DEUTSCHER ÄRZTETAG
Ärztliches Personal: Endlich echten Bedarf ermitteln
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Der Ärztemangel wird auch durch schlechte Arbeitsbedingungen verstärkt – und die wiederum durch mangelhafte Personalplanung. Die Bundesärztekammer hat nun ein neues Kalkulationstool vorgestellt, mit dem der tatsächlich anfallende Leistungsbedarf errechnet werden kann.
Die Bundesärztekammer (BÄK) will mit einer neuen Anwendung zur Berechnung des ärztlichen Leistungsbedarfs nicht weniger als einen Paradigmenwechsel im stationären Sektor einleiten, erklärte Dr. med. Susanne Johna, Mitglied im Vorstand der BÄK, bei der Vorstellung der Anwendung auf dem 126. Deutschen Ärztetag in Bremen. Nicht mehr der Erlös soll den Bedarf bestimmen, sondern der Bedarf soll durch die anfallenden Aufgaben bestimmt werden. „Kein heute verfügbares Instrument zur Personalbemessung bildet die Vielschichtigkeit der Arbeitssituation von Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus ab“, sagte sie. Das Tool solle die Basis für verbindliche Personalvorgaben darstellen, mit denen dem zunehmenden Ärztemangel entgegengewirkt werden könne.
Die Delegierten des Ärztetags sprachen sich dafür aus, die vorgestellte Anwendung weiterzuentwickeln und den Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung zu stellen. Es soll sämtliche Leistungen einbeziehen, die Klinikärztinnen und -ärzte in ihrem Alltag erbringen: von Tätigkeiten in der direkten und indirekten Patientenversorgung bis zu Aufgaben in Qualitätssicherung, Arbeitsschutz, Fort- und Weiterbildung oder Administration.
Den einzelnen Tätigkeiten sind dabei Zeitwerte zugeordnet, mit denen der Gesamtbedarf ärztlicher Leistungen in einer Abteilung bestimmt werden kann sowie die Zahl der Vollzeitstellen, die für die entsprechende Arbeit benötigt werden. Grundlage für die von der BÄK-Arbeitsgemeinschaft (AG) „Personalvorgaben für Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus“ entwickelte Anwendung ist ein 2006 vom Berufsverband Deutscher Anästhesisten und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin veröffentlichtes und seitdem mehrfach überarbeitetes Excel-Kalkulations-Instrument zur Berechnung des Personalbedarfs auf Intensivstationen.
Insgesamt 36 Fachverbände seien einbezogen worden, erklärte Johna: Per Anfrage eruierte die AG deren Aktivitäten sowie weitere ärztliche Aufgaben und Patientengruppen mit erhöhtem Personalbedarf. Im Rahmen eines Workshops erstellte sie dann eine Liste von 23 Patientengruppen mit erhöhtem Bedarf, darunter Patienten im Kindesalter, Patienten mit kognitiven Einschränkungen, Suchterkrankungen, Sprachbarrieren, Betreuungsbedarf oder auch mit psychomotorischer Retardierung.
Demgegenüber stand die Darstellung von 101 ärztlichen Aufgaben und Pflichten außerhalb der Patientenversorgung. „Dass es viele werden würden, war uns klar – aber nicht, dass es so viele werden“, sagte Johna. Für jede dieser Aufgaben und Pflichten wurden dann konkrete Tätigkeiten, regulative oder gesetzliche Grundlagen, Tätigkeitsinhalte und Voraussetzungen definiert und mit dem zugehörigen Zeitaufwand versehen.
Prof. Dr. med. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, betonte, dass das Instrument so flexibel sei, dass jedes Krankenhaus es nutzen und mit ihm darstellen könne, wie viel ärztliche Vollzeitkräfte benötigt würden, um die im eigenen Krankenhaus anfallende Arbeit durchführen zu können. Das Tool werde dabei über Hilfstabellen, Kalkulationstabellen und Checklisten gegliedert, mit denen eine Gesamtkalkulation vorgenommen werden könne. „Es ist ein komplexes Tool“, betonte er. „Wir leben aber auch in einer komplexen Welt.“ Das Ziel sei es, mit diesem Tool die Komplexität beherrschbar zu machen. Gleichzeitig handele es sich aber um „kein starres, sondern ein flexibles und damit auch lernendes digitales System“. Die Arbeit mit Anzeigefeldern, Datenfeldern, Summenfeldern sowie Feldern für die Eingabe der jeweils hausinternen Kennzahlen soll eine integrierte Gesamtkalkulation der benötigten Vollzeitkräfte auf Basis qualitativ verbindlicher Kriterien und Parametrierung ermöglichen.
Roll-out ab Mai 2023 geplant
Das Kalkulationsinstrument werde nun weiter erprobt. Bis es zum Einsatz kommt, werde es noch Jahre dauern. „Aber wir fangen jetzt an“, sagte Herrmann. „Denn wir müssen bei diesem Thema in Vorleistung gehen.“ Nach einem Pretest könnte die erste Stufe des Roll-outs dann im Mai 2023 beginnen. Zur Einbindung brauche es aber politische Begleitung von Fachgesellschaften und Berufsverbänden. Auch Fragen wie nach dem Copyright würden noch eine Rolle spielen, kündigte Herrmann an: „Das wird keine Open-Source-Lösung, sondern wir wollen es in unserer Hand behalten. Das ist uns ganz wichtig.“
Unter den Delegierten traf das Tool auf große Zustimmung. „Das ist brillant“, sagte Eleonore Zergiebel aus Nordrhein. Sie verglich es mit der aktuell verwendeten Darstellung des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), dessen Zahlen auf der Basis der Ist-Situation in den Kalkulationskrankenhäusern errechnet werden, die aber nicht den eigentlichen Bedarf abbilden. „Seit fast 20 Jahren wird das Personal im Krankenhaus auf diese Weise kalkuliert“, sagte sie. „Das ist eine Katastrophe.“ Sie beschrieb die Situation, in der heute den Chefärztinnen und -ärzten in Monatsbesprechungen die Case-Mix-Punkte pro Vollzeitkraft von der Krankenhausgeschäftsführung vorgerechnet würden. „Das ist eine entwürdigende Situation“, betonte Zergiebel. Mit dem neuen Instrument könne vielleicht die Ermittlung der Personalproduktivität anhand von Case-Mix-Punkten abgeschafft werden.
Diese Analyse sei wertvoll, gerade bei der Untätigkeit der Politik, meinte Dr. med. Wolf Andreas Fach aus Hessen. „Es ist wichtig, dass wir eigene Zahlen haben, mit denen wir argumentieren können. Wir müssen das ganz offensiv vertreten“, forderte er. Dr. med. Lars Bodammer, ebenfalls aus Hessen, sagte: „Ich wünsche mir, dass dieses Tool zur Voraussetzung für die Krankenhausversorgung wird. Und ich wünsche mir, dass junge Ärztinnen und Ärzte dieses Tool am Beginn ihres Berufslebens kennenlernen“ – damit sie sich von Anfang an nicht an den Vorgaben eines Erlössystems orientieren, sondern an den tatsächlich bestehenden Arbeitsabläufen. Dr. med. Oliver Funken aus Nordrhein meinte: „Diese Vorgaben sind überfällig. Wir Ärzte müssen aufstehen, uns neu organisieren und der Krankenhausverwaltung entgegentreten.“
Tatsächlicher Personalbedarf
„Das wird sich zu einem Meilenstein entwickeln“, meinte Dr. med. Joachim Dehnst aus Westfalen-Lippe. Seit Jahrzehnten müssten sich die Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus mit Beratungsfirmen herumquälen, die bei ihren Analysen oft Vergleichsgrößen zum Personalbedarf heranzögen, die nur schwer nachvollziehbar seien. Künftig könne die Ärzteschaft gegenüber der Verwaltung mit eigenen Zahlen den tatsächlichen Personalbedarf darstellen. „Auf diese Weise könnten wir es schaffen, dass das Tool zur Leitwährung wird“, sagte er.
Auch darüber, ob der Einsatz des Kalkulationstools ebenfalls im ambulanten Bereich geprüft werden solle, diskutierten die Delegierten. Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen der beiden Systeme sprachen sie sich jedoch dagegen aus. Tobias Lau, Falk Osterloh
Fazit
TOP II Ärztlicher Versorgungsbedarf in einer Gesellschaft des langen Lebens
- Die Bundesärztekammer hat ein Kalkulationstool zur Berechnung des tatsächlichen ärztlichen Leistungsbedarfs vorgestellt.
- Das Instrument ist so flexibel, dass es Ärztinnen und Ärzte jedes Krankenhauses nutzen und mit ihm darstellen können, wie viel ärztliche Vollzeitkräfte benötigt werden, um die im eigenen Krankenhaus anfallende Arbeit durchführen zu können.
Die Entschließungen zu TOP 2 im Internet: www.aerzteblatt.de/2022top2
Das gesamte Beschlussprotokoll im Internet: http://daebl.de/PH44
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.am Dienstag, 7. Juni 2022, 13:50
Wichtiges Tool, die praktische Umsetzung wird spannend!
Interessant wird die praktische Frage werden, wie die Erkenntnisse aus einer korrekten Anwendung dieses Kalkulationstools in die betriebliche Weiterentwicklung der Kliniken und des Vergütungssystems einfließen werden. Befinden sich die Soll-Zahlen gegenüber den IST-Zahlen in der „gelben“ oder sogar „roten“ Zone, und wird dieses für die Entscheidungsverantwortlichen im Krankenhaus transparent, werden sich mindestens ärztliche Führungskräfte und kaufmännische Unternehmensleitung darüber einig werden müssen, wie mit diesen Informationen umzugehen sein wird. Damit kann dieses neue Tool ein wichtiger Bestandteil von neuen Medical Corporate Governance-Konzepten werden.
Es gilt zu vermeiden, dass dieses begrüßenswerte neue Tool ungewollt zum unternehmerisch-betriebswirtschaftlichen Todesstoß für diejenigen Versorgungseinrichtungen wird, welche mittelfristig nicht in der Lage sein werden, die SOLL-IST-Lücke bezüglich der ärztlichen Berufsgruppe in Ihrer Klinik zu schließen. Eine argumentativ gestärkte Ärzteschaft sollte sich hier zukünftig intensiv einbringen.
Dr. sc.med. Thomas Kapitza, Medicine & Economics Ethics Lab, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich