ArchivDeutsches Ärzteblatt25/2022Lokale Hormonwirkung: Krank – trotz normaler Schilddrüsenwerte

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Lokale Hormonwirkung: Krank – trotz normaler Schilddrüsenwerte

Eckert, Nadine

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Ein funktioneller Schilddrüsenhormonmangel zeigt sich nicht zwingend in abweichenden Serumkonzentrationen. Was dies für häufige Erkrankungen wie den Herzinfarkt bedeutet – potenziell auch für dessen Therapie – war Thema auf dem DGE-Kongress.

Eine Sonografie der Schilddrüse gibt diagnostische Hinweise auf eine Struma, Knoten, Zysten oder Autoimmunerkrankungen wie eine Hashimoto-Thyreoiditis. Foto: picture alliance/Burger Phanie
Eine Sonografie der Schilddrüse gibt diagnostische Hinweise auf eine Struma, Knoten, Zysten oder Autoimmunerkrankungen wie eine Hashimoto-Thyreoiditis. Foto: picture alliance/Burger Phanie

Die Bestimmung der Schilddrüsenhormone Trijodthyronin (T3) und Thyroxin (T4) sowie des Thyreoidea-stimulierenden Hormons (TSH) soll Aufschluss darüber geben, ob die Schilddrüse richtig arbeitet oder eine Hyper- oder Hypothyreose besteht. Doch selbst wenn die Laborwerte in Ordnung sind oder die Patientinnen und Patienten nach klassischer Vorstellung gut substituiert sind, kann ein funktioneller Mangel bestehen. „Die lokale Schilddrüsenhormonwirkung in den Zielorganen hängt nur zum Teil davon ab, was in der Zirkulation an Schilddrüsenhormonkonzentrationen gemessen werden kann“, erklärte Prof. Dr. Dr. med. Dagmar Führer-Sakel, Direktorin der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel am Universitätsklinikum Essen, beim diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE).

Wie bedeutsam die lokale Schilddrüsenhormonwirkung tatsächlich ist, deutete sich erstmals in der Erforschung seltener Erkrankungen wie des Allan-Herndon-Dudley-Syndroms (AHDS) an. Die von der X-chromosomal vererbten Erkrankung betroffenen Jungen weisen vom Säuglingsalter an schwere neurologische und motorische Entwicklungsstörungen auf. Viele Aspekte des Syndroms werden durch einen Mangel an Schilddrüsenhormonen im Gehirn verursacht – obwohl der Laborbefund erhöhte T3-Spiegel im Blut zeigt und sowohl TSH als auch T4 weitgehend normal sind. „Auch bei normalen Laborwerten kann ein funktioneller Mangel bestehen, wenn die Wirkung der Schilddrüsenhormone in den Zielorganen und -strukturen beeinträchtigt ist“, betonte Führer-Sakel.

Wie gut Schilddrüsenhormone letztendlich in ihren Zielgeweben wirken, hängt von drei Faktoren ab:

  • der Funktion der lokalen Schilddrüsenhormontransporter,
  • der Metabolisierung durch Deiodinasen, die T4 in die aktive Form T3 überführen und
  • den Schilddrüsenhormonrezeptoren (TR).

„Diese drei Faktoren sind unabhängig von dem, was wir konventionell im Blut messen und entscheiden darüber, welche Wirkung die Schilddrüsenhormone in unserem Körper entfalten“, erklärte die Essener Endokrinologin.

Die ohnehin schon unterschiedliche lokale Wirkung der Schilddrüsenhormone ist außerdem im Rahmen von pathologischen Prozessen Veränderungen unterworfen. So kann es – wie auch beim Allan-Herndon-Dudley-Syndrom – vorkommen, „dass sich einige Bereiche des Organismus in einer Unterfunktion befinden, manche in einer normalen Funktion und manche sogar in einer Überfunktion“, sagte Führer-Sakel.

Zerebrale T3- und T4-Hormontransporter ersetzen

AHDS wird durch eine monogenetische Mutation hervorgerufen, betroffen ist das X-chromosomal lokalisierte Gen SLC16A2. Die Mutation bewirkt, dass der Schilddrüsenhormontransporter MCT8 in eine inaktive Form überführt wird. In der Folge ist der Transporter nicht mehr in der Lage, den Schilddrüsenhormonen die Passage durch die Blut-Hirn-Schranke zu ermöglichen. Der Mangel an aktivem MCT8 führt zu einem Mangel von Schilddrüsenhormonen im Gehirn und dadurch zu der beschriebenen schweren Entwicklungsstörung.

Da es sich um eine monogenetische Mutation handelt, legt die Entwicklung einer Gentherapie von AHDS nahe. Forschende am Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Universität zu Lübeck haben gentherapeutisch bereits erfolgreich einen Mangel des Schilddrüsenhormontransporters bei Mäusen behandelt. Dr. rer. hum. biol. Helge Müller-Fielitz berichtete beim Endokrinologie-Kongress von der Entwicklung eines gehirnendothelspezifischen Gentherapie-Vektors. Er basiert auf einem adenoassoziierten Virus (AAV), trägt das Gen für MCT8 und ist in der Lage, funktionales MCT8 direkt in der Blut-Hirn-Schranke zu exprimieren.

Die Injektion des Gentherapie-Vektors in neugeborene Mäuse führte dazu, dass die Tiere den Schilddrüsenhormontransporter in der Blut-Hirn-Schranke wieder exprimieren konnten. Es kam zu einem Anstieg der T3-Konzentration im Gehirn, in der Peripherie besserten sich die Schilddrüsenhormonspiegel ebenso. Selbst eine gewisse Wiederherstellung der Neuronen und Verbesserung der motorischen Funktion sei zu beobachten gewesen.

„Allerdings werden Patienten mit AHDS oft erst identifiziert, wenn sie schon etwas älter sind“, so Müller-Fielitz. Weitere Experimente in juvenilen und adulten Stadien zeigten bei den Mäusen aber ebenfalls eine günstige Wirkung der Gentherapie. Auch bei ihnen verbesserten sich funktionelle Parameter. „Da die Reexpression von MCT8 in der Blut-Hirn-Schranke in der Lage war, den Transport von Schilddrüsenhormonen ins Gehirn wieder zu ermöglichen, könnte sie ein geeigneter Ansatz für die Behandlung von AHDS sein“, schlussfolgerte Müller-Fielitz.

Transport von Schilddrüsenhormonen in Zielzellen (a) und ins Gehirn (b)
Grafik
Transport von Schilddrüsenhormonen in Zielzellen (a) und ins Gehirn (b)

Innovative Strategien für Volkskrankheiten

Der Lübecker Pharmakologe ist einer von mehr als 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die seit 1,5 Jahren im Sonderforschungsbereich „Lokale Kontrolle der TH-Wirkung (LOCOTACT)“ daran arbeiten, die lokale Wirkung von Schilddrüsenhormonen besser zu verstehen und daraus mögliche neue Therapieansätze abzuleiten. Das Ziel sind allerdings nicht nur seltene Erkrankungen. „Wir hoffen, langfristig neue Therapieansätze auch für Volkskrankheiten wie die nichtalkoholische Fettleber, Myokardinfarkt oder Schlaganfall zu finden“, berichtete die Essener Endokrinologin Führer-Sakel, die auch Sprecherin dieses Sonderforschungsbereiches ist.

Die Plausibilität eines solchen Ansatzes lässt sich beispielsweise an den Folgen einer Hypo- oder Hyperthyreose am Herzen zeigen: Denn bei einem akuten Myokardinfarkt hat die lokale Schilddrüsenhormonwirkung im Herzen Einfluss darauf, wie stark der Infarkt das Herz schädigt. Im Mausmodell wurde nachgewiesen, dass das Infarktareal kleiner ist, wenn sich die Tiere in einer Hypothyreose befinden – statt in Euthyreose. Bei einer Hyperthyreose war das betroffene Areal dagegen größer. „Daraus lässt sich ablesen, dass eine vorbestehende Hypothyreose – zumindest im Mausmodell – beim akuten Myokardinfarkt kardioprotektiv wirkt, während eine chronische Hyperthyreose schädlich ist“, erläuterte Prof. Dr. med. Lars Möller von der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel am Universitätsklinikum Essen. Welcher Signalweg hier zum Tragen komme, sei bislang unklar. Die klassischen kardioprotektiven Proteine seien in den hypothyreoten Mäuseherzen nicht aktiviert gewesen, ergänzte er.

Schilddrüsenhormonrezeptoren können Signale auf 2 Wegen vermitteln. Der klassische (kanonische) Weg ist die Induktion von Genexpression, indem sie direkt an die DNA binden. Doch es gibt auch Schilddrüsenhormonrezeptoren außerhalb des Nukleus. Im Zytosol binden sie an Kinasen und initiieren so deren Aktivierung. Dieser Weg der Signalvermittlung wird als nichtkanonisch bezeichnet. Soll die lokale Schilddrüsenhormonwirkung einmal therapeutisch genutzt werden, ist das Wissen darum, ob die Kardioprotektion auf klassischem oder nichtkanonischem Weg erfolgt, entscheidend.

Einflussreiches Organ: Dass die Schilddrüse an zahlreichen Organen ihre Wirkung entfaltet, ist schon lange bekannt. Dass die Wirkung der Schilddrüsenhormone lokal differieren kann, ist eine eher neue Erkenntnis. Foto: pikovit/stock.adobe.com
Einflussreiches Organ: Dass die Schilddrüse an zahlreichen Organen ihre Wirkung entfaltet, ist schon lange bekannt. Dass die Wirkung der Schilddrüsenhormone lokal differieren kann, ist eine eher neue Erkenntnis. Foto: pikovit/stock.adobe.com

Infarkteingrenzung durch Schilddrüsentherapie

Möllers Arbeitsgruppe führte dazu Experimente mit Knock-out-Mäusen durch, die den Schilddrüsenhormonrezeptor TRα nicht mehr bilden, sowie mit Mäusen, bei denen TRα so verändert wurde, dass er nicht mehr an DNA binden kann. Ergebnis: Das Fehlen des Schilddrüsenhormonrezeptors wirkte sich kardioprotektiv aus und das unabhängig vom Schilddrüsenhormon-Serumstatus. „Wenn der Rezeptor fehlt, kann die Hyperthyreose nicht mehr durchschlagen und den Infarkt verursachen“, so Möller.

Doch auch wenn nur der klassische Weg der Signalvermittlung blockiert war – bei den Mäusen, deren Schilddrüsenhormonrezeptor nicht mehr an DNA binden konnte –, kam es nicht zu einem größeren Infarkt. „Der ungünstige Effekt der Hyperthyreose auf den Infarkt muss also über den kanonischen Signalweg vermittelt sein“, schlussfolgerte Möller. Um die lokale Schilddrüsenhormonwirkung einmal therapeutisch nutzen zu können, sei allerdings nicht nur der Mechanismus der Kardioprotektion relevant, sondern auch das Timing, ergänzte er. Die Frage sei, wann man die Schilddrüsenhormonrezeptoren aktivieren oder blockieren müsse.

Im vergangenen Jahr zeigte eine Forschungsgruppe aus China, dass eine Behandlung der Mäuse mit T3 zu einer Reduktion des Infarktareals führt, sprich kardioprotektiv ist (1). Der günstige Effekt erstreckte sich auch auf die Herzfunktion, die T3-Behandlung verbesserte das Fractional Shortening und die Ejektionsfraktion. „Das zeigt noch einmal, dass akutes T3 das Outcome und die Ventrikelfunktion verbessern könnte“, so Möller.

Allerdings war Schilddrüsenhormon in der Studie von Tag 3 vor dem Infarkt bis 7 Tage danach gegeben worden, was „einen gewissen Schönheitsfehler“ darstelle, so Möller, da Effekte der Schilddrüsenhormonwirkung so nicht der Zeit kurz vor oder nach dem Infarkt zugeordnet werden können. „Entscheidend für die Translation auf den Menschen ist natürlich, was sich mit einer Behandlung nach dem Infarkt erreichen lässt.“ Auch dies wird derzeit innerhalb des Sonderforschungsbereichs untersucht. Anders als beim akuten Myokardinfarkt scheint bei einer Herzinsuffizienz die Prognose bei Hypothyreose schlechter zu sein. „Hier erwarten wir ebenfalls günstige Wirkungen der Schilddrüsenhormone“, sagte Möller. Laut einer 2018 publizierten US-Studie ist die Wahrscheinlichkeit für ein ereignisfreies Überleben niedriger, wenn die Herzinsuffizienz-Patienten eine subklinische Hypothyreose aufweisen (2). „Die Assoziation zwischen Hypothyreose und einem schlechten Verlauf einer Herzinsuffizienz begründet natürlich keine Kausalität“, so Möller. „Aber Schilddrüsenhormone fördern eine kardiale Hypertrophie, die in Situationen der Herzinsuffizienz günstig sein könnte.“

Allerdings lasse sich aus einer solchen Assoziation nicht einfach ein Behandlungsmechanismus ableiten, räumte er ein. In einer Studie dänischer Forscher war bei Patienten mit Herzinsuffizienz und reduzierter Ejektionsfraktion eine latente Hypothyreose mit einer schlechteren Prognose assoziiert (3). Dies galt auch dann noch, wenn die Patienten mit T4 behandelt wurden.

Neue Therapien nicht ohne Grundlagenforschung

Für die Zukunft bedeute das: „Man muss den Umweg über die Maus gehen, um aufzuschlüsseln, in welchen Situationen welche Wirkung nötig ist und zu welchem Zeitpunkt und wie lange man Schilddrüsenhormon geben muss“, so Möller.

„Wir sind heute in der Lage, zum Beispiel Defekte an den Schilddrüsenhormontransportern zu simulieren und zu untersuchen, wie wir diese überwinden können“, erklärte LOCOTACT-Sprecherin Führer-Sakel. „Aber wir sind in der endokrinologischen Sprechstunde noch nicht in der Situation, den Patienten ein ganz zielgerichtetes Therapiekonzept anbieten zu können.“ Die Behandlung mit Schilddrüsenhormonen erfolge bis dato „als Ersatz“ im gesamten Körper. Damit würden aber nicht die organ- und krankheitsspezifischen Veränderungen der Schilddrüsenhormonwirkung erreicht. Deshalb sei die grundlagenwissenschaftliche Forschung so wichtig, um über ein besseres Verständnis langfristig neue Therapiekonzepte zu entwickeln. Nadine Eckert

1.
Zeng B, Liao X, Liu L, et al.: Thyroid hormone mediates cardioprotection against postinfarction remodeling and dysfunction through the IGF-1/PI3K/AKT signaling pathway. Life Sci 2021; 267: 118977 CrossRef MEDLINE
2.
Kannan L, Shaw PA, Morley MP, et al.: Thyroid Dysfunction in Heart Failure and Cardiovascular Outcomes. Circ Heart Fail 2018; 11 (12): e005266 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Einfeldt MN, Olsen AS, Kristensen SL, et al.: Long-Term Outcome in Patients With Heart Failure Treated With Levothyroxine: An Observational Nationwide Cohort Study. J Clin Endocrinol Metab 2019; 104 (5): 1725–34 CrossRef MEDLINE
4.
Schwartz CE, Stevenson RE: The MCT8 thyroid hormone transporter and Allan-Herndon-Dudley syndrome. Best Pract Res Clin Endocrinol Metab 2007; 21 (2): 307–21 CrossRef MEDLINE PubMed Central
1.Zeng B, Liao X, Liu L, et al.: Thyroid hormone mediates cardioprotection against postinfarction remodeling and dysfunction through the IGF-1/PI3K/AKT signaling pathway. Life Sci 2021; 267: 118977 CrossRef MEDLINE
2. Kannan L, Shaw PA, Morley MP, et al.: Thyroid Dysfunction in Heart Failure and Cardiovascular Outcomes. Circ Heart Fail 2018; 11 (12): e005266 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3. Einfeldt MN, Olsen AS, Kristensen SL, et al.: Long-Term Outcome in Patients With Heart Failure Treated With Levothyroxine: An Observational Nationwide Cohort Study. J Clin Endocrinol Metab 2019; 104 (5): 1725–34 CrossRef MEDLINE
4.Schwartz CE, Stevenson RE: The MCT8 thyroid hormone transporter and Allan-Herndon-Dudley syndrome. Best Pract Res Clin Endocrinol Metab 2007; 21 (2): 307–21 CrossRef MEDLINE PubMed Central

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