MANAGEMENT
Rassismus in der Medizin: Eigene Perspektiven hinterfragen


Lange Zeit lag der Fokus in der medizinischen Diagnostik auf der Demografie einer männlichen weißen Bevölkerung. Auch wenn sich dies langsam ändert, sind Ärztinnen und Ärzte weiterhin stark gefordert, ihr Bewusstsein hinsichtlich der Diversität ihrer Patientinnen und Patienten zu schärfen und in ihrem Arbeitsalltag zu berücksichtigen.
Die Medizin löst sich nur langsam vom Bild des weißen männlichen Kranken mittleren Alters. Mit der Etablierung der Fachbereiche Pädiatrie, Geriatrie und Gendermedizin hat sie sich in der Vergangenheit den Unterschieden in der Diagnostik geöffnet. Aber auch ethnische Unterschiede und die folgenden Implikationen für den Behandlungsalltag spielen eine Rolle und finden in der Medizin noch zu wenig Beachtung. In den Gremien der medizinischen Versorgungseinrichtungen, Ärztekammern, im Gesundheitsministerium und bei der Weltgesundheitsorganisation kommt die Bedeutung dieses Teils der medizinischen Realität an und wird die Notwendigkeit einer kulturspezifischen und Diversität berücksichtigenden Medizin erkannt (Seite 758).
Dieses im medizinischen Alltag zu etablieren ist auch Aufgabe jeder einzelnen Ärztin und jedes einzelnen Arztes. Eigene Vorurteile und rassistische Bilder sind beim medizinischen Personal – angefangen mit dem Pflegepersonal bis hin zu Ärztinnen und Ärzten – kaum im Bewusstsein. In der Regel sind die meisten im medizinischen Bereich tätigen Personen empathisch, tolerant und den Patientinnen und Patienten zugewandt. Rassistische Denk und Verhaltensweisen sind den Verursachenden oft nicht bewusst, weil ihnen die nötigen Informationen und Fachkenntnisse fehlen.
Informationslücken schließen
Ein Grund hierfür ist sicher die mangelnde Aufmerksamkeit für kulturspezifische und ethnische Aspekte der Medizin. So beinhaltet auch der nationale kompetenzbasierte Lernzielkatalog für Medizin erst seit dem Ende der 90er-Jahre kulturelle Begriffe, transkulturelle Kenntnisse und die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Pathophysiologie in der medizinischen Lehrausbildung. Zwar gibt es Bemühungen, derartige Weiterbildungen anzubieten, doch reguläre Lehrbücher beinhalten diese Feinheiten der Diagnostik noch nicht. Angefangen mit der körperlichen Untersuchung über Laborbefunde, Physiologie und pathologische Werte ist vieles unbekannt. Für die Schaffung einer Sensibilität wäre es unter anderem notwendig, die Referenzwerte der Physiologie und Pathologie zu überdenken.
Ein Beispiel dafür, wie kultursensible Medizin aussehen kann, ist die Online-Plattform www.blackandbrownskin.co.uk aus Großbritannien. Initiiert hat sie der Medizinstudent Malone Mukwende. Wenn er wie andere Medizinstudierende auch versuchte, die Inhalte seiner Lehrbücher bei seinen Angehörigen zu erproben, scheiterte er – die Bücher bildeten nicht ab, was ihn in seinem Alltag umgab. Mit der Gründung seiner Plattform wollte er die Symptomatik von Krankheiten unter Berücksichtigung von Diversität und Vielfalt darstellen. So erkannte Mukwende unter anderem bei der Lyme Borreliose, dass auf weißer Haut eine Rötung und Ausschlag auftreten. Bei Betroffenen mit dunkler Pigmentierung werden diese Symptome oftmals nicht sofort registriert (mehr zum Thema Hautdiagnostik Seite 770).
Ein weiteres Beispiel für die fehlende Berücksichtigung von Diversität ist die Beschreibung von Blässe als Krankheitssymptom in Lehrmaterialien. Nicht erklärt wird dabei, was Blässe bei nicht weißer Haut bedeutet und woran sie erkannt wird. Und auch bei der Blutabnahme zeigen sich Wissens- und Lehrdefizite – so etwa im Fall des Famulanten, der die diensthabende Ärztin bittet, ihm bei der Blutabnahme eines dunkelhäutigen Patienten zu helfen. Sein übliches Vorgehen: Er staut das Blut und achtet auf das grüne Gebilde. Dabei lässt sich das durch den Blutstau entstehenden Gebilde nachtasten und nachfedern – die Farbe spielt hierbei eine untergeordnete Rolle.
Feinheiten der Diagnostik
All dies müssen keine Zeichen für Rassismus sein, sie können für fehlende Informationen stehen. Summieren sich aber Fehldiagnosen, so stellt sich die Frage, warum die Gruppe dunkelhäutiger Patientinnen und Patienten nicht berücksichtigt wird.
Mukwendes Plattform, aber auch Lehrbücher, die Diversität berücksichtigen, versuchen, Feinheiten in der Diagnostik entsprechend des ethnischen Backgrounds abzubilden. An der University of Sussex beispielsweise forscht die Soziologin Alexandra Levizi seit Jahrzehnten über Ungleichheit und Rassismus in Großbritannien. Unter anderem stellte sie fest, dass in vielen Bereichen Feinheiten in der Diagnostik sprachlich und kulturell oft zu kurz kommen. Im Bereich der Notfallmedizin kann eine derartige Unwissenheit zu lebensbedrohlichen Fehlentscheidungen führen – beim Erkennen eines Blutergusses, der richtigen Zuordnung der Lippenfarbe oder dem Finden eines Venenzugangs.
Das Wissen um die Subformen der Diskriminierung – etwa patriarchale Erziehung oder darwinistische Krankheitslehre – ist unerlässlich, um die subtilen Töne von Rassismus zu erkennen. Bereits die Lehren der Soziologie, Psychologie und Biologie aus dem vorherigen Jahrhundert, mit ihren Einteilungen in Stämme und Cluster, ist bis heute ein Nährboden für die Vernachlässigung und Diskriminierung im klinischen Alltag.
Um sich mit den Fragen nach Rassismus, rassistischen Strukturen und Handlungsmustern im medizinischen Sektor zu befassen, sollte jede und jeder zunächst das eigene Verhalten und die eigenen Perspektiven durchleuchten, nach eigenen inneren Vorurteilsbildern suchen und sich diese vergegenwärtigen. Sprache ist oft durch „wir“ und „ihr“ gekennzeichnet. Externalisierungen und die Suche nach Verantwortlichkeit im Außen ist ein Nährboden für Diskriminierung und Ausgrenzung. Kulturalisierungen, Fremdmachen oder Schuldzuweisungen begünstigen Stigmatisierung, Schuldgefühle, die Tendenz, sich zu verstecken und sie können dazu führen, dass Betroffene ihre Krankheiten vernachlässigen oder verdrängen. Nicht selten verheimlichen Menschen aus allen Schichten und Kulturen ihre Krankheiten aus Scham.
Personal schulen
Das Personal inhaltlich und fachlich transkulturell emanzipiert weiterzubilden und fortzubilden ist Mittel der Wahl, um dem entgegenzuwirken. Möglichkeiten hierfür bieten unter anderem die Ärztekammer Westfalen-Lippe mit einem Curriculum für transkulturelle Kompetenz sowie die Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf. Auch die Deutsche Gesellschaft für Positive und Transkulturelle Psychotherapie, das Institut für Transkulturelle Kompetenz sowie einige universitäre Einrichtungen machen Angebote zum Thema. Zudem gibt es mit Dr. med. Ernst Girth seit Ende der 90er-Jahre einen behördlich anerkannten Rassismusbeauftragten der Landesärztekammer Hessen und viele medizinische Einrichtungen bieten eigenständige Anlaufstellen für Betroffene. Diese stehen sowohl Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen als auch medizinischem Personal zur Verfügung.
Dr. med. Solmaz Golsabahi-Broclawski
Erkenntnisse aus der Forschung
Im Bereich der Pharmakologie und Pharmakokinetik sind Kenntnisse über die Enzymdifferenzen und Enzymkinetik abhängig von der geografischen Herkunft der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Ernährung entscheidend. Wie ein Medikament dosiert werden muss, hängt unter anderem von der enzymatischen Differenzierung ab.
Das Team um den Humangenetiker David Goldstein hat mehrfach das Zusammenspiel zwischen ethnischer Herkunft und Wirksamkeit von Medikamenten erforscht. So untersuchten sie beispielsweise die X-Chromosomen von 354 Probandinnen und Probanden aus acht Bevölkerungsgruppen: Südafrikanische Bantu, Oromo-sprechende Äthiopier, Armenier, Aschkenasische Juden, Norweger, Sichuan-Chinesen, Menschen aus Papua-Neuguinea und Afro-Kariben aus London. Ohne Kenntnis dieser ethnischen Einteilung ordneten sie das Erbgut der Personen vier genetischen Gruppen zu, je nach Häufigkeit verschiedener Genvarianten, die für Enzyme zur Verarbeitung von Medikamenten zuständig sind. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die üblichen ethnischen Kategorien („schwarz“, „weiß“, „asiatisch“) keine akkurate Beschreibungen der menschlichen genetischen Struktur bieten. Sie stellten unter anderem fest, dass 62 Prozent der schwarzen Äthiopier genetisch in die Gruppe der meisten Norweger, Juden und Armenier fallen. Auch 21 Prozent der Afrokariben passen in Sachen Medikamentenreaktion eher zur Gruppe der norwegischen, jüdischen und armenischen Teilnehmenden. Und die Teilnehmenden aus China und Papua-Neuguinea, die allgemein unter „Asiaten“ klassifiziert werden, fallen beinah komplett in unterschiedliche Erbgutgruppen.
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