POLITIK
KBV-Vertreterversammlung: Digitalisierung neu aufstellen
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Die akuten Baustellen der Telematikinfrastruktur müssten „schnellstmöglich“ behoben werden. Eine entsprechende Resolution beschloss die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung einstimmig. Zudem solle es eine grundsätzliche Neuausrichtung der Digitalstrategie geben.
Neben der akuten Problemlösung bezüglich der Telematikinfrastruktur (TI) muss bei der Weiterentwicklung der Digitalisierungsstrategie eine grundlegende Kurskorrektur vorgenommen werden. Das forderten die Delegierten der Vertreterversammlung (VV) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) im Vorfeld des Deutschen Ärztetages. Eine Vielzahl der Delegierten übte in diesem Zusammenhang scharfe Kritik an der gematik und dessen Geschäftsführer Dr. med. Markus Leyck Dieken. Neben den zahlreichen technischen Problemen in den Praxen sei auch der Umgang und die Kommunikation seitens der gematik „kaum zu ertragen“, sagte Dr. med. Pedro Schmelz, erster Vorsitzender des Vorstandes der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB). Man könne sich „nicht ständig um die TI statt Patienten kümmern“, betonte Dipl.-Psych. Barbara Lubisch, erste stellvertretende Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung. Frank Dastych, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KVH), deutete an, dass ein Personalwechsel an der Spitze der gematik ein positives und vertrauensbildendes Signal an Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten sein könne. Zum Thema gematik und Digitalisierung beschlossen die VV-Delegierten zwei Resolutionen (Kasten).
Viele Vorhaben gescheitert
Deren Inhalt hatte zuvor KBV-Vorstandsmitglied Dr. rer. soc. Thomas Kriedel skizziert. Er zog eine verheerende Bilanz der Digitalisierungspolitik von Bundesgesundheitsministerium (BMG) und gematik: „Es ist eine Katastrophe.“ Alle wichtigen Vorhaben seien bisher faktisch gescheitert, vom Notfalldaten- und Versichertenstammdaten-Management über den elektronischen Medikationsplan, den elektronischen Arztbrief bis zur elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Letztere würde zwar die Hälfte der Praxen nutzen, aber nur 13 Prozent von ihnen könnten das vollständig digital. Noch schlechter sehe es bei der elektronischen Patientenakte (ePA) aus. „Hier bewegen wir uns in mikroskopischen Sphären“, sagte Kriedel. Gerade einmal 0,6 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten verfügen über eine ePA. Und dann ist da noch das E-Rezept: Weniger als 250 Praxen würden die Anwendung bereits nutzen – und die gematik ihre positive Bilanz auf deren Rückmeldungen stützen. Für Kriedel ein unhaltbarer Zustand: „Das ist eine grob fahrlässige Quote, auf die man sich da stützt: 0,0019 Prozent, gemessen an der Gesamtzahl der Praxen!“, betonte er. Die gematik berufe sich auf diesen winzigen Ausschnitt, wenn sie betont, dass das E-Rezept problemlos funktioniere. Die rund 20 000 E-Rezepte, die bisher verarbeitet wurden, würden auch deshalb nichts über die Praxisreife aussagen. Die bundesweit verpflichtende Einführung komme erst dann infrage, wenn das E-Rezept in freiwillig testenden KV-Regionen nachweislich vollständig funktioniert. Analyse und Kritik der KBV würden gematik und BMG allerdings als Verweigerung auffassen. Das gesetzte Einführungsdatum wiege offenbar schwerer als die Frage der Funktionsfähigkeit, sagte Kriedel.
Kostenfrage ungeklärt
Die Praxen hätten dabei das Nachsehen: Im Schnitt hätten sie bisher 9 000 Euro draufgezahlt, die ihnen nicht erstattet wurden – und der nächste große Posten steht bereits an: Ab dem Herbst müssen Hunderttausende Konnektoren ausgetauscht werden und die KBV streitet sich immer noch mit den Kassen um die Erstattung. „Dabei muss auch mal die Frage erlaubt sein, warum wir mit dem GKV-Spitzenverband überhaupt darüber verhandeln müssen, wie viele Euro die Kassen bereit sind, den Praxen für den Konnektortausch zuzugestehen?!“, fragte Kriedel. „Die Erstattung müsste eine Selbstverständlichkeit sein. Leider sehen die Kassen das anders; die Verhandlungen sind gescheitert. Deshalb haben wir in der vergangenen Woche das Schiedsamt angerufen. So ist die Rechtslage. Noch.“ In der Summe hätten BMG und gematik kaum ein Versprechen gehalten. Auch Kriedel stellte indirekt die Personalfrage: Der berüchtigte Pannenflughafen BER habe erst eröffnet werden können, nachdem das Projekt politisch, strategisch und personell neu aufgestellt wurde.
Zu einem weiteren Themenbereich bezog Dr. med. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, Stellung. Die als Folge des völkerrechtswidrigen Krieges gegen die Ukraine jetzt stark ansteigenden Kosten und der hohe Inflationsdruck würden die Praxen akut bedrohen. Man werde deshalb in den diesjährigen Verhandlungen zum Orientierungswert mit den bisherigen Mechanismen „nicht klarkommen“. Für dieses Jahr müsse eine „Sonderlösung“ gefunden werden. Erste Gespräche zu diesem Thema liefen bereits. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe zugesagt, dass er für finanzielle Sicherheit der Praxen sorgen wolle. Das sei „ein gutes und wichtiges Signal“, so Gassen. Da trotz der schwierigen finanziellen Lage der Krankenkassen politisch keine exorbitante Beitragserhöhung erwünscht sei, müssten grundsätzlich die vorhandenen Ressourcen effizienter eingesetzt werden. Hier könne eine konsequente Ambulantisierung eine wichtige Rolle spielen. „Leider ist dieses Thema, ebenso wie die sektorenübergreifende Versorgung, derzeit nicht auf der Prioritätenliste des BMG beziehungsweise der Bundesregierung“, sagte der KBV-Vorstandsvorsitzende. Umso wichtiger sei, dass die Vertragsärzteschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst „Pflöcke einramme“. Diese Gelegenheit biete sich derzeit beim Gesetzesauftrag zur Reform des ambulanten Operierens (AOP). Es könne nicht sein, dass Eingriffe in der ambulanten Versorgung zum Teil nur einen Bruchteil der Vergütung erlösen, die Krankenhäuser über das diagnosebezogene Fallpauschalensystem (DRG) erzielten. Darum gehe es in den Beratungen mit dem GKV-Spitzenverband und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) auch um eine neue Honorierung für Eingriffe, die bereits ambulant stattfinden. Diese Leistungen seien deutlich unterfinanziert – speziell die Hygienekosten seien „davongaloppiert“. Hier müsse unbedingt nachgebessert werden, damit das ambulante Operieren grundsätzlich eine Chance hat. Der KBV-Plan sehe vor, die innerärztlichen Beratungen über die Neubewertung ambulanter Operationen bald abzuschließen. Die Prüfung des IGES-Gutachtens, insbesondere des vorgeschlagenen Leistungsspektrums mit Ambulantisierungspotenzial, laufe derzeit in enger Abstimmung mit den Berufsverbänden.
Bis Juli will die KBV mit dem GKV-Spitzenverband und der DKG eine erste Erweiterung des AOP-Katalogs vereinbaren. Gleichzeitig soll bis dahin ein Eckpunktepapier für die Anpassung der Vergütung der AOP-Leistungen festgelegt werden. Die konkrete Umsetzung, unter anderem inklusive der im Gesetz vorgesehenen Schweregrade, solle laut Gassen bis Ende des Jahres erfolgen, um Leistungen des angepassten AOP-Katalogs ab dem 1. Januar 2023 abrechnen zu können. Bei den zweiseitigen Beratungen mit dem GKV-Spitzenverband gebe es Signale, dass die Kassenseite bereit sein könnte, die geforderte Punktsummen- und Ausgabenneutralität – insbesondere im Hinblick auf Hygieneaufwände und bestimmte Operationsverfahren – aufzuheben, so der KBV-Chef.
Auch Grippeimpfungen in Apotheken waren erneut ein Thema. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KBV, Dr. med. Stephan Hofmeister, setzte sich dafür ein, die Befugnis dazu in den vertragsärztlichen Praxen zu halten. Die Führung der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) rühre schon länger kräftig die Werbetrommel für das Impfen in Apotheken und behaupte dabei immer wieder, dies wäre der Schlüssel, um die Impfquoten deutlich zu steigern. „Tatsächlich scheint diese PR-Masche jetzt verfangen zu haben“, erklärte Hofmeister. Dass der Bundestag beschlossen habe, dass Apotheken ab dem Herbst grundsätzlich und bundesweit Grippeschutzimpfungen durchführen dürfen, sei eine unnütze Reform, die mehr spalte als dass sie einen Mehrwert in der Versorgung bieten würde.
Die Zahlen aus den Modellregionen, in denen Apotheken bereits Grippeimpfungen anbieten, würden das belegen: In der Testregion Nordrhein hätten sich in den vergangenen zwei Jahren nur 1 800 Menschen in Apotheken impfen lassen. In den Vertragsarztpraxen derselben Region seien es allein im zweiten Halbjahr 2021 rund 1,4 Millionen Menschen gewesen. Auch laufe das „niedrigschwellige Angebot“ für Menschen ohne Hausarzt oder Zeit, in die Praxis zu kommen, ins Leere: Die Ständige Impfkommission (STIKO) gebe die klare Empfehlung, dass in erster Linie Personen ab 60 Jahren, Schwangere und Personen mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung eine Grippeimpfung erhalten sollen. „Gerade diese Menschen sind doch aber ohnehin in ärztlicher Behandlung und gerade für diese bedarf es einer Indikationsstellung durch einen Arzt“, betonte Hofmeister.
Dispensierrecht überdenken
Er wisse nicht, ob den Apothekern klar sei, „welches Ei ihnen hier ins Nest gelegt wurde“, sagte Hofmeister. Auch berufspolitisch sei es „mehr als fragwürdig, offensiv Aufgaben einer befreundeten Profession zu übernehmen“. Im Gegensatz zum Impfen in der Apotheke würde ein Arzneimitteldispensierrecht im ärztlichen Not- und Bereitschaftsdienst eine versorgungsrelevante Verbesserung darstellen. „Wir fragen uns, ob die ABDA-Führung ihre strategische Position wirklich zu Ende gedacht hat und plädieren dringend dafür, wieder den Schulterschluss zwischen den selbstständigen Arztpraxen und Apotheken zu suchen.“
Neben der Apothekerschaft kritisierte Hofmeister auch den GKV-Spitzenverband für sein „Foulspiel“ gegenüber der KBV. Im Frühjahr 2021 hatten die Kassen die gemeinsam vereinbarten Rahmenvorgaben für die Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlich verordneter Leistungen aufgekündigt. Nach dem Scheitern der Neuverhandlungen Ende 2021 habe am 10. Mai die mündliche Verhandlung vor dem Bundesschiedsamt stattgefunden. Zwar liege die schriftliche Fassung des Schiedsspruchs noch nicht vor. „Es zeichnet sich allerdings ab, dass eine undankbare Aufgabe auf Sie als KVen zukommt, indem die Auslegung zur Anwendung der Differenzschadensmethode bei Regressforderungen der Krankenkassen auf die regionale Verhandlungsebene verlagert wird“, kündigte Hofmeister an. Der KBV sei aber bezüglich der Einführung von Bagatellgrenzen bei Einzelfallprüfungen eine Verbesserung gegenüber der aktuellen Situation gelungen: Die Vereinbarung einer solchen Grenze sei für die regionalen Vertragspartner nun verpflichtend und müsse in angemessener Höhe erfolgen. Außerdem habe die KBV eine Verbesserung der Berücksichtigung von rabattierten Arzneimitteln bei regional vereinbarten Verordnungsquoten erreichen können. Auch wenn es teils gut für die KBV ausgegangen sei, stelle das einseitige Aufkündigen des Kompromisses die Zuverlässigkeit des Partners GKV infrage. „Der GKV-Spitzenverband hat damit erreicht, dass wir uns künftig auch bei anderen Verhandlungsthemen unweigerlich fragen werden, ob seine Zusagen wirklich verlässlich sind“, erklärte Hofmeister.
Zukunftsfähiges KV-System
Grundsätzlich, hatte Gassen zuvor erklärt, müsse man der Politik klarmachen, dass es in Deutschland nicht nur Krise geben dürfe. Das deutsche Gesundheitssystem müsse von Bundestag, Bundesländern, BMG und Selbstverwaltung erhalten und fit für die Zukunft gemacht werden. Die niedergelassene Ärzteschaft stehe für einen innovativen Zukunftskurs. „Wir können nicht nur Krise, wir können vor allem Normalität und wir können natürlich auch Zukunft“, betonte der KBV-Chef. André Haserück, Tobias Lau
Resolutionen zur Digitalisierung
Ein Schnellprogramm zur kurzfristigen Problemlösung müsse ein verbindliches Testkonzept für sämtliche Komponenten und Anwendungen der Telematikinfrastruktur (TI) enthalten, so die Delegierten in einer einstimmig beschlossenen Resolution. Sie sprachen sich zudem für einen Herstellergipfel im Bundesgesundheitsministerium (BMG) aus, in dessen Rahmen sich insbesondere die Anbieter der Dienste und Anwendungen auf eine reibungslose Implementierung der Anwendungen verpflichten sollen. Das tagesaktuelle Onlinereporting der gematik müsse um den Aspekt der TI-Fähigkeit sämtlicher Praxisverwaltungssysteme im Hinblick auf die einzelnen Anwendungen erweitert werden. Dieses solle als Grundlage für alle weiteren Entscheidungen dienen. Gefordert wird zusätzlich eine zentrale Infohotline der gematik. Die Hotline müsse in der Lage sein, schnell und konkret festzustellen, wo Problemursachen liegen und unmittelbar helfen. Die Praxen bräuchten außerdem einen „reibungslos für sie organisierten und vollumfänglich finanzierten Austausch der Konnektoren“, so heißt es in der Resolution. Ebenso notwendig sei mehr Unterstützung, um die neuen Anwendungen in den Praxisalltag zu integrieren. Daher bedürfe es zweier Informationskampagnen – einmal seitens der Hersteller mit CME-Punkten für die Praxen und einmal seitens der Krankenkassen zur Aufklärung ihrer Versicherten. Über diese Punkte eines ersten Schnellprogrammes hinausgehend, forderten die Delegierten grundlegende Kurskorrekturen durch das BMG bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Konsequenterweise müssten verbindliche Zulassungs- und Zertifizierungsregelungen entwickelt werden, nach denen die gematik ihre klar definierte Verantwortung und Aufgabe wahrnimmt – zwingend erforderlich sei zudem ein vernünftiger und realistischer Zeitplan zur Umsetzung der TI 2.0. In einer weiteren Resolution zur Digitalisierung betonen die KBV-Delegierten, die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten würden sich klar zu einer bedarfsorientierten Digitalisierung bekennen. Eine solche Digitalisierung müsse aber die Versorgung der Patienten und die Arbeitsabläufe in den Praxen verbessern sowie der Entbürokratisierung dienen. Die gematik müsse in ihren Entscheidungen die Interessen ihrer Gesellschafter berücksichtigen und dürfe sie nicht übergehen. Beispielsweise sollten Modellregionen nur in freiwilliger Vereinbarung mit den Regionen selbst festgelegt werden können. Auch solle es bei Feldversuchen einen flächendeckenden Support seitens der gematik sowie Anreize für eine möglichst flächendeckende Teilnahme von Arztpraxen geben. Der KBV-Vorstand solle sich gegebenenfalls aus den Prozessen der gematik zurückziehen, wenn die genannten Eckpunkte sich in der Gesellschafterversammlung nicht durchsetzen lassen, so die Delegierten der KBV-Vertreterversammlung.
Die Resolutionen:
http://daebl.de/EZ76
http://daebl.de/KC37