ArchivDeutsches Ärzteblatt31-32/2022Substanzkonsum in der Bevölkerung – Plädoyer für eine ausgewogene Debatte
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Der Konsum psychoaktiver Substanzen ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Der zumindest gelegentliche Gebrauch von Alkohol, Nikotin oder Medikamenten wie beispielsweise nichtopioiden Analgetika wird von vielen Menschen als normal empfunden. Gerade was Alkohol angeht lebt nur ein kleiner Teil der erwachsenen Bevölkerung vollständig abstinent. Die weite Verbreitung von psychoaktiven Substanzen erhöht allerdings auch das Risiko eines riskanten Gebrauchs oder gar einer Abhängigkeit bei einem Teil der Konsumierenden, woraus sich ihre große Bedeutung für die öffentliche Gesundheit und die Volkswirtschaft ergibt. Der Konsum von Nikotin und Alkohol ist dabei in Deutschland für 96 % der geschätzten jährlichen Folgekosten in Höhe von 160 Milliarden Euro verantwortlich und für den gleichen Anteil (96 %) der weltweiten Todesfälle, die ursächlich mit der Nutzung von psychoaktiven Substanzen zusammenhängen (1).

Tatsächlich erleidet aber nur ein kleiner Teil der Konsumierenden Gesundheitsschäden oder andere negative Folgen durch den Konsum von Alkohol, Tabak oder anderen Substanzen. Es ist deshalb von besonderem Interesse diejenigen Bevölkerungsgruppen zu identifizieren, die einen hochriskanten Substanzkonsum berichten, damit die körperlichen und psychischen Folgen möglichst verhindert oder frühzeitig behandelt werden können.

Konsum von Alkohol und Nikotin auf hohem Niveau

Repräsentativbefragungen wie der Epidemiologische Suchtsurvey (ESA) können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Seit den 1980er Jahren erfasst der ESA in regelmäßigen Zeitabständen den Konsum von Alkohol, Tabak, illegalen Drogen und Medikamenten in der deutschen Allgemeinbevölkerung. Zwischen 1995 und 2018 konnte auf der Basis dieser Daten ein Rückgang des Konsums von Nikotin, Alkohol und sedierenden Medikamenten für Frauen und Männer in Deutschland festgestellt werden (2).

Während auch riskante Konsumformen, zum Beispiel das episodische Rauschtrinken, bei Männern kontinuierlich abgenommen haben, war bei Frauen zuletzt ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Im Jahr 2020 gab es trotz rückläufigen Konsums das erste Mal seit Jahren wieder einen Anstieg in der alkoholbedingten Mortalität bei Frauen und Männern (3). Insgesamt zählt Deutschland nach wie vor weltweit zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf Konsum von Alkohol und einem Raucheranteil über dem europäischen Durchschnitt (4). Darüber hinaus könnten die Erfolge der Tabakprävention in den letzten Jahrzehnten gerade bei jungen Erwachsenen durch die inzwischen in verschiedenen Varianten verfügbaren alternativen Tabak- und Nikotinprodukte infrage gestellt werden (5). So zeigt sich anhand der nun vorliegenden ESA-Daten, dass ein bedeutsamer Anteil von jungen Erwachsenen entsprechende Produkte nutzt. Zumindest bei einem Teil von ihnen ist zu befürchten, dass der Nikotinkonsum auch langfristig beibehalten wird, sodass die Prävalenz der Nikotinabhängigkeit künftig wieder steigen könnte.

Zunahme des Cannabiskonsums über die Jahre

Auch in Bezug auf Cannabis war in den letzten 25 Jahren eine deutliche Zunahme des Konsums in der Bevölkerung zu beobachten. So hat sich der Anteil der Konsumierenden von 1995 bis 2018 in etwa verdoppelt, allerdings ohne dass ein Anstieg von cannabisbezogenen Störungen zu verzeichnen gewesen wäre (2). Die nun vorgelegten Zahlen zeigen eine weitere Zunahme der 12-Monats-Prävalenz von Cannabiskonsum um 1,7 Prozent (1).

Dabei erstaunt der hohe Anteil der Konsumierenden von Cannabis, deren Konsum von Rauschert et al. als problematisch mit „Hinweis auf Abhängigkeit“ interpretiert wurde. Bisherige Studien deuteten darauf hin, dass etwa jede zehnte Person mit regelmäßigem Cannabiskonsum eine Abhängigkeit aufweist (6). Verantwortlich für diese Diskrepanz ist offensichtlich die Interpretation der Ergebnisse, die anhand der Severity of Dependence Scale (SDS) ermittelt wurden. Einen Hinweis auf „problematischen Konsum“ hier mit einem „Hinweis auf Abhängigkeit“ gleichzusetzen, könnte durchaus kontrovers diskutiert werden.

Kontrollierte Abgabe von Cannabis

Wie die Daten epidemiologischer Surveys erhoben und interpretiert werden, ist vor dem Hintergrund der geplanten regulierten Abgabe von Cannabis nicht nur von akademischem Interesse. Den Risiken, die mit dem Konsum einhergehen, stehen Chancen einer kontrollierten Abgabe gegenüber, für die sorgfältig ein Rahmen gesetzt werden muss.

Letztlich stellt gerade die im letzten Jahrzehnt beobachtete Zunahme des Cannabiskonsums in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung ein wichtiges Argument für die geplante Abgabe dar. Im Vordergrund stehen dabei der Gesundheits- und Verbraucherschutz, aber auch verbesserte Möglichkeiten zur Prävention und eine sinnvollere Allokation der aktuell in die Strafverfolgung investierten Mittel. So kann durch eine kontrollierte Abgabe die Qualität des konsumierten Cannabis für die inzwischen signifikante Zahl von Konsumierenden sichergestellt werden.

Besondere Risiken sind derzeit mit dem Gebrauch von synthetischen Cannabinoiden verbunden, auf die ein Teil von ihnen zurückgreift. Beispielhaft sei hier die auch von Rauschert et al. zitierte Arbeit zum Risiko einer Auslösung von Psychosen genannt, die auf weit höhere Gefahren durch synthetische Cannabinoide im Vergleich zu natürlichem Cannabis hinweist (7). Daten aus Kanada legen hingegen nahe, dass die Legalisierung von natürlichem Cannabis dort nicht zu einem Anstieg cannabisinduzierter Psychosen geführt hat (8).

Ein verbesserter Zugang zu Konsumierenden im Rahmen eines legalen Marktes wird zusätzliche Chancen eröffnen, präventiv einzuwirken und einen risikoarmen Konsum zu fördern. Mit der geplanten kontrollierten Abgabe muss deshalb ein flächendeckender Ausbau von Präventionsstrukturen einhergehen, gerade auch im Hinblick auf einen effektiven Jugendschutz (9).

Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 19.07.2022, revidierte Fassung angenommen: 19.07.2022

Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Ingo Schäfer, MPH
Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS), Universität Hamburg
c/o Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52, 20246 Hamburg
i.schaefer@uke.de

Zitierweise
Schäfer I: Substance use in the population—a plea for a balanced discussion. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 525–6. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0286

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Rauschert C, Möckl J, Seitz NN, Wilms N, Olderbak S, Kraus L: The use of psychoactive substances in Germany—findings from the Epidemiological Survey of Substance Abuse 2021. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 527–34 VOLLTEXT
2.
Seitz NN, Lochbühler K, Atzendorf J, Rauschert C, Pfeiffer-Gerschel T, Kraus L: Trends in substance use and relasted disorders. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 585–91 VOLLTEXT
3.
Kilian C, Carr S, Schulte B, Manthey J: Increased alcohol-specific mortality in Germany during COVID-19: state-level trends from 2010 to 2020. Drug and Alcohol Review 2022; in press.
4.
World Health Organization (WHO): WHO global report on trends in prevalence of tobacco use 2000–2025, third edition. Geneva: World Health Organization 2019.
5.
Kraus L, Möckl J, Lochbühler K, Rauschert C, Seitz NN, Olderbak S: Changes in the use of tobacco, alternative tobacco products, and tobacco alternatives in Germany. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 535–41 VOLLTEXT
6.
Hall W: What has research over the past two decades revealed about the adverse health effects of recreational cannabis use? Addiction 2015; 110: 19–35 CrossRef MEDLINE
7.
Hobbs M, Kalk NJ, Morrison PD, Stone JM: Spicing it upsynthetic cannabinoid receptor agonists and psychosis—a systematic review. Eur Neuropsychopharmacol 2018; 28: 1289–304 CrossRef MEDLINE
8.
Callaghan RC, Sanches M, Murray RM, Konefal S, Maloney-Hall B, Kish SJ: Associations between Canada‘s cannabis legalization and emergency department presentations for transient cannabis-induced psychosis and schizophrenia conditions: Ontario and Alberta, 2015–2019. Can J Psychiatry 2022; 12: 7067437211070650 CrossRef MEDLINE PubMed Central
9.
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): Positionspapier Cannabis-Legalisierung: Prävention und Jugendschutz sind nicht verhandelbar. https://www.dgppn.de/schwerpunkte/aktuelle-positionen-1/aktuelle-positionen-2022/positionspapier-cannabislegalisierung.html (last accessed on 17 July 2022).
Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS), Universität Hamburg, c/o Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: Prof. Dr. med. Ingo Schäfer, MPH
1.Rauschert C, Möckl J, Seitz NN, Wilms N, Olderbak S, Kraus L: The use of psychoactive substances in Germany—findings from the Epidemiological Survey of Substance Abuse 2021. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 527–34 VOLLTEXT
2.Seitz NN, Lochbühler K, Atzendorf J, Rauschert C, Pfeiffer-Gerschel T, Kraus L: Trends in substance use and relasted disorders. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 585–91 VOLLTEXT
3.Kilian C, Carr S, Schulte B, Manthey J: Increased alcohol-specific mortality in Germany during COVID-19: state-level trends from 2010 to 2020. Drug and Alcohol Review 2022; in press.
4.World Health Organization (WHO): WHO global report on trends in prevalence of tobacco use 2000–2025, third edition. Geneva: World Health Organization 2019.
5.Kraus L, Möckl J, Lochbühler K, Rauschert C, Seitz NN, Olderbak S: Changes in the use of tobacco, alternative tobacco products, and tobacco alternatives in Germany. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 535–41 VOLLTEXT
6.Hall W: What has research over the past two decades revealed about the adverse health effects of recreational cannabis use? Addiction 2015; 110: 19–35 CrossRef MEDLINE
7.Hobbs M, Kalk NJ, Morrison PD, Stone JM: Spicing it upsynthetic cannabinoid receptor agonists and psychosis—a systematic review. Eur Neuropsychopharmacol 2018; 28: 1289–304 CrossRef MEDLINE
8.Callaghan RC, Sanches M, Murray RM, Konefal S, Maloney-Hall B, Kish SJ: Associations between Canada‘s cannabis legalization and emergency department presentations for transient cannabis-induced psychosis and schizophrenia conditions: Ontario and Alberta, 2015–2019. Can J Psychiatry 2022; 12: 7067437211070650 CrossRef MEDLINE PubMed Central
9.Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): Positionspapier Cannabis-Legalisierung: Prävention und Jugendschutz sind nicht verhandelbar. https://www.dgppn.de/schwerpunkte/aktuelle-positionen-1/aktuelle-positionen-2022/positionspapier-cannabislegalisierung.html (last accessed on 17 July 2022).

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