THEMEN DER ZEIT
Einsamkeit und soziale Isolation: Auf der Suche nach Evidenz


Die Auswirkungen von Einsamkeit auf die psychische und die körperliche Gesundheit sind hoch. Betroffen sind vor allem jüngere Erwachsene und ältere Menschen. Die Bundesregierung will mit einer Strategie gegen Einsamkeit gegensteuern und Maßnahmen evaluieren.
Einsamkeit und soziale Isolation ist verbreiteter als man vielleicht annehmen könnte. Betroffen sind rund acht Millionen Menschen in Deutschland, also rund zehn Prozent von 80 Millionen Einwohnern. 15 Prozent und mehr sind in bestimmten Altersgruppen betroffen, darunter vor allem jüngere Erwachsene und ältere Menschen.
Die Auswirkungen von Einsamkeit auf die psychische und die körperliche Gesundheit sind hoch. Depression und Angsterkrankungen gehören dazu, aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und immunologische Störungen. Einer Studie von Holt-Lunstad (2015) zufolge steigt die Mortalität chronisch einsamer Menschen um 26 Prozent an; bei Isolation sogar um 29 Prozent und um 32 Prozent bei Alleinlebenden. Soziale Isolation ist der Studie nach stärker für Sterblichkeit verantwortlich als Rauchen oder Alkoholkonsum.
Um Einsamkeit entgegenzuwirken, will das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) zusammen mit dem Kompetenznetz Einsamkeit (KNE) eine Strategie gegen diesen Zustand entwickeln. Das BMFSJ hat am 14. Juni bei einer Fachkonferenz in Berlin den Startschuss dafür gegeben. „Es geht darum, wie Einsamkeit vorgebeugt und bekämpft werden kann. Wir wollen evidenzbasierte Strukturen schaffen“, erklärte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen). Das Thema müsse aus zivilgesellschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Perspektive betrachtet werden. Paus will das Vorhaben bis Ende der Legislaturperiode umsetzen. Beteiligt werde solle auch der Bundesgesundheitsminister. „Mit Karl Lauterbach bin ich hierüber im Gespräch“, sagte Paus.
Kompetenznetz Einsamkeit
An der Strategie beteiligt sind das vor Kurzem gegründete KNE, ein Projekt, das das bestehende Wissen zum Thema Einsamkeit bündeln soll. „Wir sind in einer Suchbewegung. Noch ist nicht klar, wie man am besten gegen Einsamkeit vorgehen kann, welche Maßnahmen wirklichhelfen“, erklärte Benjamin Landes, Direktor des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS), Träger des KNE. Wenngleich es eine Vielzahl von Projekten gebe.
Einsamkeit hat während der COVID-19-Pandemie in allen Altersgruppen stark zugenommen, berichtete Prof. Dr. phil. Maike Luhmann, Ruhr-Universität Bochum, bei der Auftaktveranstaltung des KNE im Februar. Besonders betroffen von diesem Anstieg seien Jugendliche und junge Erwachsene, Eltern kleiner Kinder und Alleinlebende. Die jungen Erwachsenen bis etwa 30 Jahre liegen der Wissenschaftlerin zufolge an der Spitze derjenigen, die sich einsam fühlen. „Obwohl sich vermuten lässt, dass die Coronamaßnahmen eine Rolle spielen, sind die Gründe für Einsamkeit im jüngeren Erwachsenenalter – im Gegensatz zu den älteren Erwachsenen – noch nicht gut erforscht“, sagte die Psychologin.
Das Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA) beobachte regelmäßig das Einsamkeitserleben von älteren Erwachsenen, berichtete Dr. phil. Oliver Huxhold bei der Fachkonferenz „Gemeinsam gegen Einsamkeit“. Danach erlebten etwa neun Prozent aller Menschen im Alter zwischen 46 und 90 Jahren 2017 tiefste Einsamkeit. Die Raten unterschieden sich leicht zwischen den Altersgruppen. Menschen im Alter zwischen 46 und 65 Jahren litten zu etwa elf Prozent unter Einsamkeit und etwa acht Prozent der Menschen zwischen 66 und 90 Jahren. „Es sind also gerade nicht die Ältesten, die ein besonders hohes Einsamkeitsrisiko aufweisen“, betonte Huxhold. In den ersten Monaten der Coronapandemie im Sommer 2020 sei diese Quote in allen Gruppen auf fast 14 Prozent angestiegen. Kaum Unterschiede gibt es der DZA zufolge zwischen Frauen und Männern. Einfluss hat allerdings die Bildung bei Menschen ab 46 Jahren: je niedriger das Bildungsniveau, desto höher ist das Einsamkeitsrisiko.
Wie viele Menschen man um sich herum brauche, um sich nicht einsam zu fühlen, sei individuell sehr unterschiedlich, betonte Luhmann. „Es gibt keine einheitliche Messung von Einsamkeit.“ Dennoch gebe es individuelle Risikofaktoren für Einsamkeit. Dazu gehören: Introvertiertheit, emotionale Instabilität, Arbeitslosigkeit beziehungsweise Armut, Leben ohne Partner, Migrationshintergrund sowie schlechte Beziehungen zu anderen Menschen. Auch Brüche im sozialen Umfeld, ein Umzug, Trennungen sowie der Tod nahestehender Menschen könnten ein Grund für Einsamkeit sein.
Auch Menschen mit einer nicht-heterosexuellen Orientierung seien häufiger von Einsamkeit betroffen, berichte Ska Salden von der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien. Für Trans*personen gelte dies noch einmal mehr. „Der Grund dafür ist unsere heteronormative Gesellschaft: Neben offenen Feindseligkeiten gegenüber LSBTIQ*-(lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter* und queer)Personen finden auch viele subtile, meist unbeabsichtigte Ausgrenzungen statt.“ Manche Menschen hielten ihre nicht heterosexuelle Orientierung zudem in manchen Lebensbereichen geheim, aus Angst vor negativen Reaktionen. „Auch das macht einsam“, betonte Salden.
Einsamkeit bei Geflüchteten
Einsamkeit ist auch eine große Herausforderung von geflüchteten Menschen. „Hierbei geht es um das Zugehörigkeitsgefühl. Sprechen wir über Einsamkeit von Geflüchteten sind die Menschen ja nicht nur geografisch vertrieben, also weit weg von dem bekannten zuhause, sondern auch emotional und relational. Das heißt, dass durch Flucht soziale, wirtschaftliche und kulturelle Realitäten zurückgelassen werden, zu denen starke soziale, psychologische und emotionale Bindungen bestehen“, erklärte Theresa Herzog von der Wirtschaftsuniversität Wien anlässlich der Fachkonferenz.
Prof. Dr. med. Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin, zufolge braucht es andere Menschen, um sich einsam zu fühlen. Entscheidend sei das sich ausgeschlossen fühlen von der Gemeinschaft. „Selbstgewähltes Alleinsein ist zudem nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen, sondern in Ordnung und oft sogar ein Privileg“, sagte er bei der Fachkonferenz (Interview).
Was hilft gegen Einsamkeit sind nach Angaben von Einsamkeitsforscherin Luhmann das Aufrechterhalten oder der Aufbau von sozialen Netzwerken und sozialen Kontakten. Auch ehrenamtliche Unterstützung und soziale Kompetenztrainings könnten möglicherweise helfen – wie konkret, sei aber nicht genau bekannt. „Was man wirklich weiß, ist die Wirkung von Veränderung kognitiver Muster beispielsweise durch kognitive Verhaltenstherapie“, erklärte Luhmann. „Es bestehen jedoch große Lücken in der therapeutischen Versorgung – auch hier muss man ansetzen.“
In dieselbe Richtung gehen die Vorschläge von Altersforscher Huxhold: „Die Qualität der Beziehungen ist für alle Jahrgänge einer der wichtigsten Schutzfaktoren für die Vermeidung von Einsamkeit. Deshalb sind Maßnahmen, die die Qualität der bestehenden Beziehungen verbessern oder neue enge soziale Kontakte aufbauen, fast immer hilfreich.“ Im Gegensatz dazu entstehe Einsamkeit im höheren Lebensalter häufiger durch schwindende Möglichkeiten, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Darum könne es sinnvoll sein, Kontaktmöglichkeiten für diese Gruppe zu schaffen, um Einsamkeit vorzubeugen. Solche Angebote seien allerdings wenig sinnvoll, wenn die Betroffenen schon sehr lange unter Einsamkeit leiden. „Chronisches Einsamkeitserleben beeinträchtigt den Selbstwert und verringert soziale Fähigkeiten. Ältere Menschen, die über einen langen Zeitraum Einsamkeit erlebt haben, benötigen psychotherapeutische Hilfe“, sagt Huxhold. Hier müssten mehr Angebote geschaffen werden.
Eine Arbeitsgruppe unter der Federführung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) hat gerade im Auftrag des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersucht, welche Maßnahmen bei älteren Menschen, die potenziell von Isolation und Einsamkeit bedroht sind, helfen könnten. Sie fand einen Anhaltspunkt dafür, dass eine professionell geleitete Gruppenarbeit die soziale Unterstützung erhöht. Daneben gebe es weitere Anhaltspunkte, dass Besuchsprogramme durch Ehrenamtliche die Lebenszufriedenheit steigern beziehungsweise die Angstsymptome reduzieren können. Außerdem zeigten die Studien ebenso Hinweise, dass ein professionell geleitetes Gruppenangebot die Mortalität senkt und den selbst berichteten Gesundheitszustand verbessert. Insgesamt sei die Studienlage aber unbefriedigend und müsse verbessert werden, so die Wissenschaftler.
WHO-Kommission Einsamkeit
Um bei Menschen mit nicht heterosexueller Orientierung Einsamkeit entgegenzuwirken, ist nach Ansicht von Ska Salden ein grundlegender Wandel in der Gesellschaft nötig. „Dann, wenn LSBTIQ*-Personen nicht mehr diskriminiert und subtil ausgegrenzt werden, in Filmen und Büchern genauso selbstverständlich vorkommen, sehe ich Chancen, dass sie nicht mehr in die Einsamkeit gedrängt werden.“
Der Vertreter der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Christopher Mikton, kündigte bei der Fachkonferenz an, dass die WHO Anfang 2023 eine eigene Kommission zum Thema Einsamkeit gründe wolle, „um die politische Sichtbarkeit zu stärken“. Zunächst müsse aber die Evidenz zu geeigneten Präventionsmaßnahmen zusammengetragen werden. Die WHO erarbeitet nach seinen Angaben gerade eine „Richtlinie gegen soziale Isolation“. Petra Bühring
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