ArchivDeutsches Ärzteblatt24/2022Omikron-Sublinien: BA.4 und BA.5 nehmen weiter zu

MEDIZINREPORT

Omikron-Sublinien: BA.4 und BA.5 nehmen weiter zu

Gießelmann, Kathrin; Martin, Mirjam; Schulze, Anne-Kristin

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Der seit Mai beobachtete Trend setzt sich fort: Der Anteil der Omikron-Sublinien BA.4/BA.5 steigt weiter an. Das Robert Koch-Institut (RKI) rechnet daher mit einer Zunahme der Infektionszahlen. Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen jedoch keine erhöhte Pathogenität.

Noch dominiert in Deutschland die Omikron-Sublinie BA.2 mit 87,5 %. Ihr Anteil geht aber seit Ende April stetig zurück, stattdessen nehmen die Sublinien BA.4/BA.5 zu. Foto: kaptn/stock.adobe.com
Noch dominiert in Deutschland die Omikron-Sublinie BA.2 mit 87,5 %. Ihr Anteil geht aber seit Ende April stetig zurück, stattdessen nehmen die Sublinien BA.4/BA.5 zu. Foto: kaptn/stock.adobe.com

Die Omikron-Sublinien BA.4/ BA.5 verdoppeln sich seit Ende April wöchentlich in Deutschland. So lag der Anteil der sequenzierten Untervarianten in der 21. Kalenderwoche bereits bei 10,0 % (BA.5) und 2,1 % (BA.4) (1). Das Robert Koch-Institut (RKI) schließt daraus, dass die beiden Omikron-Sublinien in wenigen Wochen die Mehrzahl der Nachweise ausmachen dürften. Aller Voraussicht werde es zu einem Anstieg der Infektionszahlen und einem erneut verstärkten Infektionsdruck auf vulnerable Personengruppen schon im Sommer kommen, heißt es im Wochenbericht vom 9. Juni. Die bundesweite 7-Tage-Inzidenz stieg Anfang Juni im Vergleich zur Vorwoche erstmals seit Mitte März wieder an (29 %).

Über eine drohende Sommerwelle wurde in den vergangenen Tagen immer wieder berichtet. Auch Prof. Dr. med. Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, geht davon aus, dass in Deutschland der Anteil der BA.5-Variante bei den Neuinfektionen weiter steigen wird. „Ob das zu einer Zunahme der Gesamtinzidenz führt, wird sich zeigen. Die Entwicklung in Portugal zeigt aber, dass damit gerechnet werden muss“, sagte er dem Deutschen Ärzteblatt. Diese Einschätzung vertritt auch die EU-Gesundheitsbehörde ECDC. Die zuerst in Südafrika festgestellten Omikron-Subvarianten könnten zu einem Wiederanstieg der Fallzahlen führen (2).

Eigenschaften von BA.4/BA.5

Beide Subvarianten enthalten die Aminosäuresubstitutionen L452R, F486V und R493Q in der Spike-Rezeptor-Bindungsdomäne im Vergleich zu BA.2. Vorläufige Studien deuten auf eine signifikante Veränderung der antigenen Eigenschaften von BA.4 und BA.5 im Vergleich zu BA.2 und vor allem zu BA.1 hin, hieß es im Report der ECDC Mitte Mai.

Zwei Preprints zeigen zudem, dass es sich bei BA.4/BA.5 erneut um Immunescape-Varianten handelt (3, 4). Das bedeute, dass diese Varianten bei nachlassender Immunität nach Impfung oder Infektion besonders gut in der Lage seien, eine erneute Infektion auszulösen, erklärt Timm. „Die Erkrankungsschwere im Falle einer Infektion mit BA.4 oder BA.5 scheint sich aber im Vergleich mit den bisherigen Omikron-Varianten nicht geändert zu haben“, ergänzt der Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie mit Verweis auf den ECDC-Report (2). Der Anteil schwerer Verläufe sei bei den Omikron-Varianten insgesamt niedriger als beispielsweise bei der Delta-Variante. „Eine sehr hohe Zahl von Infektionen durch erhöhte Übertragbarkeit könnte aber trotzdem problematisch werden“, so Timm.

Der US-amerikanischer Kardiologe und Autor Eric Topol, MD vom Scripps Research Institute in La Jolla, fasst die aktuellen Erkenntnisse zu BA.4/BA.5 auf Twitter ähnlich zusammen (5): Der Immunescape der beiden Subvarianten sei stärker ausgeprägt als der von BA.2.12.1. BA.4/BA.5 würden sich zudem in Laborversuchen und in Versuchsmodellen leichter übertragen. Er verweist auf einen Preprint, in dem Forschende aus Japan bei Hamstern Hinweise gefunden haben, dass BA.4/BA.5 pathogener sein könnten als BA.2 (6). Timm vertraut eher den Beobachtungen der Länder, in denen BA.5 bereits dominiert: Aus dem Hamstermodell könnte man Daten zur Erkrankungsschwere nicht 1:1 auf den Menschen übertragen. Auch die Immunität durch Impfungen und Infektionen, die im Hamsterexperiment keine Rolle spielte, könnte ein Grund für die abweichenden Ergebnisse sein, vermutet der Mediziner.

Mit Blick auf eine mögliche Sommerwelle empfiehlt er eine 4. Impfung für Risikogruppen und erläutert: „Auch wenn die Schutzwirkung der Impfung vor Infektionen mit den neuen Omikron-Varianten eingeschränkt ist, so ist der Schutz vor schweren Infektionsverläufen weiterhin gut. Dieser positive Effekt der Impfung war bisher für alle Varianten gut reproduzierbar.“

Impfstoff mit BA.4/5-Schwäche

Eine kürzlich in Science Immunology publizierte Studie von BioNTech gibt Hinweise darauf, wie sich eine Impfung mit einem an Omikron angepassten Impfstoff auswirken könnte (7, 8). Das Team konnte nachweisen, dass die Antikörperantwort gegen die meisten SARS-CoV-2-Varianten bei BNT162b2-Geimpften nach einer Durchbruchinfektion mit Omikron BA.1 deutlich erhöht ist, nicht jedoch gegen BA.4/BA.5.

Die Forschenden hatten die mittleren geometrischen Titer (GMT) in Serumproben von etwa 60 2- oder 3-fach Geimpften mit oder ohne BA.1-Durchbruchinfektion bestimmt. Bei den 2-fach Geimpften hatte die Gruppe mit Durchbruchinfektion im Pseudotyp-Neutralisierungstest 100-fach höhere Titer gegen BA.1 und 35-fach höhere Titer gegen BA.2 als die Gruppe ohne Durchbruchinfektion.

Für BA.4/ BA.5 fiel der neutralisierende Effekt der Durchbruchinfektion dagegen weitaus geringer aus: Zwar war der GMT bei den 2-fach Geimpften mit Durchbruchinfektion 15-fach höher als ohne Durchbruchinfektion, doch im Vergleich zu der jeweiligen Antikörperantwort gegen die Ursprungsvariante deutlich verringert: gegen Wuhan-Variante bei 2-fach Geimpften 5-mal und bei 3-fach Geimpften 6-mal höher versus BA.4/BA.5. Weiterhin fiel die Immunantwort gegen die Varianten Alpha, Beta und Delta etwa bei 2-fach Geimpften mit Durchbruchinfektion höher aus als bei 3-fach Geimpften ohne Durchbruchinfektion.

Die Forschenden analysierten zudem die B-Gedächtniszellen in den unterschiedlichen Gruppen. Sie zeigten, dass sich nach einer Durchbruchinfektion vor allem B-Gedächtniszellen gegen Epitope bildeten, die über alle Varianten stabil blieben, und nicht gegen BA.1-spezifische Epitope.

Die Autorinnen und Autoren der BioNTech-Studie erwarten, dass an Omikron angepasste Impfstoffe ähnlich wie eine Durchbruchinfektion wirken könnten: Das Spektrum der B-Gedächtniszellen könnte sich erweitern und die Impfstoffe einen breiten Schutz gegen ältere SARS-CoV-2-Varianten bieten. Solche Impfstoffe befänden sich aktuell in der Entwicklung und müssten erst noch abschließend geprüft werden, sagt Timm. Sie stünden möglicherweise im Herbst zur Verfügung. Erst am 8. Juni hatte der Hersteller Moderna mitgeteilt, dass sein bivalenter Impfstoff in einer Phase-2/3-Studie als Booster eine gute neutralisierende Wirkung erzielen konnte (9). Der Impfstoff enthält neben der originalen mRNA-1273 die auf Omikron angepasste mRNA-1273.214. Moderna hofft auf eine Zulassung des Impfstoffs, der im Spätsommer zur Verfügung stehen könnte.

Timm hält ein Abwarten auf den adaptierten Impfstoff dennoch nicht für sinnvoll, da man die Daten zur Wirksamkeit dieser Impfung noch nicht kenne. Moderna hätte in der Pressemitteilung zwar ein positives Bild gezeigt. Details seien aber noch nicht bekannt. „Die Endpunkte zur Immunogenität in den Studien beziehen sich sicherlich auf die BA.1-Variante. Ob die Ziele auch für BA.5 erreicht werden, wäre jetzt eine wichtige Information.“

Bis zur Zulassung der Vakzine könnten zudem neue Varianten auftreten, die sich dem bisher aufgebauten Immunschutz entzögen, geben die Autorinnen und Autoren der BioNTech-Studie zu bedenken. Die Entwicklung und Zulassung angepasster Impfstoffe müsse daher beschleunigt werden.

Therapeutische Antikörper

Nicht nur die Wirksamkeit von Impfstoffen gegen die neuen Subvarianten muss überprüft werden. Mutationen in den Spike-Proteinen neu auftretender SARS-CoV-2-Varianten können auch die Wirksamkeit therapeutischer monoklonaler Antikörper einschränken. In einer Studie haben Forschende der University of Tokyo die neutralisierende Wirkung von 8 dieser Antikörper und 3 Kombinationen an Pseudoviren mit dem Spike-Protein diverser Omikron-Subvarianten überprüft (10). Übereinstimmend mit früheren Studien wirkten Bamlanivimab, Casirivimab, Etesevimab, Imdevimab und Tixagevimab schlechter gegen BA.2 als gegen B.1.1 (Omikron-Varianten sind Untervarianten von B.1.1) (11). Diese 5 Antikörper waren auch weniger wirksam gegen die neuen Omikron-Subvarianten. Hingegen konnte mit Bebtelovimab eine etwa 2-mal bessere Wirksamkeit gegen BA.2 und alle getesteten Omikron-Subvarianten erzielt werden als gegen B.1.1. Die Autorinnen und Autoren heben insbesondere die 20-fach höhere Resistenz von BA.4/BA.5 gegen Cilgavimab und der Kombination aus Cilgavimab und Tixagevimab im Vergleich zu BA.2 hervor. In einer früheren Studie hatten Forschende für Cilgavimab nur eine 4-fach höhere Resistenz nachweisen können. Sie nutzten allerdings auch ein anderes Pseudovirenmodell.

Kathrin Gießelmann, Dr. med. Mirjam Martin, Dr. med. Anne-Kristin Schulze

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2422
oder über QR-Code.

1.
Robert Koch Institut: Wöchentlicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), 9. Juni 2022. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/COVID-19-Trends/COVID-19-Trends.html?__blob=publicationFile (last accessed on 10 June 2022).
2.
European Centre For Disease Prevention And Control: COMMUNICABLE DISEASE THREATS REPORT Week 19, 8–14 May 2022.
3.
Tuekprakhon A, Huo J, Nutulai R, et al.: Further antibody escape by Omicron BA.4 and BA.5 from vaccine and BA.1 serum. bioRxviv 2022; DOI: 10.1101/2022.05.21.492554. https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.05.21.492554v1.fullpdf+html (last accessed on 9 June 2022).
4.
Khan K, Karim F, Ganga Y, et al.: Omicron sub-lineages BA.4/BA.5 escape BA.1 infection elicited neutralizing immunity. medRxiv 2022; DOI: 10.1101/2022.04.29.22274477. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2022.04.29.22274477v1.full.pdf+html (last accessed on 9 June 2022).
5.
Topol E, Twitter, https://twitter.com/EricTopol/status/1530246632368812035 (last accessed on 9 June 2022).
6.
Kimura I, Yamasoba D, Tamura T, et al.: Virological characteristics of the novel SARS-CoV-2 Omicron variants including BA.2.12.1, BA.4 and BA.5, bioRxiv 2022; DOI: 10.1101/2022.05.26.493539. https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.05.26.493539v1 (last accessed on 9 June 2022).
7.
Quandt J, Muik A, Salisch N, et al.: Omicron BA.1 breakthrough infection drives cross-variant neutralization and memory B cell formation against conserved epitopes. Sci Immunol 2022 CrossRef MEDLINE
8.
Martin M: SARS-CoV-2-Impfung: Durchbruchinfektion mit BA.1 schützt nicht vor BA.4 und BA.5. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/134897/SARS-CoV-2-Impfung-Durchbruchinfektion-mit-BA-1-schuetzt-nicht-vor-BA-4-und-BA-5?rt=2e65744d52b6b601ef7871dce01e26b4 (last accessed on 10 June 2022).
9.
Moderna Pressemitteilung: Moderna Announces Omicron-Containing Bivalent Booster Candidate mRNA-1273.214 Demonstrates Superior Antibody Response Against Omicron. https://investors.modernatx.com/news/news-details/2022/Moderna-Announces-Omicron-Containing-Bivalent-Booster-Candidate-mRNA-1273.214-Demonstrates-Superior-Antibody-Response-Against-Omicron/default.aspx (last accessed on 9 June 2022).
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1. Robert Koch Institut: Wöchentlicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), 9. Juni 2022. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/COVID-19-Trends/COVID-19-Trends.html?__blob=publicationFile (last accessed on 10 June 2022).
2.European Centre For Disease Prevention And Control: COMMUNICABLE DISEASE THREATS REPORT Week 19, 8–14 May 2022.
3.Tuekprakhon A, Huo J, Nutulai R, et al.: Further antibody escape by Omicron BA.4 and BA.5 from vaccine and BA.1 serum. bioRxviv 2022; DOI: 10.1101/2022.05.21.492554. https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.05.21.492554v1.fullpdf+html (last accessed on 9 June 2022).
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9.Moderna Pressemitteilung: Moderna Announces Omicron-Containing Bivalent Booster Candidate mRNA-1273.214 Demonstrates Superior Antibody Response Against Omicron. https://investors.modernatx.com/news/news-details/2022/Moderna-Announces-Omicron-Containing-Bivalent-Booster-Candidate-mRNA-1273.214-Demonstrates-Superior-Antibody-Response-Against-Omicron/default.aspx (last accessed on 9 June 2022).
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