THEMEN DER ZEIT
Arzneimittel: Welcher Preis ethisch vertretbar ist


Das Gesundheitswesen steht vor einem Dilemma: Immer mehr teils multimorbide Patienten können mit neuen, hochwirksamen Arzneimitteln behandelt oder gar geheilt werden. Doch die Ausgaben dafür wären enorm. Der Deutsche Ethikrat hat sich auf seiner Jahrestagung mit dem Problem befasst.
Die Preise neuer Arzneimittel sind in den vergangenen Jahren teils deutlich angestiegen. Vor dem Hintergrund des fortschreitenden demografischen Wandels hat sich der Deutsche Ethikrat auf seiner Jahrestagung Ende Juni mit der Frage beschäftigt: „Hohe Preise – gute Besserung? Wege zur gerechten Preisbildung bei teuren Arzneimitteln“.
„Für einige zuvor kaum therapierbare seltene Erkrankungen gibt es inzwischen hochwirksame, aber teils sehr teure Medikamente“, erklärte der Ethikrat. „Preise von zwei Millionen Euro pro einmalig notwendige Dosis oder 275 000 Euro für ein Behandlungsjahr bringen eine Reihe ethischer Probleme mit sich, insbesondere, weil weitere hochpreisige Arzneimittel für die kommenden Jahre erwartet werden.“ Dabei gelte es, die Ansprüche von Versicherten auf bestmögliche Behandlung sowie die Ansprüche forschender Arzneimittelhersteller auf Refinanzierung ihrer Investitionen gegen das Erfordernis abzuwägen, Gesundheitskosten und insbesondere Krankenkassenbeiträge nicht beliebig ansteigen zu lassen.
Unbezahlbarer Zusatznutzen
Der Bundesvorsitzende des Vereins Mukoviszidose, Stephan Kruip, der zugleich Mitglied des Ethikrats ist, erklärte die Situation aus Sicht eines Mukoviszidosepatienten. Früher habe die mehrstündige tägliche Therapie Inhalationen, die Einnahme von Antibiotika, Sport und eine Atemtherapie zur Reinigung der Lunge beinhaltet. Seit das Medikament Kaftrio® im August 2020 auf den Markt gekommen sei, habe sich die Therapie grundlegend geändert. Heute müssten die betroffenen Patienten nur noch drei Tabletten am Tag einnehmen. Dadurch sei die Lebensqualität für sie deutlich angestiegen.
„Für die Patienten ist das ein unbezahlbarer Zusatznutzen“, sagt Kruip. „Unbezahlbar ist aber zugleich auch der Preis des Medikaments.“ Eine Therapie mit Kaftrio® koste 21 000 Euro pro Monat. Die Jahrestherapiekosten lägen insofern bei 250 000 Euro. Heute könnten 80 Prozent der etwa 6 500 Mukoviszidosepatienten in Deutschland das Medikament nehmen. Die Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung lägen damit bei mehr als 1,3 Milliarden Euro pro Jahr. Die Produktionskosten für Kaftrio® würden hingegen nur auf 450 Euro pro Monat geschätzt. Das entspreche 2,1 Prozent des Verkaufspreises. „Um einem Patienten dieses Medikament zu finanzieren, müssen 78 völlig gesunde Versicherte ihren monatlichen Beitrag von durchschnittlich 270 Euro zahlen“, erklärte Kruip und fragte: „Wann wird die Solidarität der Gemeinschaft überspannt?“
Markus Zimmermann von der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin der Schweiz erklärte, dass jede Gesellschaft in der Gesundheitsversorgung Grenzen setze. Fair seien diese Grenzen, wenn die Ansprüche „Gleichbehandlung aller“ und „Nutzenmaximierung“ integriert würden. „Einerseits geht es darum, dass niemand diskriminiert werden darf“, sagte Zimmermann. „Andererseits dürfen aber auch keine Mittel verschwendet werden.“ Dabei könnten die Verteilungskriterien entweder von einem Expertengremium erarbeitet werden oder innerhalb eines öffentlichen Diskurses. Das britische National Institute for Health and Care Excellence habe zum Beispiel einen Citizen Council gebildet, der entschieden habe, eine Ungleichbehandlung in Kauf zu nehmen, um eine Verschwendung der Mittel zu verhindern.
Fatale Entscheidung
Zimmermann berichtete von dem Wirkstoff Sofosbuvir, der 2014 zur Behandlung von Patienten mit Hepatitis C auf den Markt kam. „Sofosbuvir ist ein sehr effizienter Wirkstoff, mit dem man Hepatitis C heilen kann“, sagte er. „Er ist aber auch sehr teuer.“ Bei der großen Anzahl der behandlungsbedürftigen Patienten hätte ein sofortiger Zugang des Medikaments für alle Patienten dazu geführt, dass die Gesundheitsausgaben in der Schweiz um zwei Milliarden Franken angestiegen wären. In der Folge hätten auch die Versicherungsbeiträge ansteigen müssen. Mehr Menschen in der Schweiz hätten sich die Beiträge nicht mehr leisten können und wären auf eine Schwarze Liste geraten. Dann hätten sie nur noch in Notfällen behandelt werden können. „In der Schweiz hat man entschieden, nur Patienten mit starken Krankheitssymptomen Sofosbuvir zu geben“, sagte Zimmermann. Dadurch seien die Beiträge nicht angestiegen. Für viele Patienten, die von einer Behandlung mit Sofosbuvir profitiert hätten, sei diese Entscheidung jedoch fatal gewesen.
Zimmermann sprach sich dafür aus, teure Arzneimittel, die eine Krankheit heilen können – wie zum Beispiel Sofosbuvir –, in einem Hochlohnland auch allen betroffenen Patienten zur Verfügung zu stellen. Wenn der Zusatznutzen nur gering ist, sollte man einen hohen Preis jedoch nicht bezahlen. In jedem Fall lasse sich das Rad immer höherer Preise für neue Arzneimittel nicht immer weiterdrehen. „Deshalb ist es unumgänglich, hart mit der Industrie zu verhandeln“, meinte Zimmermann.
Das größte Problem stellten allerdings die Behandlungen von seltenen Erkrankungen dar. Denn da nur wenige Patientinnen und Patienten behandelt werden könnten, müssten die Preise berechtigterweise hoch sein. „Hier benötigt man Sonderregelungen, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden“, so Zimmermann. „Mit der heutigen Präzisionsmedizin in der onkologischen Spezialbehandlung kann mittlerweile jede Person anders – und meist off-label – behandelt werden.“ Das sei eine komplett neue Herausforderung, für die es zurzeit noch keine Antwort gebe.
Der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, befürwortete das deutsche Vorgehen, neue Arzneimittel nach der Zulassung schnell auf dem Markt verfügbar zu machen. „Dadurch, dass wir keine vierte Hürde im System haben, sind wir in Deutschland in der glücklichen Situation, neue Arzneimittel in durchschnittlich 50 Tagen nach der Zulassung in der Versorgung zu haben“, sagte Hecken. In Spanien seien es 378 Tage. In diesem Zeitraum würden viele Patienten versterben, die von dem neuen Arzneimittel profitiert haben könnten. Für dieses Vorgehen zahle Deutschland allerdings einen hohen Preis. Denn viele der neuen Wirkstoffe seien ohne einen wirklichen Mehrwert.
Zugleich wies Hecken auf Probleme für das System hin, die durch den demografischen Wandel entstehen. Denn die Zahl der Rentner werde in den kommenden Jahren ansteigen – und somit auch die Zahl der multimorbiden Menschen. Der medizinische Fortschritt ermögliche es, diese Patienten immer besser zu behandeln. Zu einem hohen Preis. „Das Verordnungsvolumen von Orphan Drugs lag 2020 bei 0,06 Prozent. Sie machten allerdings 11,6 Prozent des Bruttoumsatzes des GKV-Arzneimittelmarkts aus“, sagte Hecken. „Bei den Onkologika sind es 1,2 Prozent der Verordnungen und 20,5 Prozent des Umsatzes.“ Gleichzeitig sei jedoch weniger Geld im System, da die Rentner weniger Beiträge zahlten. „Dann wird es Verteilungskämpfe geben“, sagte Hecken. „Und bevor ich priorisiere, wäre es mir lieber, vernünftig darüber zu diskutieren, was als Gewinn für die Hersteller noch anständig ist und was nicht mehr.“
Mehr Informationen
Vor diesem Hintergrund sprach sich Hecken dafür aus, dass die Hersteller mehr Informationen darüber offenlegen müssen, was sie in die Herstellung des betreffenden Medikaments investiert haben. „Darüber haben wir heute in den Preisverhandlungen keine Transparenz“, kritisierte Hecken. Natürlich müsse dabei berücksichtigt werden, dass die Hersteller auch Arzneimittel einpreisen müssten, die es nicht auf den Markt geschafft haben. Und natürlich sollten die Hersteller nicht alle Informationen über die Investitionen bekannt geben. „Aber sie sollten dazu verpflichtet werden, zumindest grobe Angaben in den Verhandlungen zu machen“, forderte Hecken. „Man könnten sie zum Beispiel dazu verpflichten, offenzulegen, wie viele öffentliche Mittel in die Entwicklung des Medikaments geflossen sind.“
Hecken betonte, dass das Gesundheitswesen kein echter Markt sei. „Wenn ich einen Toaster kaufe, treffe ich die Entscheidung für mich persönlich“, sagte er. „Hier aber ist es die Solidargemeinschaft der Abnehmer. Hier kann man ein gewisses Maß an Grundtransparenz einfordern. Sonst führen wir bei den Preisverhandlungen eine Phantomdiskussion.“ Falk Osterloh
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