THEMEN DER ZEIT
Coronapandemie: Die Rolle epidemiologischer Forschung in Gesundheitskrisen
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Mit der SARS-CoV-2-Pandemie wurden aus epidemiologischer Sicht zahlreiche Probleme bei den zur Verfügung stehenden Datengrundlagen aufgezeigt, die wichtige Implikationen für zukünftige Herausforderungen der öffentlichen Gesundheit in Deutschland mit sich bringen.
Bis April 2022 wurden weltweit fast eine halbe Milliarde bestätigte Infektionen mit SARS-CoV-2 und mehr als sechs Millionen Todesfälle registriert (1). Expertinnen und Experten sind sich jedoch einig, dass sowohl bei Infektionen als auch bei Todesfällen in vielen Regionen von einer erheblichen Untererfassung auszugehen ist. Eine vor Kurzem im Lancet erschienene Arbeit schätzt die Zahl der weltweit tatsächlich auf SARS-CoV-2 zurückzuführenden Todesfälle auf bis zu 18 Millionen (2). Seit Beginn der Pandemie ist das Wissen über den Erreger und seine Varianten stetig und in bisher kaum vorstellbarer Geschwindigkeit gestiegen. Für eine erfolgreiche Eindämmung der Pandemie ist dabei nicht nur virologische Expertise notwendig, sondern auch ein Verständnis der dynamischen Ausbreitungsprozesse der Infektion in Bevölkerungen. Dabei geht es unter anderem um die Frage, wer sich infiziert, wie sich der Erkrankungsverlauf in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheidet und wie wirksam verschiedene Gegenmaßnahmen sind. Das Ausmaß der Auswirkungen der Pandemie auf die Gesundheit, die Wirtschaft und das Wohlergehen der Bevölkerung ist auch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie noch nicht endgültig absehbar. Gleichzeitig hat die Pandemie viele strukturelle und soziale Probleme ans Licht gebracht. Das anfangs große Vertrauen der Öffentlichkeit in politische Entscheidungen und wissenschaftliche Aussagen von Expertinnen und Experten wurde nicht zuletzt durch Fehl- und Falschinformationen und durch kaum belastbare Ergebnisse aus überstürzt aufgesetzten Studien erschüttert (3, 4). Auch die Epidemiologie und ihre Studienergebnisse, Methoden und Instrumente wurden hart angegriffen.
Was die Epidemiologie ausmacht
Die Epidemiologie nutzt in ihrer Forschung Daten aus epidemiologischen Studien, wobei vor allem den Beobachtungsstudien eine große Bedeutung zukommt. Diese Studien sind aus methodischer, aber auch ethischer und datenschutzrechtlicher Perspektive mit sehr großen Herausforderungen verbunden und benötigen normalerweise eine ressourcen- und zeitintensive Vorbereitung. Die so gewonnenen Ergebnisse bilden die Basis für evidenzbasierte Empfehlungen an die Politik und die öffentliche Gesundheit. So wurden zum Beispiel in der SARS-CoV-2-Pandemie bevölkerungsbezogene oder modellbasierte Studien zur Dunkelziffer und Sterblichkeit nach stattgehabten Infektionen, zur Wirksamkeit von kontaktbeschränkenden Maßnahmen, aber auch Studien zur Wirksamkeit von Teststrategien oder Impfkampagnen durchgeführt (5, 6, 7). Die Herausforderung liegt in der Epidemiologie dabei oft in der Umsetzung von Studiendesigns, die die reale Welt abbilden können (zum Beispiel in Bezug auf die Wirksamkeit von Interventionen im Sinne der sogenannten real-world effectiveness). Diese Studien finden, anders als reine Wirksamkeitsstudien von Tests oder Impfstoffen, meist nicht unter kontrollierten Bedingungen statt. Epidemiologische Forschung beschreibt und analysiert auch die Häufigkeit und Determinanten von Erkrankungen und legt das Ausmaß der Einschränkung in der Lebensqualität sowie langfristige individuelle und gesellschaftliche Kosten anhand von Daten dar. Das geschieht stets mit dem Anspruch, einen Nutzen für die Gesundheit der Bevölkerung zu erreichen.
Dafür werden bevölkerungsbezogene Daten benötigt, die unter Berücksichtigung möglicher systematischer Fehlerquellen erhoben und analysiert werden. Daten aus dem Labor oder aus kontrollierten klinischen Studien sind hochstandardisiert, aber nur begrenzt aussagekräftig, wenn es um reale Lebenssituationen geht. Genau an dieser Stelle werden epidemiologische Beobachtungsdaten extrem wichtig. Zeitnah und umfassend gesammelte Daten zu relevanten gesundheitlichen Problemstellungen, wie zu COVID-19, sind für das Erkennen von zeitlichen Trends, für die Einschätzung von Risiko- und Schutzfaktoren wie auch für die Begründung von Maßnahmen unersetzlich.
Zu Beginn der Pandemie bestand eine grundsätzliche Unsicherheit hinsichtlich des Verlaufs und der Konsequenzen einer COVID-19-Erkrankung. Es gab keine solide Wissensbasis und kaum Daten. Dennoch mussten zum Schutz der Bevölkerung schnell Entscheidungen getroffen werden. Modellierungsstudien waren daher zu Beginn der Pandemie das einzige Mittel, um die damalige Situation und mögliche weitere Entwicklungen zu beurteilen. Die Epidemiologie kann hierbei einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit der Bevölkerung leisten, wenn aus Modellierungsszenarien praktische Handlungsoptionen abgeleitet werden. Je genauer epidemiologische Informationen zur Verfügung stehen, desto besser können auch Modelle mögliche Szenarien abbilden. Gute epidemiologische Grunddaten und qualitativ hochwertige Modelle als Instrument der Evidenzsynthese bilden gemeinsam ein starkes Instrumentarium, um Krisen der öffentlichen Gesundheit zu verstehen und zu managen. Modellbasierte Schätzungen sind somit von großem Nutzen, gehen aber immer auch mit Unsicherheiten einher – insbesondere wenn nur ein begrenztes Wissen über die Erreger und über die Wirkung gesellschaftlicher Maßnahmen vorliegt. Modellierungsstudien können dabei einen direkten Einfluss auf die weiteren Entwicklungen einer Krise der öffentlichen Gesundheit haben. Wenn zum Beispiel auf der Basis von Modellergebnissen politische Entscheidungen in Bezug auf kontaktbeschränkende Maßnahmen getroffen werden, greifen diese Entscheidungen in das Geschehen ein und haben einen direkten Einfluss auf die weitere Entwicklung. Eine Folge der präventiven Maßnahmen kann sein, dass die in einer Szenarienanalyse als unter definierten Annahmen aufgeführte wahrscheinlich eintretende Situation („Überlastung der Intensivstationen“) nicht eintritt. Dieses Nichteintreten, das irrtümlicherweise als Versagen des Modells angesehen wird, kann jedoch eine Folge der kommunizierten Modellergebnisse und der daraus abgeleiteten Maßnahmen sein. Mit der Quantifizierung von Unsicherheiten kann die Epidemiologie dabei gut umgehen. Die Kommunikation von Unsicherheiten, Wahrscheinlichkeiten und Risiken an die Bevölkerung und die politischen Entscheidungsträger stellt jedoch eine große Herausforderung dar.
Was man aus der aktuellen Pandemie lernen kann
Die aktuelle Pandemie zeigt, wie entscheidend eine qualitativ hochwertige epidemiologische Surveillance von sich ändernden Gesundheitszuständen in der Bevölkerung ist. Gleichzeitig steht die schnelle epidemiologische Evaluation der Wirksamkeit und Sicherheit populationsbezogener Interventionsmaßnahmen und die Entwicklung digitaler Überwachungs- und Meldesysteme im Vordergrund. Sowohl infrastrukturell als auch inhaltlich zeigten sich in der epidemiologischen Forschung in Deutschland während der Pandemie erhebliche Lücken. Aus unserer Sicht ist als Antwort auf die identifizierten Lücken die nachhaltige Etablierung von zumindest drei Infrastrukturplattformen für die Zukunft relevant.
Zum einen sollte es ein großes, schnelles und adaptives Bevölkerungspanel geben, ähnlich der Real-time Assessment of Community Transmission (REACT) Studien in Großbritannien (8). Dieses Panel wäre unter Zusammenarbeit verschiedener infektionsepidemiologisch ausgerichteter Institutionen in der Lage, für unterschiedliche Erreger systematisch aktuelle Infektionshäufigkeiten, Korrelate von Immunität gegen diese Erreger, aber auch übergeordnete Informationen zum Verhalten wie Kontaktstrukturen schnell und deutschlandweit zu erfassen. Dieses Panel kann auch als Basis für hochwertige Diagnosestudien dienen. Zum anderen sollten interdisziplinäre Modellierungsplattformen etabliert werden, die in der Lage sind, verschiedene Modellierungsgruppen und ihre Ergebnisse zusammenzuführen, gemeinsame Ergebnisse zu präsentieren und diese dann an Entscheidungsträger weitergeben zu können. In diesem Zusammenhang sollten auch die epidemiologischen Gruppen, die Evidenzsynthese durchführen, dies innerhalb bestehender Verbünde und Strukturen sowie in Kollaboration tun, damit es nicht zu Duplikationen kommt. Eine dritte wesentliche Plattform müsste für (vor allem clusterrandomisierte) Interventionsstudien auf Bevölkerungsebene geschaffen werden. Diese sollte ebenfalls schnell aktivierbar sein, um eine ausreichend gesicherte Datengrundlage in Krisen der öffentlichen Gesundheit zu schaffen.
Eine engere Vernetzung von öffentlichem Gesundheitsdienst und akademischer Forschung sind aus unserer Sicht dringend notwendig, um akademische Expertise besser für Entscheidungsprozesse nutzbar zu machen. Zahlreiche Themen aus der aktuellen Pandemie sollten auch mittel- und langfristig mithilfe epidemiologischer Methoden und Expertise bearbeitet werden und eine hohe Priorität haben. Dazu zählen zum Beispiel die Folgen und langfristigen Konsequenzen einer COVID-19-Erkrankung auf die körperliche und mentale Gesundheit sowie die Folgen der eingeleiteten Kontrollmaßnahmen und der gesellschaftlichen Veränderungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen.
Die Krise hat uns außerdem eindrücklich vor Augen geführt, wie verletzlich eine globalisierte Gesellschaft gegenüber Infektionskrankheiten ist. Der zeitnahe Austausch von Erfahrungen mit anderen Ländern ist daher entscheidend für die laufende Krisenbewältigung und die langfristige Stärkung der gesundheitlichen Strukturen. In diesem Zusammenhang helfen vergleichende epidemiologische Studien um zu verstehen, welche Vorgehensweisen unter welchen Umständen und für welche Bevölkerungsgruppen funktionieren (oder nicht).
Epidemiologische Analysen liefern auch den verschiedenen Interessengruppen und der Bevölkerung Informationen darüber, ob die eingesetzten Maßnahmen die beabsichtigten Ziele erreicht haben.
Da den Datenwissenschaften, darunter zentral der Epidemiologie, in Pandemien eine herausragende Bedeutung zukommt, hat die Royal Statistical Society (RSS) eine Stellungnahme zu Anforderungen an Public-Health-Daten und den Umgang damit veröffentlicht (Kasten „Empfehlungen der Royal Statistical Society“ [9]). Die RSS geht davon aus, dass die Akzeptanz von Maßnahmen in der Bevölkerung erhöht werden kann, wenn die politisch-gesellschaftlichen Maßnahmen vollständig auf Daten gestützt und unter sorgfältiger Kosten-Nutzen-Abwägung begründet werden. Die gezogenen Lehren können aus unserer Sicht fast eins zu eins auf die Situation in Deutschland angewendet werden.
Die vielleicht wichtigste Aufgabe dabei wird es sein, Fehlinformationen und bewussten Manipulationen mit epidemiologischem Sachverstand entgegentreten. Und mehr denn je dazu beizutragen, dass Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker und alle anderen, die in vorderster Linie für die Gesundheit der Bevölkerung sorgen, einen wissensbasierten Zugang zum methodischen Werkzeugkasten der Epidemiologie haben.
- Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2022; 119 (17): A 753–6
Anschrift für die Verfasser:
Dr. phil. nat. Sandra Beermann
Zentrum für künstliche Intelligenz in der Public-Health-Forschung (ZKI-PH)
Robert Koch-Institut
Ludwig-Witthöft-Straße 14
D-15754 Wildau
Unser herzlicher Dank geht an Prof. Dr. Dietrich Rothenbacher, Leiter des Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie an der Universität Ulm, für den produktiven fachlichen Austausch und seinen Anmerkungen.
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1722
oder über QR-Code.
Zusammenfassung der zehn Lehren der Royal Statistical Society (9)
- Investitionen in öffentliche Gesundheitsdaten – diese sollten als kritische nationale Infrastruktur betrachtet werden
- Fakten veröffentlichen – alle von den Regierungen und ihren Beratern berücksichtigten Fakten müssen zeitnah und zugänglich veröffentlicht werden
- Klarheit und Offenheit in Bezug auf Daten – die Regierung sollte in ein zentrales Portal investieren, über das die verschiedenen Quellen offizieller Daten, Analyseprotokolle und aktuelle Ergebnisse abgerufen werden können
- Den Missbrauch von Statistiken anfechten
- Die Medien müssen mehr Verantwortung übernehmen – die Regierung sollte Medieninstitutionen unterstützen, die in spezialisierte wissenschaftliche und medizinische Berichterstattung investieren
- Ausbau der statistischen Fähigkeiten von Entscheidungsträgern
- Aufbau eines wirksamen Echtzeit-Überwachungssystems für Infektionskrankheiten, um die Ausbreitung von Krankheiten zu überwachen
- Bei diagnostischen Tests sollten ähnliche Schritte wie bei der Bewertung von Impfstoffen und Arzneimitteln unternommen werden
- Gesundheitsdaten sind ohne Sozialfürsorgedaten unvollständig
- Die Evaluierung sollte von Anfang an in jede Intervention einbezogen werden.
Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald: Prof. Dr. med. Dörr
Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie und Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München, München: Univ. Prof.
Dr. Grill, MPH
Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität, Albert-Schweitzer-Campus 1, Münster: Univ.-Prof.
Dr. med. Karch, M. Sc.
Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung GmbH, Braunschweig: Dr. med. Lange
Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS GmbH, Bremen: Prof. Dr. med. Zeeb, M. Sc.
1. | World Health Organization: WHO Coronavirus (COVID-19) Dashboard. 2022. |
2. | Wang H, et al.: Estimating excess mortality due to the COVID-19 pandemic: a systematic analysis of COVID-19-related mortality, 2020 & 2013; 21. The Lancet 2022. |
3. | Glasziou PP, Sanders S, Hoffmann T: Waste in covid-19 research. BMJ 2020; 369: m1847. |
4. | Yeo-Teh, NSL, Tang BL: An alarming retraction rate for scientific publications on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19). Account Res 2021; 28 (1): 47–53 CrossRef MEDLINE |
5. | Gornyk D, et al.: SARS-CoV-2 Seroprevalence in Germany. Dtsch Arztebl Int 2021; 118 (48): 824–31 VOLLTEXT |
6. | Chadeau-Hyam M, et al.: SARS-CoV-2 infection and vaccine effectiveness in England (REACT-1): a series of cross-sectional random community surveys. The Lancet Respiratory Medicine 2022; 10 (4): 355–66 CrossRef |
7. | Brauner JM, et al.: Inferring the effectiveness of government interventions against COVID-19. Science 2021; 371 (6531) CrossRef MEDLINE PubMed Central |
8. | Imperial College London: Real-time Assessment of Community Transmission (REACT) Study. 2022. |
9. | Royal Statistical Society. Covid ‚Lessons learned‘ memo – Ten statistical lessons the government can learn from the past year. 2022. |
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