POLITIK
Integration und Migration: Unverzichtbare Einwanderung


Der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund im Gesundheitswesen steigt kontinuierlich, ohne sie geht nichts mehr. Doch der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) kritisiert in seinem Jahresgutachten, dass es ihnen immer noch zu schwer gemacht wird.
Die deutsche Ärzteschaft wird immer diverser. Das geht aus dem aktuellen Jahresgutachten des SVR hervor. Einwanderung ist demnach ein entscheidendes Mittel, um den wachsenden Fachkräftemangel abzufedern.
„Ohne eingewanderte Fachkräfte auf allen Ebenen – das hat die Coronapandemie erneut gezeigt – steht das deutsche Gesundheitswesen vor dem Kollaps“, erklärte die SVR-Vorsitzende Prof. Dr. phil. Petra Bendel bei der Vorstellung des Gutachtens in Berlin. Dass der Beitrag von Menschen mit Migrationshintergrund unverzichtbar ist, macht schon ein Blick auf die Zahlen deutlich (Kasten): Fast ein Viertel aller Erwerbstätigen im Gesundheitswesen hat einen Migrationshintergrund.
Über alle Berufsgruppen zusammengenommen sind die wichtigsten Herkunftsländer Polen, die Türkei, Russland und Kasachstan. Ärztinnen und Ärzte stammen überdurchschnittlich häufig aus Osteuropa und dem Nahen und Mittleren Osten. Und die Tendenz ist stark steigend: Von 2010 bis 2020 ist die Zahl der ausländischen Ärzte in Deutschland auf etwa das Zweieinhalbfache gestiegen. Ebenfalls auf das Zweieinhalbfache ist die Zahl der jährlichen Anerkennungsverfahren ausländischer Abschlüsse gestiegen, nämlich von 6 000 im Jahr 2015 auf 15 000 im Jahr 2019.
Das deutsche Gesundheitswesen wäre also ohne eingewanderte Menschen und ihre Nachkommen in schweren Nöten. Und sie gleichen teilweise Defizite aus: „Ausländische Ärztinnen und Ärzte arbeiten häufiger als ihre Kolleginnen und Kollegen in Kliniken und in eher ländlichen Regionen“, schreibt der SVR.
Umso schwerer wiegen die Missstände, die die Migrationsforscher in ihrem Jahresgutachten herausgearbeitet haben. Wer innerhalb der EU migriert, hat es oft relativ einfach, denn die Gleichwertigkeit der Ausbildung wird bei bestimmten reglementierten Berufen – darunter Ärzte und Krankenpfleger – automatisch anerkannt. Anders sieht es für Gesundheitsfachkräfte aus, die aus dem Rest der Welt einwandern: Sie müssen ihre Qualifikation durch eine individuelle Gleichwertigkeitsprüfung belegen und bei wesentlichen Unterschieden zur Ausbildung des deutschen Referenzberufs sogenannte Ausgleichsmaßnahmen – also Lehrgänge samt Prüfungen – absolvieren.
Zu komplizierte Verfahren
Zwar seien angesichts des erheblichen Fachkräftemangels in den vergangenen Jahren die Möglichkeiten der Einwanderung für Fachkräfte deutlich erweitert worden, merkt der SVR an. Allerdings gebe es bei den Verfahren weiter großen Verbesserungsbedarf. Denn die meisten reglementierten Gesundheits- und Pflegeberufe werden zwar durch Bundesgesetze einheitlich geregelt. Für die Anerkennungsverfahren sind aber überwiegend die Bundesländer zuständig – mit der Folge, dass Anforderungen und Voraussetzungen uneinheitlich und speziell für Neuankömmlinge nur schwer zu durchschauen sind. Hinzu kämen die Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen untereinander.
Der SVR empfiehlt deshalb, die Verfahren effizienter und transparenter zu machen, indem die Prozesse vereinfacht, einheitlich gestaltet und die beteiligten Behörden stärker verzahnt werden. Das gelte nicht nur für die fachliche Anerkennung, sondern den gesamten Zuwanderungsprozess: Auch Konsulate im Ausland und Ausländerbehörden müssten besser einbezogen werden. „Zuwanderung muss als ein Gesamtprozess verstanden werden, bei dem die einzelnen Schritte wirksam ineinandergreifen“, fordert der SVR.
Das Gremium aus neun Professorinnen und Professoren schlägt deshalb vor, in einer zentralen Anerkennungsstelle pro Bundesland Kompetenzen zu bündeln und die Potenziale einer stärker digitalisierten Verwaltung auszuschöpfen. Eine arbeitsteilige Organisation zwischen den Ländern könne den Aufbau von Expertise in Bezug auf bestimmte Herkunftsländer oder Berufsgruppen erleichtern und Verfahren beschleunigen. Dazu gehöre auch, die Ausgleichsmaßnahmen zu vereinfachen: Der SVR empfiehlt, modularisierte Anpassungslehrgänge auszubauen und die verschiedenen Angebote innerhalb und zwischen den Bundesländern zu koordinieren.
Der aufgezeigte Verbesserungsbedarf fängt jedoch weit früher an: noch vor Studium oder Ausbildung. Der SVR empfiehlt, gezielter die Zuwanderung in die Ausbildung zu fördern, statt bereits ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland abzuwerben. Dann würden nicht nur die langwierigen Anerkennungsverfahren entfallen, sondern auch die inner- und außerbetriebliche Integration erheblich vereinfacht. Fachkräfte aus dem Ausland müssten nämlich erhebliche Anpassungs- und Transferleistungen erbringen, um ihr Wissen und ihre Erfahrungen auf das neue Arbeitsumfeld zu übertragen. Nicht nur die neue Sprache, auch Unterschiede im Arbeitsalltag und im beruflichen Selbstverständnis seien dabei Herausforderungen.
Neue Kollegen unterstützen
Wenn Unternehmen oder Gesundheitseinrichtungen Mitarbeitende aus dem Ausland rekrutieren, sollten sie ihnen deshalb schon aus eigenem Interesse zur Seite stehen, indem sie beispielsweise ein Integrationskonzept entwickeln und den neuen Kollegen feste Ansprechpersonen zur Seite stellen, rät der SVR. Auch für die berufsbezogene sprachliche Vorbereitung solle man die entsprechende Zeit einplanen.
Die gezielte Einwanderung noch vor der Ausbildung zu fördern, hat aber nicht nur einen praktischen Aspekt. „Wenn statt voll ausgebildeter Fachkräfte Auszubildende angeworben werden, vermeidet das zudem einen Braindrain aus den Herkunftsländern“, so der SVR.
Jener Braindrain sei ein Grund, warum es keine nachhaltige Strategie wäre, dem deutschen Fachkräftemangel nur mittels Zuwanderung Herr werden zu wollen. „Das ist eine Frage der Fairness gegenüber den Herkunftsländern“, sagte Ratsmitglied Steffen Mau bei der Vorstellung des Gutachtens. Als Beispiel nannte er Rumänien, wo Ärzte auf staatliche Kosten ausgebildet werden. 60 000 arbeiten demnach im Land – und 20 000 seien bereits emigriert. Und dabei ist Rumänien global gesehen noch ein relativ wohlhabendes Land.
Bei Gesundheitsfachkräften lasse sich außerdem häufig das Phänomen der sogenannten Stufenmigration von ärmeren in wohlhabendere Länder beobachten: Polnische Ärzte wandern nach Deutschland aus, deutsche Ärzte in die Schweiz. Fast die Hälfte der dortigen Ärzte wurde nicht in der Eidgenossenschaft geboren. Ausgerechnet jene Länder mit den schwierigsten sozioökonomischen Bedingungen sind deshalb die größten Verlierer, weil der Fachkräftemangel dort noch verstärkt wird und ohnehin knappe Ressourcen umsonst verbraucht werden: „Personen, die im Herkunftsland (und auf dessen Kosten) ausgebildet wurden, anschließend aber in einem anderen Land arbeiten, bedeuten für das Herkunftsland einen Verlust an Humankapital, zumal die Ausbildungskosten für medizinische Berufe recht hoch sind“, heißt es im Gutachten. Das reine Abschöpfen von Fachkräften sei deshalb wenig sinnvoll, erklärte Mau.
Um den Fachkräftemangel nachhaltig zu bekämpfen, müssten neben einer erleichterten Einwanderung also vor allem mehr Studienplätze geschaffen und ohnehin geforderte Maßnahmen umgesetzt werden: Die Arbeit im Gesundheitswesen müsse attraktiver, Arbeitsbedingungen und Bezahlung besser werden sowie das gesellschaftliche Ansehen steigen. Tobias Lau
Die wichtigsten Zahlen
Laut Mikrozensus 2019 haben 940 000 der 4,2 Millionen Erwerbstätigen im Gesundheitswesen eine eigene oder familiäre Einwanderungsgeschichte (22,5 Prozent). In der Ärzteschaft ist der Anteil überdurchschnittlich: Mit 27,3 Prozent hat mehr als ein Viertel einen Migrationshintergrund. 130 000 der 410 000 berufstätigen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sind entweder selbst eingewandert oder direkte Nachfahren von Einwanderern.
Zum Vergleich: Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatten im Jahr 2019 21,2 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, was 26 Prozent der Bevölkerung in deutschen Privathaushalten entspricht.
Teilweise sehr viel größer ist dafür in der Ärzteschaft der Ausländeranteil: 56 000 haben keine deutsche Staatsbürgerschaft, also 13,7 Prozent aller Ärztinnen und Ärzte. Demgegenüber steht ein Ausländeranteil von 12,6 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Hier zeigen sich jedoch enorme regionale Unterschiede: In Thüringen beispielsweise beträgt der Ausländeranteil in der Ärzteschaft 16,3 Prozent gegenüber 4,7 Prozent in der Gesamtbevölkerung; in Sachsen sind es 15 zu 5,2 Prozent. Ganz anders in Hamburg: Hier haben 16,8 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner keine deutsche Staatsbürgerschaft, aber nur 6,8 der Ärzte. In Berlin ist das Verhältnis 19,4 Prozent in der Bevölkerung zu 10,1 Prozent in der Ärzteschaft.
Wichtigstes Herkunftsland von Ärzten mit Migrationshintergrund ist Syrien mit 4 970 Ärzten – mehr als jeder hundertste Arzt in Deutschland hat also seine Wurzeln dort. 4 514 Ärzte haben Wurzeln in Rumänien, gefolgt von Griechenland mit 2 723, Russland mit 2 548 und Österreich mit 2 415.