MEDIZIN: Originalarbeit
Versorgungssituation von Menschen mit Depressionsdiagnose
Eine Analyse auf Basis von Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung
The state of care for persons with a diagnosis of depression—an analysis based on routine data from a German statutory health insurance carrier
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Hintergrund: Die Depression gehört zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Defizite in der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Depression, insbesondere an den Schnittstellen zwischen Leistungsbereichen oder Sektoren, sind bekannt. Ziel der Studie war es, Patientencharakteristika und die Versorgungssituation von Personen mit einer diagnostizierten Depression zu analysieren.
Methode: Basis der Analysen bilden Diagnose- und Abrechnungsdaten einer gesetzlichen Krankenversicherung. Patienten mit Depressionsdiagnose im Jahr 2018 (ICD-10 F32, F33, F34.1) wurden identifiziert und im Hinblick darauf untersucht, ob sie relevante Versorgungsleistungen in Anspruch genommen haben. Dabei wurden auch soziodemografische Charakteristika und der Schweregrad der Erkrankung berücksichtigt.
Ergebnisse: Insgesamt wurden mehr als 285 000 Personen mit Depressionsdiagnose in die Auswertung eingeschlossen. Die Patienten waren im Mittel 57,5 Jahre alt, 67,5 % waren weiblich. Etwa drei Viertel der Betroffenen hatten noch mindestens eine psychische Komorbidität. Bei den Patienten mit schwerer Depression war zu 82,8 % die Hausärztin oder der Hausarzt an der Depressionsbehandlung beteiligt, 41,1 % hatten Kontakt zu einer spezialisierten Fachärztin oder einem spezialisierten Facharzt und 9,2 % waren in psychologischer Psychotherapie. 60,3 % der schwer betroffenen Patienten bekamen Antidepressiva verordnet und 10,2 % erhielten Leistungen einer Richtlinienpsychotherapie.
Schlussfolgerung: Die Ergebnisse der Analysen geben Hinweise auf bestehende Defizite in der Versorgung von Patienten mit Depression, insbesondere bei der Stellung der Diagnose und bei der Beurteilung des Schweregrads. Diese sind für die Einleitung einer leitlinienorientierten Therapie essenziell und sollten daher vermehrt bei ärztlichen Fortbildungen thematisiert werden.


Psychische Leiden zählen zu den häufigsten Gründen für gesundheitliche Einschränkungen. So gehören depressive Erkrankungen und Angststörungen zu den zehn Krankheiten, die im Erwachsenenalter die weltweit höchste Krankheitslast verursachen (1). Dabei führen psychische Erkrankungen neben den gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen für die Betroffenen zu erheblichen Kosten für das Gesundheitssystem (2).
In Deutschland und anderen Industrieländern gehört Depression zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Laut der DEGS1-MH-Studie des Robert Koch-Instituts (RKI; Erhebungszeitraum: 2009–2012) liegt die Prävalenz einer unipolaren Depression bei 8,2 % und die einer dysthymen Störung bei 1,7 % (3, 4). Vergleicht man die Ergebnisse verschiedener Gesundheitsbefragungen in Deutschland, zeigt sich, dass die Prävalenzen psychischer Erkrankungen zeitlich weitestgehend stabil sind (5). Demgegenüber deuten Studien auf Basis von Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf eine erhebliche Zunahme der administrativen Prävalenz im Zeitverlauf hin (6, 7). Die sogenannte administrative Prävalenz beschreibt die geschätzte Krankheitshäufigkeit auf Basis von ärztlich gestellten und dokumentierten Diagnosen in GKV-Routinedaten (8). Wurde im Jahr 2009 noch bei 12,5 % der gesetzlich Versicherten eine Depression diagnostiziert, so ist der Anteil bis 2017 bereits auf 15,7 % angewachsen (6). Gleichzeitig sind auch die krankheitsbedingten Fehlzeiten bei Erwerbstätigen sowie die Anzahl an Rehabilitationsmaßnahmen und Erwerbsminderungsrentenzugängen im Bereich der Deutschen Rentenversicherung aufgrund psychischer Erkrankungen gestiegen (7). Warum die Zahl der Betroffenen nach Angaben des RKI stagniert, obwohl sich die Versorgungsangebote und deren Inanspruchnahme in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet haben (zum Beispiel Zunahme psychiatrischer Krankenhausbetten und Verordnungen von Psychopharmaka, Anstieg psychiatrisch-stationärer Behandlungen), wird kontrovers diskutiert. Erklärungen setzen daran an, dass die spezifischen und an den Bedürfnissen orientierten evidenzbasierten Präventions- und Versorgungsangebote unzureichend implementiert und genutzt werden, die Morbidität wächst sowie der gesellschaftliche Umgang mit psychischen Erkrankungen sich wandelt (9). Weiterhin tragen Veränderungen in professionellen Konzepten psychischer Erkrankungen dazu bei, dass heute mehr Personen als krank eingestuft werden (10). Die Qualität und Leitliniengerechtigkeit der Versorgung in Deutschland wurden bislang nur unzureichend untersucht. So basieren die Ergebnisse des „Faktenchecks Gesundheit“ der Bertelsmann-Stiftung auf GKV-Routinedaten des Jahres 2011. Sie zeigen, dass ein erheblicher Teil der Patienten mit Depression nicht leitliniengerecht versorgt worden ist (11). Eine andere Querschnittstudie stellte fest, dass Patienten mit depressiven Störungen in der primärärztlichen Versorgung unterversorgt werden (12). Aktuellere Daten zu Patienten mit Depression belegen Probleme beim Übergang vom Klinikaufenthalt in die ambulante Versorgung (13).
Die vorliegende Studie verfolgte das Ziel, aktuelle Informationen über die Versorgungssituation von Patienten mit Depressionsdiagnose zu sammeln. Neben der Diagnosehäufigkeit sowie den Charakteristika und Komorbiditäten von Patienten mit Depression liegt der Fokus darauf, die Inanspruchnahme spezifischer Leistungen insbesondere nach Schweregrad abzubilden.
Methodik
Studiendesign und Datenbasis
Grundlage der Analysen sind Diagnose- und Abrechnungsdaten der AOK Niedersachsen. Diese zählt mit 2,9 Millionen Versicherten zu den größten gesetzlichen Krankenversicherungen Deutschlands und weist eine ähnliche Geschlechts- und Altersstruktur wie die Gesamtbevölkerung in Deutschland auf (14, 15).
GKV-Routinedaten werden aufgrund ihrer Eigenschaften zunehmend für Fragestellungen aus der (epidemiologischen) Versorgungsforschung verwendet (8). Auch hinsichtlich depressiver Erkrankungen wird vermehrt mit Routinedaten geforscht (6, 7, 16). In den vorliegenden Analysen wurden die Diagnose- und Leistungsdaten der ambulanten und stationären Sektoren sowie Arzneimittelverordnungen analysiert.
Zu diesem Zweck wurde die Versorgungssituation von Patienten mit Depressionsdiagnose querschnittlich betrachtet. Einschlusskriterien waren eine durchgängige Versicherung im Basisjahr 2018, im Vorbeobachtungszeitraum von 2015–2017 und im Nachbeobachtungsjahr 2019 sowie ein Alter von mindestens 18 Jahren (eGrafik 1). Der Vorbeobachtungszeitraum diente dazu, inzidente und prävalente Fälle zu unterscheiden. Mithilfe des Nachbeobachtungszeitraums wurden Veränderungen in der Diagnosestellung beziehungsweise im Schweregrad im Jahresvergleich abgebildet.
Klassifikation von Patienten mit Depression und Schweregradeinteilung
Versicherte wurden in die Analyse eingeschlossen, wenn bei ihnen im Jahr 2018 eine depressive Episode (F32), eine rezidivierende depressive Störung (F33) oder eine Dysthymia (F34.1) als gesicherte ambulante Diagnose oder als stationäre Hauptentlass- beziehungsweise Nebendiagnose codiert wurde. Bei der Einteilung der Erkrankung in unterschiedliche Schweregrade, die explizit in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) vorgesehen ist, sowie der Spezifität der Diagnosen orientierten wir uns am Vorgehen der Bertelsmann-Stiftung und des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Vereinigung (ZI) (6, 11). Patienten wurden dem höchsten codierten Schweregrad im Analysejahr 2018 zugeordnet. Wurden bei demselben Patienten sowohl spezifische als auch unspezifische Diagnosen codiert, wurde die spezifische Diagnose für die Klassifikation zugrunde gelegt. Die spezifischen Diagnosen umfassen die Schweregrade leicht (F32.0, F33.0, F34.1), mittelgradig (F32.1, F33.1) und schwer (F32.2, F33.2, F32.3, F33.3). Die Diagnosen sonstiger oder nicht näher bezeichneter depressiver Störungen (F32.8, F33.8, F33.4, F32.9, F33.9) wurden als unspezifisch zusammengefasst. Somatische und psychische Komorbiditäten wurden ebenfalls anhand der ICD-10-Diagnosen aus dem ambulanten und stationären Bereich definiert.
Versorgungssituation und Leistungsinanspruchnahme
Die Versorgungssituation und Inanspruchnahme von Leistungen wurden über ambulante Behandlungen, bei denen eine Depressionsdiagnose codiert wurde, über stationäre Behandlungen mit psychiatrischen Diagnosen sowie über spezifische Arzneimittelverordnungen abgebildet. In der ambulanten Versorgung wurden Behandlungen durch folgende Fachrichtungen unterschieden:
- hausärztlich tätige Medizinerinnen und Mediziner,
- spezialisierte Fachärzte (Fachärzte für Nervenheilkunde, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie, psychotherapeutisch tätige Mediziner) und
- psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.
Weiterhin wurde entsprechend der Psychotherapie-Richtlinie untersucht, inwiefern Leistungen in Anspruch genommen wurden (eTabelle 1). Diese wurden anhand der spezifischen Ziffern des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) identifiziert. Dabei wurde zwischen folgenden Leistungen unterschieden:
- nicht antragspflichtige Leistungen (zum Beispiel probatorische Sitzung, psychotherapeutische Sprechstunde)
- antragspflichtige Leistungen (zum Beispiel verhaltenstherapeutische Einzel- oder Gruppenbehandlung)
- psychodiagnostische Testverfahren (17, 18).
Um die stationäre Versorgung abzubilden, wurden alle Krankenhausaufenthalte mit einer Depression als Hauptentlassdiagnose sowie ergänzend mit einer Diagnose aus dem F-Kapitel untersucht. Im Bereich der Arzneimittelversorgung wurden gemäß anatomisch-therapeutisch-chemischer (ATC-)Klassifikation Verordnungen aus den Wirkstoffklassen der Antidepressiva (N06A) sowie ergänzend Lithium (N05AN), Antipsychotika (N05A) und Benzodiazepine (N05BA) betrachtet, da diese vereinzelt auch bei bestimmten Formen der Depression eingesetzt werden (19).
Statistische Auswertung
Die Datenauswertung erfolgte mithilfe der Software IBM SPSS Statistics 25. Die Analysen wurden primär deskriptiv durchgeführt. Gruppenvergleiche wurden mittels geeigneter Testverfahren (Chi-Quadrat-Test oder t-Test) durchgeführt. Dabei wurde der Signifikanzwert auf p ≤ 0,05 festgelegt.
Ergebnisse
Häufigkeit von Depressionsdiagnosen und Patientencharakteristika
Insgesamt wurden 1 618 681 Versicherte in die Analyse eingeschlossen. Von diesen wurde bei 285 568 Versicherte im Jahr 2018 eine Depressionsdiagnose codiert. Die administrative 1-Jahres-Prävalenz lag 2018 somit bei 17,6 %, während die administrative 1-Jahres-Inzidenz 2,6 % betrug. Bei Frauen war erstere mit 22,4 % fast doppelt so hoch wie bei Männern mit 12,3 % (p < 0,001). Sie nahm bei beiden Geschlechtern mit dem Alter zu und erreichte den Höchststand in der Altersgruppe von 61–65 Jahren, sank dann zunächst und stieg erneut an (Grafik 1).
Patienten mit einer diagnostizierten Depression waren im Mittel 57,5 Jahre alt, 67,5 % waren weiblich. Bei etwa drei von vier Patienten (73,8 %) lag mindestens eine weitere psychische Komorbidität vor. Die häufigsten Komorbiditäten kamen mit 57,1 % aus der Gruppe der neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (F40-F48) sowie mit 20,1 % aus jener der psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10-F19). Mit zunehmendem Schweregrad der depressiven Erkrankung traten psychische Komorbiditäten häufiger auf (p < 0,001). Eine Übersicht psychischer und somatischer Komorbiditäten ist in Tabelle 1 dargestellt.
Diagnosestellung und Schweregrad der Erkrankung
Insgesamt wurden in der Studienpopulation 1,28 Millionen gesicherte Depressionsdiagnosen im ambulanten Sektor vergeben. Fast die Hälfte aller codierten Depressionsdiagnosen war unspezifisch (47,2 %). Leichte Depressionen machten 11,2 %, mittelgradige 25,7 % und schwere 11,2 % aller Diagnosen aus. Dysthyme Störungen wurden vergleichsweise selten festgestellt (4,7 %).
64,2 % aller ambulanten Depressionsdiagnosen wurden von Hausärzten vergeben (davon 53,6 % unspezifisch). 15,8 % wurden von Fachärzten, die auf psychische Erkrankungen spezialisiert waren, oder psychologischen Psychotherapeuten gestellt (davon 14,4 % unspezifisch) und 20,0 % der Diagnosen kamen aus anderen Fachrichtungen wie zum Beispiel Gynäkologie und Orthopädie (davon 52,8 % unspezifisch).
Laut Differenzierung nach Schweregrad der Erkrankung auf Patientenebene litten 16,1 % der Betroffenen unter einer leichten, 30,3 % unter einer mittelgradigen und 16,2 % unter einer schweren Form der Depression. In 37,5 % der Fälle konnte kein Schweregrad zugeordnet werden, da hier ausschließlich unspezifische Depressionsdiagnosen vorlagen. Die Analyse nach Geschlecht ergab eine ähnliche Schweregradverteilung zwischen Männern und Frauen. Mit zunehmendem Alter verringerte sich der Anteil an Diagnosen von mittelgradiger oder schwerer Depression, wobei unspezifische Diagnosen gleichzeitig anstiegen (Tabelle 2).
Versorgungssituation und Leistungsinanspruchnahme
Bei 78,3 % aller Patienten wurde in hausärztlichen Praxen eine Depression diagnostiziert, womit diese die meisten Diagnosen stellten. Unter allen Personen mit Depressionsbefund hatten 18,7 % aufgrund der Depression Kontakt zu einem spezialisierten Facharzt und 5,1 % zu einem psychologischen Psychotherapeuten (Tabelle 3). Insgesamt nahmen im Jahr 2018 50,7 % der Versicherten mit Depressionsdiagnose eine nicht antragspflichtige psychotherapeutische Leistung gemäß Psychotherapie-Richtlinie in Anspruch und 6,2 % eine antragspflichtige (Details zu den Leistungen in eTabelle 2 und 3). 42 % der Diagnostizierten wurden Antidepressiva verschrieben (ATC-Klassifikation: N06A), sodass insgesamt 465 992 Verordnungen für diese ausgestellt wurden (Informationen zur medikamentösen Versorgung in eTabelle 4 und eGrafik 2). Aufgrund einer psychischen Erkrankung (F-Diagnose) stationär aufgenommen wurden 4,7 % der Betroffenen. Ein Klinikaufenthalt wegen einer depressiven Erkrankung wurde bei 2,2 % codiert.
Aufgrund der häufigen diagnostischen Unschärfe bei Patienten mit unspezifischer oder leichter Depression liegt der Fokus der vorliegenden Analysen auf Patienten mit einer mittelgradigen oder schweren Depression. Wenngleich sich etwa vier von fünf Patienten mit mittelgradiger (79,2 %) oder schwerer Depression (82,5 %) in hausärztlicher Versorgung befanden, stieg der Anteil der Patienten, die von einem spezialisierten Facharzt versorgt wurden, mit der Schwere der Erkrankung deutlich an (mittelgradige Depression: 25,8 %; schwere Depression: 41,1 %). Die Häufigkeiten der Versorgung bei einem psychologischen Psychotherapeuten (mittelgradige Depression: 9,7 %; schwere Depression: 9,2 %) sowie der Inanspruchnahme von nicht antragspflichtigen (mittelgradige Depression: 55,7 %; schwere Depression: 59,0 %) und antragspflichtigen Leistungen (mittelgradige Depression :10,6 %; schwere Depression: 10,2 %) nach Psychotherapie-Richtlinie unterschieden sich hingegen kaum. Weiterhin nahm mit dem Schweregrad die medikamentöse Versorgung zu. Von den Personen mit mittelgradiger Depression wurde 48,1 % mindestens einmal ein Antidepressivum verordnet, bei Patienten mit schwerer Symptomatik waren es 60,3 %. Aufgrund psychischer Erkrankungen stationär behandelt wurden vor allem Patienten mit schwerer Depression. So wurden von den schwer betroffenen Patienten 15,7 % aufgrund einer psychischen Erkrankung stationär versorgt und 10,7 % aufgrund der Depression. Unter den Patienten mit mittelgradiger Symptomatik waren dies 4,5 % (F-Diagnose) beziehungsweise 1,4 % (Depressionsdiagnose).
Übergreifend zeigt sich, dass es sich signifikant zwischen den Geschlechtern unterschied, wie häufig welche Leistungen in Anspruch genommen wurden. Während Männer häufiger fachärztlich behandelt wurden (p < 0,001), hatten Frauen mehr Kontakt zu psychologischen Psychotherapeuten (p < 0,001) und erhielten häufiger sowohl nicht antragspflichtige (p < 0,001) als auch antragspflichtige Leistungen (p < 0,001) nach Psychotherapie-Richtlinie. Weiterhin zeigte sich wie bereits dargestellt eine mit dem Schweregrad steigende Leistungsinanspruchnahme (alle p < 0,001).
Jahresbezogene Veränderung der Diagnose und des Schweregrades
Veränderungen in der Diagnosestellung und im höchsten codierten Schweregrad der Erkrankung vom Basisjahr 2018 gegenüber dem Folgejahr 2019 sind in Grafik 2 dargestellt.
Diskussion
Die vorliegende Studie untersuchte Charakteristika und die Versorgungssituation von Patienten mit Depressionsdiagnose anhand von GKV-Routinedaten. Damit ergänzt die Studie die aktuelle Literatur um wichtige Aspekte, die bei der Weiterentwicklung der Versorgung beachtet werden sollten. Im Rahmen der Analyse wurde für Depression eine administrative Prävalenz von 17,6 % im Jahr 2018 ermittelt. Dies entspricht der Größenordnung anderen GKV-Routinedatenanalysen. So wurde etwa in der Analyse des ZI eine administrative Prävalenz basierend auf ambulanten Daten der deutschen Gesamtbevölkerung von 15,7 % ermittelt (6). Laut älteren Daten betrug die Diagnosehäufigkeit depressiver Episoden (F32/F33) 16,3 % (7). Weiterhin bestätigten die Analysen eine erhebliche Komorbidität bezüglich psychischer und somatischer Erkrankungen.
Die aktuelle Leitlinie sieht eine Therapie in Abhängigkeit vom Schweregrad vor. Spezifische Haupt- und Zusatzsymptome unterstützen die Diagnosestellung und Schweregradklassifikation. Weiterhin empfiehlt die Leitlinie, einfache diagnostische Instrumente zur Schweregrad- und Verlaufsbeurteilung niederschwellig einzusetzen (19). Mit steigendem Schweregrad intensiviert und spezialisiert sich die Versorgung gemessen anhand des Anteils an Patienten mit Kontakt zu spezialisierten Behandlerinnen und Behandlern sowie anhand der Häufigkeit der Medikation. Dennoch erscheint die Versorgung insgesamt unzureichend. So erhalten beispielsweise nur 10 % der Patienten mit einer schweren Depression antragspflichtige Leistungen entsprechend der Psychotherapie-Richtlinie und nur 60 % der Patienten wurden Antidepressiva verordnet. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass einige Patienten eine medikamentöse Behandlung ablehnen. Aus der Analyse ergeben sich Hinweise, dass ein erheblicher Teil der Patienten nicht entsprechend der nationalen Versorgungsleitlinie therapiert wird (19), was die Schlussfolgerungen aus bisherigen Studien bestätigt (11, 12). Ursachen dafür lassen sich anhand der GKV-Routinedaten nicht feststellen, können jedoch sowohl versorgungsseitig (zum Beispiel unzureichende diagnostische Maßnahmen, Zeitknappheit), patientenseitig (zum Beispiel Ablehnen einer medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlung) oder strukturell bedingt sein (zum Beispiel mangelnder Zugang zu Fachspezialistinnen und -spezialisten, Wartezeiten). Dies gilt es in weiteren Studien näher zu analysieren.
Die vorliegende Studie hat Stärken und Schwächen, die mit der Nutzung von GKV-Routinedaten einhergehen (8, 20, 21). Die Stärken liegen insbesondere in der hohen Fallzahl und dem Ausschluss von Selektionseffekten, wie sie bei Befragungen vorkommen. Ein Nachteil sind fehlende Informationen zu patientenberichteten Versorgungsaspekten wie erlebter Symptomatik und Therapiepräferenzen. Es ist bekannt, dass sich Prävalenzschätzungen teilweise erheblich von systematischen Erhebungen unterscheiden, je nachdem, ob es sich um vom Patienten selbst berichtete ärztliche Diagnosen, solche nach Anwendung standardisierter Instrumente oder um GKV-Diagnosedaten handelt (22). Weiterhin wird kritisch beurteilt, wie valide Depressionsdiagnosen in Abrechnungsdaten sind, insbesondere im hausärztlichen Bereich, was bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden muss (11, 22, 23). Zusätzlich ist zu beachten, dass die Nutzung und Angemessenheit der Strategie des abwartenden Beobachtens („watchful waiting“) oder niedrigschwelliger psychosozialer Interventionen anhand von GKV-Daten nicht überprüft werden und unter Umständen für viele Patienten mit einem leichten Verlauf ausreichen kann. In der vorliegenden Arbeit wurden im ambulanten Bereich nur Diagnosen und Leistungen von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeuten sowie Institutionen, die über den EBM-Katalog abrechnen, berücksichtigt. Ambulante Behandlungen in Krankenhäusern, die andere Abrechnungswege nutzen, wie zum Beispiel psychiatrische Instituts- oder Hochschulambulanzen, wurden nicht einbezogen. Dadurch wird jedoch nur leicht unterschätzt, wie häufig Leistungen in Anspruch genommen wurden, da der Weg in diese spezialisierten Versorgungsformen üblicherweise über den niedergelassenen Bereich führt. Ebenso wurden keine Substanzen, insbesondere keine pflanzlichen oder homöopathischen Mittel, berücksichtigt, die über Privatrezepte verordnet wurden. Veränderungen der Krankheitsschwere im zeitlichen Verlauf können über GKV-Daten nur näherungsweise abgebildet werden, was dem episodischen Charakter der Erkrankung nicht gerecht wird. Für genauere Ergebnisse sind andere Forschungsansätze notwendig.
Die Analysen gewähren einen Einblick in Charakteristika und Leistungsinanspruchnahmen von Patienten mit Depressionsdiagnose. Die Ergebnisse liefern Hinweise darauf, dass die Patienten nicht immer gemäß den Leitlinienempfehlungen versorgt werden. Wichtige Aspekte wie eine korrekte Diagnosestellung, Schweregradbestimmung sowie Einleitung einer leitlinienorientierten Therapie sollten daher verstärkt in Fort- und Weiterbildungen, insbesondere im hausärztlichen Bereich, geschult werden.
Interessenkonflikt
Prof. Kahl ist Mitglied im Advisory Board von Janssen/J&J, neuraxpharm und Takeda. Er bekam Vortragshonorare von Servier, Eli Lilly, Dr. Schwabe, Alexion, Aristo, Berlin Chemie, Janssen, Johnson& Johnson, Otsuka, neuraxpharm sowie Takeda. Studienunterstützung (Drittmittel) wurde ihm zuteil von Sevier und Tromsdorff/Ferrer.
Die übrigen Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 21.01.2022, revidierte Fassung angenommen: 14.04.2022
Anschrift für die Verfasser
Dr. PH Jona T. Stahmeyer
Stabsbereich Versorgungsforschung
AOK – Die Gesundheitskasse für Niedersachsen
Hildesheimer Straße 273, 30519 Hannover
Jona.Stahmeyer@nds.aok.de
Zitierweise
Stahmeyer JT, Märtens C, Eidt-Koch D, Kahl KG, Zeidler J, Eberhard S: The state of care for persons with a diagnosis of depression—an analysis based on routine data from a German statutory health insurance carrier. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 458–65. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0204
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eTabellen, eGrafiken:
www.aerzteblatt.de/m2022.0204 oder über QR-Code
Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Fakultät Gesundheitswesen, Wolfsburg: Prof. Dr. rer. pol. Daniela Eidt-Koch
Medizinische Hochschule Hannover, Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Hannover: Prof. Dr. med. Kai G. Kahl
Leibniz Universität Hannover, Center for Health Economics Research Hannover (CHERH), Institut für Gesundheitsökonomie (IHE), Hannover: PD Dr. rer. pol. Jan Zeidler
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Deutsches Ärzteblatt international, 202310.3238/arztebl.m2022.0337
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Deutsches Ärzteblatt international, 202310.3238/arztebl.m2022.0339
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Deutsches Ärzteblatt international, 202310.3238/arztebl.m2022.0335
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Deutsches Ärzteblatt international, 202310.3238/arztebl.m2022.0336
Gahr, Maximilian
Quante, Arnim
Müller-Oerlinghausen, Bruno
Klement, Andreas; Petzold, Christian
Stahmeyer, PH Jona T.