MEDIZIN: Kurzmitteilung
Suizide in Deutschland während der COVID-19-Pandemie
Eine Analyse auf der Grundlage von Daten zu elf Millionen Einwohnern 2017–2021
Suicides in Germany during the COVID-19 pandemic—an analysis based on data from 11 million inhabitants, 2017–2021
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Historisch ist bekannt, dass wirtschaftliche Krisen, Epidemien oder andere Bedrohungsszenarien die Suizidraten der betroffenen Populationen beeinflussen. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde daher eine Zunahme von Suiziden befürchtet. Eine Analyse internationaler Daten aus den ersten Monaten der Pandemie widerlegte diese Annahme jedoch weitgehend (1). Studien aus Deutschland, die bislang nur kleinere regionale Populationen untersuchten, fanden ebenfalls keine auffällig erhöhten Suizidraten, zuletzt Wollschläger et al. (2) in einer Analyse rheinland-pfälzischer Mortalitätsregister-Daten aus dem Jahr 2020 – mit lediglich geringen Abweichungen in der Altersgruppe der über 70-Jährigen.
Die vorliegende Arbeit beruht auf Suizidstatistiken aus drei deutschen Bundesländern mit insgesamt elf Millionen Einwohnern über einen Erhebungszeitraum bis einschließlich Dezember 2021. Ziel ist eine Aktualisierung und Erweiterung der vorgenannten Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung von Alter und Geschlecht.
Methode
Es wurden Daten zu Suizidtodesfällen der polizeilichen Kriminalstatistiken (PKS) von Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein im Zeitraum 01/2017 bis 12/2021, stratifiziert nach Geschlecht und Altersgruppen, herangezogen. Die Minimalanforderungen für einen Einschluss von PKS-Daten in die Studie waren
- monatlich ausgewiesene und kurzfristig verfügbare Daten
- Stratifizierung nach Altersgruppe und Geschlecht
- Abdeckung des Zeitraums von 01/2017 bis 12/2021
- keine Änderung der Erhebungsmethodik während des Untersuchungszeitraums.
Die beobachteten monatlichen Suizide wurden getrennt nach Geschlecht gegen eine Vorhersage mit 95-%-Vorhersageintervall aus den Datenjahren 2017–2019 aufgetragen (Negativ-Binomial-Regressionsmodell, adjustiert für linearen zeitlichen Trend und Kalendermonat [kategoriell]). Für den Zeitraum 2020–2021 wurden die erwarteten jährlichen Suizide anhand des ermittelten Trends der Vorjahre und fortgeschriebener Bevölkerungszahlen extrapoliert. Ergänzend wurden Suizidratenverhältnisse (gesamt, altersspezifisch) der Zeiträume 2020–2021 versus 2017–2019 mit unadjustiertem Negativ-Binomial-Regressionsmodell sowie altersschichtspezifische Anteile an der Suizidgesamtzahl (kompositionell nach „centered log ratio“-Transformation mit linearer Regression) berechnet (SAS 9.4).
Ergebnisse
Für Männer und Frauen lagen die beobachteten monatlichen Suizidanzahlen sowohl zu Beginn der COVID-19-Pandemie als auch danach vereinzelt außerhalb der monatlichen Vorhersage; die Gesamtzahl der beobachteten Suizide lag innerhalb der Vorhersage (Grafik 1).
Die Altersverteilung der Suizide und die Gesamtsuizidzahlen, getrennt nach Geschlecht und Jahr, sind in Grafik 2 dargestellt.
Bei den Männern sank die Anzahl der Gesamtsuizide im Zeitraum 2020/2021 im Vergleich zum Zeitraum 2017–2019 leicht ab, das Ratenverhältnis mit 95-%-Konfidenzintervall war jedoch nicht statistisch signifikant (0,96; 95-%-Konfidenzintervall: [0,65; 1,41]). Eine signifikante Reduktion ergab sich für die Altersschicht 81–90 Jahre (0,77 [0,62; 0,94]), ein signifikanter Anstieg für die Altersschichten ≥ 91 Jahre (1,20 [1,00; 1,44]). Diese Effekte zeigten sich auch in der kompositionellen Analyse; hier sank zusätzlich der Anteil der Suizide bei den 41- bis 50- sowie 71- bis 80-jährigen Männern wohingegen der Anteil der Suizide bei den 61- bis 70-Jährigen anstieg.
Bei den Frauen lag die Suizidanzahl 2021 höher als in den Vorjahren, aber das Ratenverhältnis 2021 zu 2017–2019 (1,13 [0,49; 2,59]) war ebenso wie die altersstratifizierten Ratenverhältnisse nicht statistisch signifikant. In der kompositionellen Betrachtung 2021 versus 2017–2019 ergaben sich allerdings signifikante Reduktionen bei Frauen ≤ 20 Jahre und im Alter von 51–60 Jahren, wohingegen der Anteil der Suizide 61- bis 70-jähriger und 81- bis 90-jähriger Frauen anstieg.
Diskussion
In der Gesamtstichprobe war für den Pandemiezeitraum bis einschließlich Dezember 2021 keine auffällig außerhalb des Vorhersageintervalls liegende Anzahl von Suiziden zu beobachten. Nach Alter und Geschlecht betrachtet zeigten sich in unterschiedlichen Altersgruppen absolute wie auch relative Zu- und Abnahmen der Suizidhäufigkeit, die jedoch kein übergeordnetes Muster erkennen ließen.
Insbesondere eine generelle Erhöhung der Anzahl der Suizide älterer Menschen im Vergleich zum vorpandemischen Zeitraum (zum Beispiel aus Vereinsamung aufgrund von Kontaktbeschränkungen) ließ sich nicht nachweisen. Bemerkenswert war jedoch der Anstieg bei über 90-jährigen Männern. Da die Merkmale männliches Geschlecht und hohes Lebensalter stark mit Suizid assoziiert sind, liegt bei dieser Gruppe ohnehin ein hohes Suizidrisiko vor.
In der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen zeigte sich in der untersuchten Stichprobe – analog zu Befunden aus Großbritannien (3) – ebenfalls keine erhöhte Suizidrate. Da in diesem Altersbereich vergleichsweise niedrige Suizidraten vorliegen, sind Änderungen wegen der weiten Konfidenzintervalle nur bei großen Abweichungen zu detektieren. Hinsichtlich Suizidalität von Kindern und Jugendlichen im Kontext der COVID-19-Pandemie zeichnet die existierende Literatur kein einheitliches Bild: Während sich bei US-amerikanischen Jugendlichen eine Zunahme von Suizidgedanken fand (4), zeigte sich beispielsweise in einer (nichtrepräsentativen) deutschen Stichprobe eine signifikante Abnahme berichteter Suizidpläne (5).
Die vorliegende Arbeit beruht auf einer Stichprobe mit langem intra-pandemischem Beobachtungszeitraum und Stratifizierung in vergleichsweise schmale Altersbänder. Zudem haben die verwendeten PKS-Daten den Vorteil, dass sie sehr aktuell und in ausreichender Detailtiefe zur Verfügung stehen. Limitierend ist, dass die PKS-Daten als vorläufig zu betrachten sind und für die vorliegende Studie nur für drei Bundesländer (etwa 13 % der bundesdeutschen Wohnbevölkerung) im erforderlichen Umfang verfügbar waren; hierdurch wurden kleiner dimensionierte Effekte möglicherweise nicht detektiert. Die Aussagekraft von PKS und Todesursachenstatistik hinsichtlich vollendeter Suizide ist insgesamt vergleichbar; es ist somit für die verwendeten PKS-Daten kein systematischer Unterschied zur Todesursachenstatistik anzunehmen.
Zusammenfassend zeigte sich kein Anstieg der Suizidraten in der untersuchten Population während der COVID-19-Pandemie. Mit Blick auf das Suizidrisiko einzelner Altersgruppen ergibt sich ein vielschichtiges Bild. Dies unterstreicht die Komplexität und Multikausalität suizidaler Phänomene. Ein fortgeführtes Monitoring der Suizidraten erscheint sinnvoll, da auch in den kommenden Monaten und Jahren noch mit Begleit- beziehungsweise Folgeerscheinungen der Pandemie zu rechnen ist.
Daniel Radeloff, Jon Genuneit, Christian J. Bachmann
Danksagung
Die Autoren danken dem Ersten Kriminalhauptkommissar Mario Richter vom Daten-, Analyse- und Auswerte-Center (DAAC) des Landeskriminalamtes Sachsen sehr herzlich für die engagierte und äußerst hilfreiche Unterstützung bei der Datenakquisition.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 10.02.2022, revidierte Fassung angenommen: 08.04.2022
Zitierweise
Radeloff D, Genuneit J, Bachmann CJ: Suicides in Germany during the COVID-19 pandemic—an analysis based on data from 11 million inhabitants, 2017–2021
Dtsch Arztebl Int 2022; 119: (online first). DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0198.
Dieser Beitrag erschien online am 05.05.2022 (online first) auf www.aerzteblatt.de.
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
daniel.radeloff@medizin.uni-leipzig.de
Pädiatrische Epidemiologie, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig (Genuneit)
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm (Bachmann)
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Medizinische Universität Wien (Bachmann)
1. | Pirkis J, John A, Shin S, et al.: Suicide trends in the early months of the COVID-19 pandemic: an interrupted time-series analysis of preliminary data from 21 countries. Lancet Psychiatry 2021; 8: 579–88 CrossRef MEDLINE |
2. | Wollschläger D, Schmidtmann I, Blettner M, et al.: Suicide during the COVID-19 pandemic in 2020 compared to 2011–2019 in Rhineland-Palatinate (Germany) and Emilia-Romagna (Italy). Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 814–5 VOLLTEXT |
3. | Odd D, Williams T, Appleby L, Gunnell D, Luyt K: Child suicide rates during the COVID-19 pandemic in England. J Affect Disord Rep 2021; 6: 100273 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
4. | Lantos JD, Yeh HW, Raza F, Connelly M, Goggin K, Sullivant SA: Suicide risk in adolescents during the COVID-19 pandemic. Pediatrics 2022; 149: e2021053486 CrossRef CrossRef |
5. | Koenig J, Kohls E, Moessner M, et al.: The impact of COVID-19 related lockdown measures on self-reported psychopathology and health-related quality of life in German adolescents. Eur Child Adolesc Psychiatry 2021; 1–10. doi: 10.1007/s00787–021–01843–1. Epub ahead of print CrossRef MEDLINE PubMed Central |
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European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience, 202310.1007/s00406-022-01486-6
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Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie, 202210.1055/a-1810-0898