MEDIZIN: Übersichtsarbeit
Polymyalgia rheumatica
Geschlechtsspezifische Epidemiologie, diagnostisch-therapeutisches Vorgehen und ärztliche Versorgung
Polymyalgia rheumatica—sex-specific epidemiology, diagnostic and therapeutic approach, and medical care
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Hintergrund: Die Polymyalgia rheumatica (PMR) ist eine der häufigsten entzündlich-rheumatischen Erkrankungen bei älteren Menschen. Als Risikofaktoren werden weibliches Geschlecht, vorangegangene Infektionen und genetische Faktoren vermutet. Aus Deutschland liegen bisher keine epidemiologischen Daten zur PMR vor.
Methode: Es erfolgte eine selektive Literaturrecherche in PubMed. Die administrative Inzidenz und Prävalenz der PMR wurde anhand der Daten von Versicherten im Alter ≥ 40 Jahre der AOK Baden-Württemberg für den Zeitraum 2011–2019 bestimmt. Darüber hinaus wurden die an der Diagnosestellung beteiligten fachärztlichen Kontakte quantifiziert.
Ergebnisse: Die jährliche alters- und geschlechtsstandardisierte Inzidenz und Prävalenz der PMR lag zwischen 2011 und 2019 bei 18,6/100 000 beziehungsweise 138,8/100 000 Personen. Frauen erkrankten im Vergleich zu Männern häufiger an einer PMR (21,8/100 000 versus 12,8/100 000). 60 % der Fälle wurden in hausärztlichen Praxen diagnostiziert. Die PMR kann in den meisten Fällen mit oral verabreichten Glukokortikoiden bei einem Therapieansprechen innerhalb weniger Tage bis Wochen behandelt werden. Bei circa 43 % der Betroffenen kommt es innerhalb eines Jahres zu einem Rezidiv, was Anpassungen der Glukokortikoiddosis erforderlich macht. Bei älteren Patientinnen und Patienten mit Einschränkungen der körperlichen Funktionsfähigkeit spielt die ergänzende nichtmedikamentöse Therapie mit Bewegungsprogrammen eine wichtige Rolle.
Schlussfolgerung: Die meist unkomplizierten Verläufe einer PMR werden größtenteils im hausärztlichen Bereich versorgt, sie erfordern jedoch eine engmaschige Betreuung der häufig multimorbiden Patientinnen und Patienten. Neben der Forschung zur Ätiologie sind weitere Studien notwendig, um Risikofaktoren für chronische Verläufe zu identifizieren und um mögliche Effekte nichtmedikamentöser Maßnahmen auf den Krankheitsverlauf zu evaluieren.


Die Polymyalgia rheumatica (PMR) ist nach der rheumatoiden Arthritis (RA) die zweithäufigste entzündlich-rheumatische Erkrankung und tritt fast ausschließlich bei älteren Menschen auf (1, 2). Frauen sind von einer PMR 2- bis 3-fach häufiger betroffen als Männer (2, 3, 4). Die PMR-Inzidenz steigt bei beiden Geschlechtern bis zu einem Alter von 80 Jahren an, wobei der Altersgipfel zwischen dem 70. und 79. Lebensjahr liegt (2, 4, 5). Es ist zu erwarten, dass die Inzidenz der PMR angesichts der alternden Bevölkerung in den kommenden Jahren zunehmen wird (6).
Ziel dieses Artikels ist es, vor dem Hintergrund der Häufigkeit und Relevanz der PMR in der hausärztlichen Praxis, den aktuellen Stand zur Epidemiologie, Ätiologie, Diagnostik und Therapie darzustellen. Darüber hinaus werden erstmalig Daten zur geschlechtsspezifischen Inzidenz, Prävalenz und initial versorgenden Facharztgruppen aus einem deutschen Kollektiv präsentiert.
Methoden
Für den vorliegenden Artikel wurde eine selektive Literaturrecherche in PubMed durchgeführt. Zusätzlich wurden Daten der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Baden-Württemberg ausgewertet und die alters- und geschlechts-standardisierte administrative Inzidenz und Prävalenz der PMR für den Zeitraum 2011–2019 berechnet. Hierfür wurden die ICD-10-Codes M35.3 (PMR) und M31.5 (Riesenzellarteriitis [RZA] bei PMR) aus der ambulanten und stationären Versorgung herangezogen. Als Standardpopulation dienten die Versicherten im Alter ≥ 40 Jahre der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Deutschland bezogen auf das Jahr 2019 (7). Detaillierte Informationen zur selektiven Literaturrecherche und zum methodischen Vorgehen sind dem eMethodenteil zu entnehmen.
Epidemiologie
Inzidenz
Im Zeitraum 2011–2019 erkrankten 24 194 Versicherte der Altersgruppe ≥ 40 Jahre der AOK Baden-Württemberg an einer PMR. Die altersstandardisierte jährliche Inzidenz der PMR lag im Mittel bei 17,7/100 000 Versicherten im Alter ≥ 40 Jahre (eTabelle). Abgesehen von einem leichten Anstieg im Jahr 2014 zeigten sich im Beobachtungszeitraum nur geringe Schwankungen der PMR-Inzidenz.
Die Inzidenz der PMR unterscheidet sich je nach Herkunft der Studienpopulation deutlich, wie Vergleiche mit Daten aus anderen Ländern belegen. Personen mit nordeuropäischer Herkunft sind von der Erkrankung häufiger betroffen (1, 8) als Menschen, die aus Südeuropa stammen (5, 6, 9). Die jährlichen Inzidenzraten der PMR lagen in Südeuropa bei über 50-Jährigen laut einer Übersichtsarbeit bei 12,7–18,7/100 000 Einwohnerinnen/Einwohnern (5). Eine US-amerikanische Kohortenstudie fand hingegen eine jährliche alters- und geschlechtsadjustierte Inzidenz von 63,9/100 000 Einwohnern bei den über 50-Jährigen einer vorwiegend skandinavisch-/nordeuropäisch-stämmigen Population (2, 10). Eine Kohortenstudie aus Großbritannien ermittelte eine deutlich über dem südeuropäischen Niveau liegende Inzidenz von 95,9/100 000 Einwohnern (4). Im Vergleich fiel die in unserer Studienpopulation ermittelte Inzidenz deutlich niedriger aus und befindet sich im Bereich der südeuropäischen Maßzahlen.
Prävalenz
Die gemittelte jährliche alters- und geschlechtsstandardisierte Prävalenz in der Zeit von 2011–2019 betrug 129,8/100 000 Versicherte (eTabelle). In diesem Zeitraum ließ sich ein Anstieg der Prävalenz beobachten. Während sie 2011 noch bei 107,2/100 000 Versicherten lag, stieg sie bis 2019 auf 145,1/100 000 Versicherte an. Ein möglicher Grund für diesen Prävalenzanstieg kann eine Veränderung des Codierverhaltens sein (11).
Im internationalen Vergleich fällt die in unserer Studienpopulation ermittelte Prävalenz niedrig aus. In Italien lag sie bei den über 50-Jährigen bei 370–620/100 000 Einwohner (9), wohingegen in Großbritannien eine deutlich höhere administrative Prävalenz von 850/100 000 Personen bestimmt wurde (4). Die Prävalenz der PMR scheint sich zwischen städtischen und ländlichen Gebieten zu unterscheiden. Eine kanadische Routinedatenstudie ermittelte bei Frauen der Altersgruppe ≥ 45 Jahre eine Prävalenz von 754,5 /100 000 Einwohnerinnen in städtischen Regionen und 1 004/100 000 Einwohnerinnen in ländlichen Gebieten (12). Bei Männern ≥ 45 Jahren zeigte sich eine geringere PMR-Prävalenz, die sich ebenfalls zwischen städtischen und ländlichen Regionen unterschied (273,6/100 000 versus 380,7/100 000 Einwohnern) (12). Die höheren Prävalenzraten im ländlichen Raum erklären sich möglicherweise durch die Exposition gegenüber Tieren, Pestiziden und Getreidestaub, die mit der Entstehung von Autoimmunerkrankungen assoziiert ist (12).
Einschränkend für den Vergleich der in der vorliegenden Studie ermittelten Maßzahlen mit Studien aus anderen Ländern sind unterschiedliche Einschlusskriterien und Datenquellen sowie Unterschiede der Gesundheitssysteme zu nennen (6).
Geschlechtsspezifische Inzidenz und Prävalenz
Frauen sind von der Erkrankung häufiger betroffen als Männer, wobei das Geschlechterverhältnis in der Literatur zwischen 2:1 und 3:1 variiert (4, 5). Das Lebenszeitrisiko an einer PMR zu erkranken, liegt für Frauen bei 2,4 %; für Männer bei 1,7 % (8, 13). In Grafik 1 und der eTabelle sind die altersstandardisierten Inzidenzen und Prävalenzen der PMR bei Männern und Frauen dargestellt. Die altersstandardisierte Inzidenz der PMR war bei Frauen im Mittel deutlich höher als bei Männern (21,8/100 000 versus 13,1/100 000 Versicherte) und auch die Prävalenz fiel bei Frauen höher aus.
Symptome und Ätiologie
Zu den typischen Symptomen der PMR gehören bilaterale, starke Schmerzen und Steifigkeit der Schultern, der proximalen Anteile der Arme sowie des Nackens (5). Seltener betrifft die Symptomatik auch den Beckengürtel und die proximalen Anteile der Oberschenkel. Patientinnen und Patienten berichten von 45–60 Minuten anhaltender, morgendlicher Steifigkeit sowie unspezifischen Symptomen wie Fatigue und generellem Unwohlsein (5). Die Patienten stehen durch die ausgeprägten Schmerzen häufig unter einem starken Leidensdruck.
Die Ätiologie der PMR ist weitgehend unbekannt. Hinzu kommt, dass Aussagen über die PMR allein nur eingeschränkt möglich sind, da in früheren Studien meist Kollektive mit PMR und RZA gemeinsam untersucht wurden, obwohl nur 10–30 % der Patienten mit PMR eine RZA entwickeln (2). Umgekehrt tritt im Verlauf bei 40–60 % der RZA-Fälle eine PMR auf (2, 4, 5). Es gibt Hinweise auf verschiedene endogene und exogene Faktoren, die die Entstehung einer PMR zu begünstigen scheinen (1, 2, 5, 14, 15, 16, 17, 18):
- Alter > 50 Jahre
- weibliches Geschlecht
- vorangegangene Infektionen
- genetische Faktoren.
Da die PMR fast ausschließlich bei > 50-Jährigen diagnostiziert wird, kann von einem starken Alterseinfluss ausgegangen werden (14). Auch die Alterung des Immunsystems, die Immunoseneszenz, spielt über eine erhöhte Anfälligkeit für Autoimmunprozesse und Infektionen eine Rolle (1, 14). Erhöhte Homocysteinwerte, die eine vaskuläre Alterung und Entzündungsprozesse widerspiegeln, wurden vermehrt bei Patienten mit PMR und RZA nachgewiesen (14).
Bezüglich der Assoziation zwischen Infektionen und dem Auftreten einer PMR wird vermutet, dass Mycoplasma pneumoniae, Parainfluenzavirus und Chlamydophila pneuomoniae bei genetischer Prädisposition als Trigger wirken (2, 5, 14, 15, 16, 17).
Zu den genetischen Risikofaktoren, die die Entstehung einer PMR begünstigen könnten, zählen Polymorphismen des HLA-DRB1-Gens (1, 2, 5, 14). Diese genetischen Veränderungen scheinen Schwere und Rezidivrate der PMR zu beeinflussen (2). Während der Einfluss des HLA-DRB1-Genotyps als Risikofaktor für eine RZA bekannt ist, ist der Zusammenhang für eine PMR jedoch nicht eindeutig geklärt (1, 18). Wenngleich der Pathomechanismus nicht verstanden ist, scheinen hier Polymorphismen des Zytokins IL-6 eine wichtige Rolle zu spielen (14).
Diagnostik
Klassifikationskriterien
Analog zur S3-Leitlinie zur Behandlung der PMR der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) (3) können die Klassifikationskriterien der European Alliance of Associations for Rheumatology (EULAR) und des American College of Rheumatology (ACR) (19) herangezogen werden. Zur Diagnose einer PMR müssen folgende Kriterien zwingend erfüllt sein:
- Alter > 50 Jahre
- bilaterale Schulterschmerzen
- Erhöhung von Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) beziehungsweise C-reaktivem Protein (CRP).
Darüber hinaus liegt anhand EULAR-/ACR-Nebenkriterien eine PMR vor, wenn zusätzlich zu den klinischen Merkmalen mindestens vier von sechs möglichen Punkten erreicht werden (mit Sonografie: mindestens fünf von acht möglichen Punkten) (Tabelle) (19). Die Sonografie der Bizepssehne, Schulter- und Hüftgelenke führt zu einer höheren Spezifität der Klassifikation nach EULAR/ACR und wird bei Verfügbarkeit empfohlen, ist aber in den meisten hausärztlichen Praxen nicht möglich (19).
Vorgehen in der Praxis
Die PMR ist primär eine klinische Diagnose, die jedoch im Praxisalltag oft eine Herausforderung bedeutet, da das klinische Bild sehr variabel sein kann. Der klassische bilaterale Schulterschmerz kommt einer retrospektiven Kohortenstudie zufolge nur bei 46 % der Patienten in hausärztlichen Praxen vor (20). Die PMR kann sich initial einseitig manifestieren, BSG oder CRP können im Normbereich liegen und Differenzialdiagnosen wie zum Beispiel arthrosebedingte Beschwerden können in der Abklärung nicht immer sicher ausgeschlossen werden (21, 22). Die Patienten sind häufig schmerzgeplagt und klagen über ein allgemeines Krankheitsgefühl. Manche Patienten verlieren im Verlauf an Gewicht und wirken depressiv (23). Bedingt durch atypische und variable Verläufe, Multimorbidität sowie einer Vielzahl an Differenzialdiagnosen kann davon ausgegangen werden, dass eine PMR im hausärztlichen Bereich mitunter schwer zu diagnostizieren ist und häufig spät oder möglicherweise erst nach umfangreicher Diagnostik als Ausschlussdiagnose festgestellt wird (20, 24).
Das schnelle Ansprechen auf die Glukokortikoid-Therapie innerhalb von zwei Wochen und eine fast vollständige Remission der Symptome innerhalb von vier Wochen (25, 26) sind ein wichtiger, nahezu pathognomonischer Hinweis auf eine PMR. Erwähnenswert ist in diesem Kontext, dass die Schmerzsymptomatik nicht oder kaum auf nichtsteroidale Antirheumatika (zum Beispiel Ibuprofen) anspricht. Eine Überweisung in die Rheumatologie oder andere Fachrichtungen zu diagnostischen Zwecken wird bei Patienten mit atypischer Klinik (zum Beispiel Fehlen bilateraler Schulterschmerzen, sehr hohe Entzündungswerte) oder Verdacht auf RZA empfohlen (3, 25).
Differenzialdiagnosen
Überschneidungen des klinischen Bildes der PMR gibt es zu primären Schultererkrankungen sowie zur RA. Bei den primären Schultererkrankungen seien insbesondere Bursitis subdeltoidea, Bizepstendinitis, Rotatorenmanschettenruptur, Impingement, Kalkschulter und Omarthrose genannt. Weiterhin erwähnenswert sind andere Arthritiden wie Spondylarthritiden und Enthesiopathien. Mittels EULAR-/ACR-Klassifikationskriterien (Tabelle) ist eine Abgrenzung zu primären Schultererkrankungen etwas besser möglich als zur RA (27).
In der S3-Leitlinie wird empfohlen, eine RZA, Infektionen und Malignome als Differenzialdiagnosen in Betracht zu ziehen (3). Sowohl PMR und RZA werden als paraneoplastische Syndrome diskutiert. Die bisherigen Studienergebnisse hierzu sind heterogen (28, 29). Die Autorinnen und Autoren der S3-Leitlinie kommen zu dem Schluss, dass ein über das „altersentsprechende, übliche Maß hinausgehende Tumorscreening“ bei Patienten mit PMR nicht nötig sei (3). Vor Einleitung der Therapie sollten durch geeignete Labor- und/oder apparative Untersuchungen, relevante Differenzialdiagnosen sowie mögliche Kontraindikationen für die einzuleitende Therapie ausgeschlossen werden. Hierzu können die im Kasten aufgeführten Untersuchungen veranlasst werden (3).
Therapie
Medikamentöse Therapie
Glukokortikoide werden als Standardbehandlung bei der PMR angewendet (3, 26). Laut der aktuellen S3-Leitlinie sollte sofort nach Diagnosestellung mit der Glukokortikoid-Therapie begonnen werden (3). Als Initialdosis werden für die meisten Patienten 15–25 mg/Tag Prednisolon-Äquivalent empfohlen. Sie sollte 7,5 mg/Tag nicht unter- und 30 mg/Tag nicht überschreiten, oral verabreicht und möglichst morgens eingenommen werden (3). Falls weitere Komorbiditäten (zum Beispiel Diabetes mellitus, Osteoporose, Glaukom) vorliegen, kann die initiale Dosis variiert werden (3, 26). Sollten sich die Symptome der PMR nach Beginn der initialen Glukokortikoid-Therapie bessern, wird empfohlen, die Dosis langsam und individuell an die Patienten angepasst zu verringern (3, 26). In den meisten Fällen lassen die Beschwerden nach Beginn einer Glukokortikoid-Therapie schlagartig nach. Das rasche Therapieansprechen ist insbesondere vor dem Hintergrund langer Wartezeiten auf einen Termin für die weitere diagnostische Abklärung und der teilweise nicht eindeutigen klinischen Präsentation ein wichtiges Element in der Diagnosestellung. Im Falle eines Rezidivs kann die Glukokortikoid-Dosis kurzzeitig wieder gesteigert werden, bevor ein erneuter Reduktionsversuch unternommen werden kann (3, 26).
Bei der Glukokortikoid-Therapie treten häufig Nebenwirkungen auf. Daher ist ein entsprechendes Therapiemonitoring erforderlich (26). In der Langzeitbetreuung empfiehlt die S3-Leitlinie Intervalle für Folgevisiten um (3)
- klinische und laborchemische Parameter zu kontrollieren
- die Krankheitsaktivität, Therapienebenwirkungen, Begleiterkrankungen und -medikation sowie mögliche Rezidive zu erfassen
- die Behandlungsdauer zu überwachen.
Dabei wird auch auf die Leitlinie zur Prophylaxe der Osteoporose des Dachverbands Osteologie (DVO) hingewiesen (3). Bei unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAE) unter Glukokortikoid-Therapie, relevanten Komorbiditäten, anhaltend hoher Krankheitsaktivität oder Kontraindikationen gegen den Einsatz von Glukokortikoiden können diese mit dem Immunsuppressivum Methotrexat (MTX) kombiniert werden, dessen Wirkung bei PMR in randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesen werden konnte (8, 18, 26). Hierdurch kann in Einzelfällen die Glukokortikoid-Dosis verringert werden (3, 8, 18). So wird bei Patienten mit komorbidem Diabetes mellitus, Glaukom oder Osteoporose ein frühzeitiger Einsatz von MTX empfohlen (8). Sprechen Patienten nicht in adäquatem Maß auf die Glukokortikoid-Therapie an, was laut einer retrospektiven Kohortenstudie bei 3,9 % der Patienten mit PMR der Fall ist (20), oder ist die Entwöhnung davon nicht erfolgreich, kann ebenfalls MTX eingesetzt werden (8).
Des Weiteren werden in Studien Biologika für die Therapie von PMR erprobt. Hierzu zählen Tumornekrosefaktor(TNF)-α-Blocker, Interleukin-Rezeptor-Blocker und selektive Immunsuppressiva (18). In aktuellen Leitlinien wird jedoch aufgrund der nicht eindeutigen Studienlage davon abgeraten, TNF-α-Blocker und andere Biologika anzuwenden (3, 26).
Rezidive treten häufig bei einer PMR auf (6, 30). Laut einer aktuellen Metaanalyse kommt es bei 43 % der Patienten innerhalb eines Jahres nach Therapiebeginn zu einem Rezidiv (31). Da Rezidive eine erneute Erhöhung der Glukokortikoid-Dosis erfordern, verlängert sich die Gesamtdauer der medikamentösen Therapie. Vor allem bei älteren Menschen ist eine Langzeittherapie mit Glukokortikoiden mit dem Auftreten von UAE vergesellschaftet. Floris et al. zeigten, dass nach einem, zwei und fünf Jahren noch 77 %, 51 % und 25 % der Studienpopulation mit PMR Glukokortikoide einnahmen (31). Neben einer erhöhten Krankheitsaktivität (zum Beispiel repräsentiert durch das Niveau der Akut-Phase-Proteine bei Diagnosestellung, die initiale Glukokortikoid-Dosis und die Geschwindigkeit der Dosisreduktion) werden weibliches Geschlecht und periphere Arthritis als mögliche Prädiktoren für eine Glukokortikoid-Langzeittherapie diskutiert (3, 6, 31, 32). Die Datenlage hierzu ist jedoch nicht eindeutig. Mit Ausnahme der Empfehlungen zur Therapie mit MTX und Biologika (Evidenzlevel 1 [systematisches Review mit mehreren randomisierten Studien] nach Oxford Centre for Evidence-Based Medicine [OCEBM]) wurden alle aufgeführten Empfehlungen zur medikamentösen Therapie in der S3-Leitlinie mit Evidenzlevel 5 (Expertenmeinung) bewertet (3).
Eine Überweisung in die Rheumatologie oder andere Fachrichtungen zu therapeutischen Zwecken wird bei komplizierten Verläufen, vorliegenden Kontraindikationen für eine Glukokortikoid-Therapie beziehungsweise dadurch hervorgerufene Nebenwirkungen und häufigen Rezidiven empfohlen (3, 25).
Nichtmedikamentöse Therapie
Insbesondere älteren Patienten mit körperlichen Funktionseinschränkungen sollten Übungsprogramme ergänzend zur medikamentösen Behandlung angeboten werden (OCEBM Evidenzlevel 5) (3). Auch die Empfehlungen der EULAR/ACR sehen individualisierte Bewegungsprogramme vor, um Muskelmasse und -funktion zu erhalten sowie Stürze zu vermeiden, insbesondere unter Glukokortikoid-Langzeittherapie (26). Studien, die die Effektivität von nichtmedikamentösen Therapien bei Patienten mit PMR evaluierten, konnten bei der selektiven Literaturrecherche nicht identifiziert werden.
Anhand der aktuellen Datenlage wird deutlich, dass weitere Studien notwendig sind, um einerseits Erkenntnisse zu Risikofaktoren für Rezidive und für die Glukokortikoid-Langzeittherapie zu festigen und andererseits, um die Wirkung nichtmedikamentöser Maßnahmen bei Patienten mit PMR zu bewerten (31).
Initial beteiligte Facharztgruppen
In der Regel sind an der Diagnosestellung und Behandlung der PMR mehrere Facharztgruppen beteiligt (3). Aus Deutschland liegen laut unserer Literaturrecherche keine Studien vor, die sich mit der fachärztlichen Versorgung von Patienten mit PMR befassten. Basierend auf aggregierten Daten der AOK Baden-Württemberg sind in Grafik 2 und eGrafik die Facharztgruppen aufgeführt, die von Versicherten der AOK-Baden-Württemberg mit inzidenter PMR im Inzidenz- und Folgequartal konsultiert wurden. Das methodische Vorgehen kann dem eMethodenteil entnommen werden.
Der Großteil der Konsultationen (knapp 60 %) entfiel bei Männern und Frauen mit inzidenter PMR auf die hausärztliche Versorgung, gefolgt von Orthopädie und Rheumatologie (eGrafik). Dieses Ergebnis steht im Einklang mit internationalen Studien, die feststellten, dass primär Hausärztinnen und Hausärzte die Diagnosestellung und Behandlung der PMR durchführen (20, 33).
Resümee
Die Analyse der Krankenkassendaten zeigt, dass die PMR auch in Deutschland überwiegend Frauen betrifft und hauptsächlich in der hausärztlichen Praxis diagnostiziert wird. Eine profunde Kenntnis der diagnostischen Kriterien sowie der therapeutischen Vorgehensweise ist wichtig, um eine Unterversorgung dieses Krankheitsbildes an der Schnittstelle verschiedener Fachdisziplinen zu vermeiden (33). Weitere Studien sind nötig, um die Versorgung von Patienten mit PMR zu verbessern und die vorhandenen geschlechtsspezifischen Unterschiede genauer zu verstehen.
Förderung
Der vorliegende Artikel entstand im Rahmen des Projekts „Geschlechtssensible Prävention in verschiedenen Lebensphasen (GePL)“, einem Kooperationsprojekt der AOK Baden-Württemberg, des Instituts für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung und des Departments für Frauengesundheit des Universitätsklinikums Tübingen sowie der Universitätsfrauenklinik Heidelberg. Das Projekt wird mit Drittmitteln der AOK Baden-Württemberg finanziert.
Interessenkonflikt
Die Autorinnen und der Autor erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 15.02.2022, revidierte Fassung angenommen: 02.05.2022
Anschrift für die Verfasser
Miriam Giovanna Colombo, MPH
Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung
Universitätsklinikum Tübingen
Osianderstr. 5
72076 Tübingen
miriam.colombo@med.uni-tuebingen.de
Zitierweise
Colombo MG, Wetzel AJ, Haumann H, Dally S, Kirtschig G, Joos S: Polymyalgia rheumatica—sex-specific epidemiology, diagnostic and therapeutic approach, and medical care. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 411–7. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0218
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eGrafik, eTabelle, eMethodenteil:
www.aerzteblatt.de/m2022.0218 oder über QR-Code
cme plus
Dieser Beitrag wurde von der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung zertifiziert. Die Fragen zu diesem Beitrag finden Sie unter http://daebl.de/RY95. Einsendeschluss ist der 16.06.2023.
Die Teilnahme ist möglich unter cme.aerztebatt.de
Abteilung für Analytik und Data Science, AOK Baden-Württemberg, Stuttgart: Dr. rer. nat. Simon Dally
Geschäftsbereich Medizin, AOK Baden-Württemberg, Stuttgart, PD Dr. med. Gudula Kirtschig
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Deutsches Ärzteblatt international, 202310.3238/arztebl.m2022.0321
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Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 202310.1007/s00391-023-02211-1
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Zeitschrift für Rheumatologie, 202310.1007/s00393-022-01305-2
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Deutsches Ärzteblatt international, 202310.3238/arztebl.m2022.0320
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Deutsches Ärzteblatt international, 202310.3238/arztebl.m2022.0323
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Deutsches Ärzteblatt international, 202310.3238/arztebl.m2022.0322
Braun, Jürgen
Lisch, Walter
Roch, Beate
Colombo, Miriam