantation eine relevante Therapieoption (24).
Tyrosinämie Typ 1
Bei der Tyrosinämie Typ 1 handelt es sich um eine genetische Abbaustörung der Aminosäure Tyrosin. Unbehandelt können die Patienten durch Akkumulation toxischer Metabolite bereits in den ersten Lebenstagen schwere Leberfunktionsstörungen aufweisen und in einem akuten Leberversagen resultieren. Auch Nierenfunktionsstörungen und neurologische Krisen gehören zum Symptomspektrum der Krankheit. Seit 1992 steht eine effektive pharmakologische Therapie mit Nitisinon zur Verfügung, welche die Bildung von toxischen Intermediärprodukten aus dem blockierten Tyrosinabbau verhindert (25). Zusätzlich ist eine proteinarme Diät mit Supplementierung synthetischer Aminosäuren notwendig. Erste Schwangere unter Nitisinontherapie mit gesunden Neugeborenen sind beschrieben.
Glutarazidurie Typ 1
Die Glutarazidurie Typ 1 (GA1) ist eine Organoazidopathie, der ein Enzymdefekt im Abbau der Aminosäuren Lysin und Tryptophan zugrunde liegt. Es kommt in Phasen von Katabolismus und vermehrtem körpereigenen Proteinabbau zu unvorhersehbaren Stoffwechselkrisen, die in irreversibler dystoner Bewegungsstörung mit hoher Morbidität und Mortalität resultieren. In Analogie zu anderen Organoazidopathien wird eine kombinierte Basisbehandlung bestehend aus einer lysinarmen/proteinarmen Diät, einer Supplementation mit L-Carnitin und einer intensivierten Notfalltherapie bei Infektionskrankheiten, fieberhaften Impfreaktionen und im Rahmen des perioperativen Managements durchgeführt (26).
Isovalerianazidämie
Die Isovalerianazidämie (IVA) ist eine Organoazidopathie, die auf einem Enzymdefekt im Abbau der verzweigtkettigen Aminosäure Leuzin und der Akkumulation von Isovaleriansäure beruht. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen mit klassischer IVA entwickelt sich bereits in der Neugeborenenperiode eine Enzephalopathie mit Trinkschwäche, Erbrechen, Apathie und Krampfanfällen. Milde Verlaufsformen und andere Genotypen sind erst seit Implementierung des Screenings bekannt (27). Die sehr heterogenen Phänotypen erfordern ein unterschiedliches therapeutisches Vorgehen. Bei milden Formen besteht die Therapie lediglich aus der Supplementierung von L-Carnitin, bei den klassischen Formen ist zusätzlich die Vermeidung von Katabolismus und eine proteinreduzierte Diät mit Supplementierung synthetischer Aminosäuren notwendig.
Biotinidasemangel
Der Biotinidasemangel ist ein angeborener Enzymdefekt des Biotinstoffwechsels. Die Biotinidase ist am Recycling des freien Biotins beteiligt und ein Mangel führt zu einer geringeren Bereitstellung von Biotin. Die Symptome des Biotinidasemangels entsprechen denen eines Biotinmangels mit neurologischen und dermalen Symptomen (Krampfanfällen, Muskelhypotonie, Hörverlust, Hautausschläge, Alopezie, verzögerte Entwicklung). Die Therapie besteht aus der lebenslangen Supplementierung mit Biotin und ist effektiv in der Vermeidung der Symptome. Man unterscheidet einen schweren Biotinidasemangel mit einer Enzymrestaktivität von ≤ 10 % und einen partiellen Biotinidasemangel mit einer Enzymaktivität von 10–30 %.
Galaktosämie
Bei der Galaktosämie wird der Einfachzucker Galaktose nicht verstoffwechselt und es entstehen toxische Galaktose-Metabolite. Die Krankheit wird nach dem Verzehr von Milch symptomatisch, somit wenige Tage nach der ersten Milchzufuhr. Die schwerste Manifestation ist das akute Leberversagen in den ersten Lebenstagen nach der Geburt, aber auch andere Symptome (schlechtes Gedeihen, Katarakt, protrahierte Hyperbilirubinämie, Leberzirrhose) können auftreten (28). Im Galaktosämie-Screening wird neben der Gesamtgalaktose auch die Aktivität der Galaktose-1-Phosphat-Uridyltransferase (GALT) bestimmt. Hierdurch ist die Identifizierung der klassischen Galaktosämie (GALT-Mangel) unabhängig von der Milch (Laktose)-Zufuhr korrekt möglich. Die Therapie besteht in lebenslanger laktosefreier und galaktosearmer Diät. Da Galaktose sowohl in der Muttermilch als auch in den zur Verfügung stehenden Säuglingsmilchnahrungen enthalten ist, erhalten Säuglinge Sojamilch.
Endokrinopathien
Kongenitale Hypothyreose
Unbehandelt führt die kongenitale Hypothyreose (CH) zu einer schwersten mental-motorischen Retardierung mit Kleinwuchs (Kretinismus). In Kohortenstudien konnte gezeigt werden, dass das kognitive Outcome der Patienten im Sinne der IQ-Werte sehr empfindlich von der initialen L-Thyroxin-Dosis (LT4) und einem frühen Therapiebeginn mit L-Thyroxin abhängt. Wenn der Beginn erst nach dem 14. Lebenstag erfolgt, findet sich bereits ein signifikant geringerer IQ (29, 30). Eine aktuelle Herausforderung des CH-Screenings ist die Frage der Diagnostik und Therapie von Minorvarianten. Durch einen geringeren TSH-cut-off-Wert werden in mehreren Screeningprogrammen neuerdings auch nur leichte TSH-Erhöhungen erfasst. Obwohl bisher nicht eindeutig gezeigt werden konnte, dass die nur leicht erhöhten TSH-Werte eine negative Auswirkung auf die kognitive Entwicklung der betroffenen Kinder haben, werden diese Kinder oft therapiert (31). Eine unnötige Therapie mit L-Thyroxin birgt die Gefahr einer iatrogenen Hyperthyreose.
Adrenogenitales Syndrom
Das adrenogenitale Syndrom (AGS) ist eine angeborene Störung der Steroidhormonsynthese der Nebennierenrinde. Bei der häufigsten Form, dem 21-Hydroxylasemangel, kommt es zu einer eingeschränkten Cortisol- und Aldosteronsynthese mit Erhöhung des androgenen Steroidmetaboliten 17-Hydroxyprogesteron (17OHP). Das klinische Bild ist durch Hypoglykämie bei Cortisolmangel und Salzverlust bei Aldosteronmangel mit potenziell letalem Ausgang gekennzeichnet (32). Bei betroffenen Mädchen kommt die Virilisierung des äußeren Genitales hinzu. Der Erfolg der Substitutionstherapie ist sehr gut belegt, ermöglicht den betroffenen Patienten ein weitgehend normales Leben und führt gleichzeitig zu einer Normalisierung der Androgene (33).
Die Bestätigungsdiagnostik stellt eine große Herausforderung dar, da auch durch verschiedene Stressoren physiologisch erhöhte 17-OHP-Werte vorliegen können und eine Überdiagnostik verhindert werden muss.
Mukoviszidose
Bei der Mukoviszidose, oder Cystischen Fibrose (CF), liegt eine angeborene Störung der Chloridkanäle exokriner Drüsen vor. Der Gendefekt liegt bei der Cystischen Fibrose im „transmembrane conductance regulator“(CFTR)-Protein. Es handelt sich um eine Multisystemerkrankung mit Beteiligung von Lunge und oberen Atemwegen, Pankreas sowie Leber. Die Diagnose erfordert neben einem biochemischen beziehungsweise klinischen Hinweis den Nachweis einer CFTR-Funktionsstörung durch erhöhte Schweißchloridwerte und/oder zwei krankheitsverursachende Mutationen und/oder eine auffällige Elektrophysiologie. Die Komplexität der Konfirmationsdiagnostik und Therapie weist auf die frühe Anbindung an ein zertifiziertes Mukoviszidose-Zentrum hin (34). Die Therapie ist noch überwiegend symptomatisch. Erste mutationsspezifische Therapien werden erfolgreich eingesetzt.
SCID
Schwere kombinierte Immundefekte
Es handelt sich um angeborene schwere Störungen des Immunsystems, bei denen eine Fehlfunktion oder ein Mangel an T-Lymphozyten vorliegen, sodass ab dem Säuglingsalter eine hohe Infektanfälligkeit besteht und schwere Infektionen auftreten. Eine frühe Diagnose ermöglicht den Einsatz strenger hygienischer Maßnahmen sowie eine frühzeitige Knochenmark- oder Stammzelltransplantation, die vor Ausbruch der Krankheit deutlich höhere Heilungschancen hat (35). Unbehandelt versterben betroffene Kinder oft innerhalb der ersten zwei Lebensjahre.
Resümee
Zusammenfassend zeigt sich trotz eines komplexen Screeningprozesses und großen Herausforderungen an die Therapie und Langzeitbetreuung (Grafik 2), dass laut einer aktuellen Studie 95,6 % der Patienten eine normale Entwicklung und 87,7 % eine normale kognitive Entwicklung aufweisen, obwohl das Risiko für eine metabolische Entgleisung nicht gleich null ist (36). Die Nachbeobachtungszeiten in dieser Studie sind leider sehr kurz für langfristige Prognosen, aber weitere Prognoseverbesserungen durch neue Therapien oder personalisierte Therapieansätze sind zu erwarten.
Ausblick
Der Erfolg des Neugeborenenscreenings als Sekundärprävention ist abhängig von einer sich anschließenden qualifizierten Behandlung. Diese muss an die heterogenen Phänotypen angepasst sein. Selbst bei lebenslanger Therapie ist nicht für alle Krankheiten Symptomfreiheit garantiert. Angaben zur Lebenserwartung und zum Outcome stammen aktuell meist aus kleinen Kollektiven (37), Register für diese Krankheiten sind daher dringend notwendig. Neue, noch experimentelle Therapien werden in Studien geprüft. Der anhaltende Transfer aktueller Forschungserkenntnisse in die Behandlung benötigt die Expertise von ausgebildetem Fachpersonal in Behandlungszentren. Die spezielle Stoffwechselmedizin zukünftig als Zusatzweiterbildung auch in der deutschen Weiterbildungsordnung zu verankern, wie die Endokrinologie, Pulmonologie und Immunologie, wäre ein wichtiger Schritt, um der Komplexität der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit angeborenen Stoffwechselerkrankungen Rechnung zu tragen.
Interessenkonflikt
Die Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 12.04.2021, revidierte Fassung angenommen: 30.11.2021
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Ute Spiekerkötter
Klinik für Allgemeine Kinder- und Jugendmedizin
Universitätsklinikum Freiburg
Mathildenstraße 1, 79106 Freiburg
ute.spiekerkoetter@uniklinik-freiburg.de
Zitierweise
Spiekerkötter U, Krude H: Target diseases for neonatal screening in Germany—challenges for treatment and long-term care. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 306–16. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0075
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie, Charité-Universitätsmedizin Berlin: Prof. Dr. med. Heiko Krude
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Guntinas-Lichius, Orlando
Heimkes, Bernhard
Spiekerkötter, Ute