ArchivDeutsches Ärzteblatt29-30/2022Digitalisierung des Gesundheitswesens: Wissenschaftsrat beklagt Defizite

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Digitalisierung des Gesundheitswesens: Wissenschaftsrat beklagt Defizite

Richter-Kuhlmann, Eva

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Telemedizin kann die Versorgung verbessern – das hat sich unter anderem während der Pandemie gezeigt. Foto: Wavebreakmedia/iStock
Telemedizin kann die Versorgung verbessern – das hat sich unter anderem während der Pandemie gezeigt. Foto: Wavebreakmedia/iStock

Von einem digitalisierten Gesundheitssystem ist Deutschland nach Ansicht des Wissenschaftsrates noch weit entfernt. In seinem aktuellen Positionspapier mahnt das Gremium mehr Initiative an. Die Digitalisierung sei Voraussetzung für die datenintensive Gesundheitsversorgung und -forschung.

Aus ihrer Ungeduld macht die amtierende Vorsitzende des Wissenschaftsrates keinen Hehl: „Man kann gar nicht oft genug darauf hinweisen, wie wichtig die Digitalisierung in Gesundheitsforschung und Versorgung für Wohlstand, Unabhängigkeit und Innovationskraft des Standorts Deutschland ist, aber vor allem für den einzelnen Menschen und sein Wohlergehen“, sagt Prof. Dr. rer. nat. Dorothea Wagner, Informatikerin am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), bei der Vorstellung des jüngsten Positionspapiers des Wissenschaftsrates „Digitalisierung und Datennutzung für Gesundheitsforschung und Versorgung“. Dieses wurde während der Sommersitzungen des Gremiums Anfang Juli in Magdeburg beschlossen.

In dem Papier spart das interdisziplinär besetzte Gremium, das die Politik berät, nicht mit Kritik: Das deutsche Gesundheitssystem hinkt aus seiner Sicht bei der Digitalisierung im Vergleich zu anderen Industrienationen deutlich hinterher. Erst in jüngerer Zeit seien verstärkte Anstrengungen bezüglich der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu erkennen.

Enormer Nachholbedarf

Auch wenn Gesundheit einen besonders sensiblen Bereich darstelle und eine gewisse Zurückhaltung plausibel sei, würden die Risiken von Digitalisierung und Datennutzung gegenüber den Chancen, die sie biete, vielfach überbetont, meint Wagner und bedauert, dass ein gesellschaftlicher Konsens zur Nutzung und zum Teilen von Gesundheitsdaten immer noch nicht erkennbar sei. Dabei wird sie deutlich: „Die Nichtnutzung von Daten kann Menschenleben kosten“, erklärt sie. Deutschland habe bei der Digitalisierung „auf breiter Front einen enormen Nachholbedarf“.

„Das ist eine Aufgabe von nationaler Tragweite“, bekräftigt der Vorsitzende des Ausschusses Medizin des Wissenschaftsrats, Prof. Dr. med. Wolfgang Wick. Es müsse eine Vorstellung entwickelt werden, wie die Digitalisierung in Forschung und Versorgung aussehen solle, betont der Ärztliche Direktor für klinische Neuroonkologie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen an der Universität Heidelberg. Investitionen in die Digitalisierung des Gesundheitswesens seien Investitionen in die Zukunft und müssten von der öffentlichen Hand vorgenommen werden.

Konkret gelte es, das im Koalitionsvertrag festgehaltene Gesundheitsdatennutzungsgesetz möglichst rasch voranzubringen, so Wick. Noch seien in Deutschland nur wenige Gesundheitsdaten verfügbar beziehungsweise diese seien an unterschiedlichen Orten abgelegt, was eine Auswertung und Verwertung erschwere und zu Nachteilen bei der Gesundheitsversorgung führe. „Wir brauchen Interoperabilität“, fordert der Neuroonkologe. Das geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz könne da einen wichtigen Beitrag leisten. Ein nationales Gesundheitsdatenportal könne ferner Informationen über die dezentralen Datenbestände vermitteln und Forschende beim Zugang unterstützen.

Schub durch die Pandemie

Positiv bewertet der Wissenschaftsrat die in den letzten Jahren gestarteten Initiativen des Bundes, wie die Medizininformatik-Initiative und das Netzwerk Universitätsmedizin. Zusätzlichen Schub habe die COVID-19-Pandemie gebracht, die eine „Missing-Data-Krise“ offengelegt und der Bevölkerung die Vorteile digitaler Gesundheitsangebote vor Augen geführt habe. Doch das reicht nicht. „Digitalisierung muss standardisiert werden“, fordert der Intensivmediziner Prof. Dr. med. Gernot Marx, Sprecher des Vorstands des Innovationszentrums Digitale Medizin Aachen, der als Gast des Ausschusses Medizin des Wissenschaftsrats an der Erarbeitung des Positionspapiers beteiligt war. „Wir müssen jetzt ins Doing kommen“, betont er. Auch angesichts des demografischen Wandels laufe Deutschland ansonsten die Zeit davon. Besonders wichtig sei die Vernetzung zwischen Akteuren über Sektoren- und Einrichtungsgrenzen hinweg. Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann

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