MEDIZIN: Editorial
Spezialisierte ambulante Palliativversorgung – eine Zwischenbilanz
Specialized outpatient palliative care—an interim assessment


Der im Jahr 2007 eingeführte individuelle Leistungsanspruch auf eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) hat zum Ziel, die Selbstbestimmung und Lebensqualität von schwerstkranken Menschen am Lebensende zu stärken und auch bei besonders komplexen physischen und psychosozialen Problemen durch eine multiprofessionelle Kooperation gemeinsam mit den Primärversorgern eine häusliche Versorgung zu ermöglichen (1, 2). Die Einführung beruhte auf den in vielen Untersuchungen wiederholt hohen Raten von bis zu 95 % der Menschen in Deutschland, die sich ein Sterben in ihrem eigenen Zuhause und ihrem persönlichen Umfeld wünschen, was aber im Versorgungsalltag bei komplexen physischen und psychosozialen Problemen häufig nicht gelang (3).
Erfreulich hohe Versorgungsrate
Die Arbeit von Just et al. untersuchte nun am Bespiel Nordrhein-Westfalens, bei wie vielen Erkrankten, die in eine SAPV aufgenommen werden, dieses Ziel der Betreuung im häuslichen Umfeld bis zuletzt auch wirklich realisiert werden kann und welche Faktoren das Erreichen dieses Ziels beeinflussen können (4). In ihrer retrospektiven Datenauswertung von über 14 000 in die SAPV aufgenommenen Daten von Patientinnen und Patienten von 14 verschiedenen Dienstleistern zeigten sie, dass eine Versorgung im häuslichen Umfeld durch die SAPV bei einer erfreulich hohen Rate von 86 % der Menschen tatsächlich auch erreicht werden konnte (4). Zudem zeigten sie eine Linderung der Symptomlast der in der SAPV betreuten Patienten im Betreuungsverlauf auf (4) und konnten damit auch einen weiteren, klinisch hoch relevanten Qualitätsindikator für die SAPV nachweisen. Das Alter sowie Geschlecht der Erkrankten sowie die Inanspruchnahme der nächtlichen SAPV konnten als relevante Risikofaktoren definiert werden (4), die eine entsprechende intensivierte Beobachtung und Unterstützung von Erkrankten mit „Risikokonstellationen“ für ein erhöhtes Risiko, dass ein Versterben Zuhause trotzdem nicht erreicht wird, im Versorgungsalltag ermöglichen.
In Bezug auf den Anteil von etwa 15 % der Erkrankten, die trotz einer SAPV nicht bis zuletzt in ihrem eigenen häuslichen Umfeld betreut werden konnten, sollte aber betont werden, dass es sich hierbei nicht um ein „Versagen“ des Versorgungssystems handelt, sondern dass es im Verlauf schwerer fortschreitender Erkrankungen naturgemäß auch immer einen gewissen, zum Glück kleinen Anteil an derart aggressiven Verläufen gibt, dass auch die beste SAPV an ihre Grenzen kommen muss. Ebenso muss es auch legitim sein, dass in Einzelfällen Angehörige im Erleben des Sterbeprozesses erst begreifen, was es wirklich bedeutet, dies Zuhause mitzutragen, erst dann ihre eigene Überforderung erkennen und so ein Versorgungswechsel nötig wird. Besonders in diesen Fällen ist es im Hinblick auf langfristige Belastungen und Schuldgefühle der Angehörigen unbedingt zu vermeiden, von einem fehlenden Erfolg der SAPV zu sprechen, sondern den Fokus darauf zu lenken, wie viel wertvolle gemeinsame Zeit im häuslichen Umfeld trotzdem noch möglich geworden ist. Auch dies ist aus meiner Sicht ein wertvolles, aber oft in diesem Kontext aus dem Blick verlorenes Versorgungsziel der SAPV.
Reduktion aggressiver Interventionen
Ein weiteres wichtiges Versorgungsziel der SAPV ist außerdem auch die Reduktion von aggressiven Interventionen in den letzten Lebenstagen. Eine aktuelle Studie konnte hier zum Beispiel darstellen, dass in einer additiven SAPV ein Versterben im Krankenhaus, intensive Therapien und Krankenhausaufenthalte, Chemotherapien oder Sondenanlagen in den letzten Lebenstagen – sowohl bei onkologischen als auch nicht-onkologischen Patienten – signifikant geringer war als in der alleinigen Primärversorgung (5). Eine erfolgreiche SAPV umfasst aus Sicht der Betroffenen, also der Erkrankten und ihrer Angehörigen, neben einer guten Symptomkontrolle auch eine erlebte sichere Verfügbarkeit, eine Patienten-Zentrierung, insbesondere in Bezug auf Informationsweitergabe, strukturelles Funktionieren, zum Beispiel in der Zusammenarbeit aller beteiligten Versorger, die Einbindung der Angehörigen, ein Respektieren der Individualität und eine direkte Kommunikation, auch in Bezug auf das bevorstehende Versterben (6, 7).
Weiter muss die Arbeit von Just et al. offen lassen, wie groß der Anteil der Patienten mit einem Bedarf an einer SAPV im Untersuchungszeitraum war, die tatsächlich auch eine SAPV bekommen haben. Somit bleibt unklar, bei wie vielen Menschen zudem eine Versorgung im häuslichen Umfeld bis zum Versterben deshalb nicht möglich war, weil sie gar nicht erst einer SAPV zugeführt wurden.
Eine frühere Analyse aus der Vor-SAPV-Ära in Rheinland-Pfalz zeigte, dass zu diesem Zeitpunkt etwa 60 % der Patienten dort verstorben sind, wo sie es sich gewünscht hatten (3). Dies war umso wahrscheinlicher, wenn sie in einer städtischen Umgebung lebten und nichtberufstätige Angehörige hatten, mit denen sie zusammenlebten (3). Inwieweit sich dies durch die flächendeckende Etablierung von SAPV bis heute insgesamt verbessern ließ, ist für diese Region offen.
Weitere nationale Vereinheitlichung notwendig
Im Jahr 2011 beschrieb eine Studie für Westfalen einen palliativmedizinischen Versorgungsbedarf bei etwa 20 % aller Sterbenden, der bei gut der Hälfte dieser Menschen erfüllt wurde (8). Eine aktuelle Untersuchung zeigte 2016 die Durchführung einer Palliativversorgung bei deutschlandweit 33 % aller Verstorbenen aus der Kohorte einer gesetzlichen Krankenversicherung – allerdings mit großen nationalen Schwankungen (26 % Bremen, 41 % Bayern) (9). National unterschiedlich sind aber weiterhin die Finanzierungs- (9) sowie Strukturmodelle der Palliativversorgung (10), sodass die von Just et al. präsentierten Ergebnisse leider nicht vollständig auf alle Regionen Deutschlands übertragbar sind. Eine weitere nationale Vereinheitlichung der integrierten SAPV, ihrer Strukturen und Versorgungsziele bleibt daher eine relevante Aufgabe.
Interessenkonflikt
Prof. Oechsle erhielt Zuwendungen für Vorlesungen und Präsentationen von der Hamburger Krebsgesellschaft e. V. und der Deutschen Krebshilfe e. V.
Manuskriptdaten
eingereicht: 27.03.2022, revidierte Fassung angenommen: 05.04.2022
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Karin Oechsle
W3-Stiftungsprofessur für Palliativmedizin
mit Schwerpunkt Angehörigenforschung
Palliativmedizin, II. Medizinische Klinik,
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52, 20246 Hamburg
kaoechsl@uke.de
Zitierweise
Oechsle K: Specialized outpatient palliative care—an interim assessment. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 325–6. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0192
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
1. | Nauck F, Jansky M: Spezialisierte Ambulante Palliativ-Versorgung. Dtsch Med Wochenschr 2018; 143: 558–65 CrossRef MEDLINE |
2. | Erweiterte S3 –Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung , Kurzversion 2.3 – Februar 2021 AWMF-Registernummer: 128/001OL, AWMF Leitlinienprogramm Onkologie. |
3. | Escobar Pinzon LC, Claus M, Zepf KI, Letzel S, Fischbeck S, Weber M: Preference for place of death in Germany. J Palliat Med 2011; 14: 1097–103 CrossRefMEDLINE |
4. | Just J, Schmitz MT, Grabenhorst U, Joist T, Horn K, Weckbecker K: Specialized outpatient palliative care—clinical course and predictors for living at home until death. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 327–32 VOLLTEXT |
5. | Krause M, Ditscheid B, Lehmann T, et al.: Effectiveness of two types of palliative home care in cancer and non-cancer patients: a retrospective population-based study using claims data. Palliat Med 2021; 35: 1158–69 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
6. | Dillen K, Joshi M, Krumm N, et al.: Availability as key determinant in the palliative home care setting from the patients‘ and family caregivers‘ perspectives: a quantitative-qualitative-content analysis approach. Palliat Support Care 2021; 19: 570–9 CrossRef MEDLINE |
7. | Seipp H, Haasenritter J, Hach M, et al.: How can we ensure the success of specialised palliative home-care? A qualitative study (ELSAH) identifying key issues from the perspective of patients, relatives and health professionals. Palliat Med 2021; 35: 1844–55 CrossRef MEDLINE |
8. | Dasch B, Blum K, Bausewein C: Abschätzung des ambulanten palliativmedizinischen Versorgungsgrades regionaler palliativmedizinischer Konsiliardienste in Westfalen-Lippe. Gesundheitswesen 2017; 79: 1036–42 CrossRef MEDLINE |
9. | Ditscheid B, Krause M, Lehmann T, et al.: Palliativversorgung am Lebensende in Deutschland: Inanspruchnahme und regionale Verteilung. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2020; 63: 1502–10 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
10. | Nauck F, Alt-Epping B, Benze G: Palliativmedizin – Aktueller Stand in Klinik, Forschung und Lehre. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2015; 50: 36–46 CrossRef MEDLINE |
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Computational and Mathematical Methods in Medicine, 202210.1155/2022/1143662
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Public Health Forum, 202310.1515/pubhef-2022-0104