ArchivDeutsches Ärzteblatt39/2022Patientensicherheit: Medikationsfehler vermeiden

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Patientensicherheit: Medikationsfehler vermeiden

Martin, Mirjam

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Anlässlich des diesjährigen Welttags der Patientensicherheit machte das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) auf den weiterhin stetigen Anstieg von Meldungen zu fehlerhaften Arzneimitteltherapien aufmerksam. Lösungsansätze, Medikationsfehler zu reduzieren, liegen vor.

Eine Verwechslung, eine zu hohe oder zu geringe Dosierung, eine vergessene Gabe – Fehler bei der Medikation, die vermutlich jeder Arzt und jede Ärztin schon einmal mitbekommen hat. Foto: PhotoSG/stock.adobe.com
Eine Verwechslung, eine zu hohe oder zu geringe Dosierung, eine vergessene Gabe – Fehler bei der Medikation, die vermutlich jeder Arzt und jede Ärztin schon einmal mitbekommen hat. Foto: PhotoSG/stock.adobe.com

Während Medizinerinnen und Mediziner dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 2017 noch 359 Meldungen zur Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) mitgeteilt haben, waren es 2021 bereits 1 284 Meldungen, vor allem Anwendungs- und Dosierungsfehler. Etwa die Hälfte (641) der Meldungen ging mit einer unerwünschten Nebenwirkungen (UAW) einher. 2017 waren dagegen noch knapp 75 Prozent ohne UAW. Die Zahl der AMTS-Meldungen hat sich in den vergangenen vier Jahren somit mehr als verdreifacht und ist von Jahr zu Jahr stetig gestiegen (eGrafik).

Direkte AMTS-Meldungen (u. a. Medikationsfehlermeldungen) ab dem Jahr 2017 mit und ohne UAW− halbjährlich
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Direkte AMTS-Meldungen (u. a. Medikationsfehlermeldungen) ab dem Jahr 2017 mit und ohne UAW− halbjährlich

„Die gemeldeten Fallzahlen an Direktmeldungen zu Medikationsfehlern beziehungsweise zu anderen AMTS- (Arzneimitteltherapiesicherheits-)Vorgängen wie Off-Label-Anwendungen oder Missbrauchsmeldungen an das BfArM sind seit 2014 jedes Jahr um circa 40 Prozent gestiegen“, sagte ein Sprecher des BfArM dem Deutschen Ärztebatt (DÄ). Die Gründe seien vielfältig, unter anderem sieht das BfArM die gesetzlichen Rahmenbedingungen als ursächlich, durch die es Patientinnen und Patienten seit 2012 möglich sei, selbst Berichte abzugeben.

Die AMTS-Meldezahlen für das erste Halbjahr 2022 liegen laut Aussage der BfArM zwar vor, werden aber erst in der kommenden Routinesitzung im November präsentiert.

Der Anstieg in 2021 und 2020 könnte laut der Vorsitzenden des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS), Dr. med. Ruth Hecker, an einer höheren Meldezahl zu Impfstoffnebenwirkungen der vergangenen Jahre liegen, die auch zu Medikationsfehlern gezählt werden. Birgit Vogt, Referentin Arzneimitteltherapiesicherheit im Bereich Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft der Bundesärztekammer, nannte als mögliche Gründe die Personalknappheit, aber auch eine höhere Sensibilität für Fehler in Gesundheitsberufen.

Weitere Zahlen zur Einordnung der Patientensicherheit lieferte diesen Monat ein Report der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Demnach könnte ein Zehntel der Krankenhauseinweisungen in OECD-Ländern auf medikamenteninduzierte Schäden zurückzuführen sein (1). In Deutschland seien 6,5 Prozent der Vorstellungen in Notaufnahmen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen, heißt es im Aktionsplan des Bundesministeriums für Gesundheit zur Verbesserung der AMTS aus dem Jahr 2021 (2). Mehr als ein Drittel dieser unerwünschten Nebenwirkungen werden als Medikationsfehler gewertet.

Hohe Kosten

Während eines stationären Aufenthaltes treten bei einem Fünftel der Patientinnen und Patienten laut OECD-Bericht medikationsbedingte Schädigungen auf. So berichteten auch zwei Ärzte in Weiterbildung dem von Medikationsfehlern in ihrer eigenen Klinik (Kasten). Die Kosten durch Hospitalisierungen und verlängerte Krankenhausaufenthalte aufgrund vermeidbarer Medikamentenwirkungen belaufen sich im OECD-Raum auf mehr als 54 Milliarden US-Dollar. In Deutschland liegen die Gesundheitskosten durch Medikationsfehler jährlich zwischen 800 Millionen und 1,2 Milliarden Euro.

„Patientenverwechslung sowie falsche Medikamentengabe zählen zu den zentralen Sicherheitsproblemen und können mittels digitalisierter Prozesse verbessert werden,“ sagte Dr. phil. Peter Gausmann, der den Vorstand des APS in der Arbeitsgruppe AMTS vertritt. Mithilfe der elektronischen Patientenakte (ePA) könnten Kommunikationsfehler verringert, die Koordination der Versorgung verbessert und die Patientenkompetenz gestärkt werden, so Gausmann. Ein zentraler Bestandteil der Arzneimittelsicherheit sei der Medikationsplan.

„Nur bei 6,5 Prozent der Patientinnen und Patienten entsprach der allein vom Arzt erstellte Medikationsplan der tatsächlichen Einnahmepraxis“, sagte Hecker mit Verweis auf eine Studie mit 500 Apotheken aus dem Jahr 2015. Ideal sei es, wenn der elektronische Medikationsplan im Krankenhaus eingelesen und angepasst werden könne. Aktuell gebe es verschiedene Stellen, an denen Informationen zu den Medikamenten verloren gingen, so Hecker.

Viele Krankenhäuser würden etwa der Verpflichtung nicht nachkommen, allen Patientinnen und Patienten einen Medikationsplan auszustellen. Seit dem 1. Oktober 2016 haben krankenversicherte Anspruch auf einen Medikationsplan, wenn ihnen mindestens drei Medikamente zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wurden.

Königsweg Digitalisierung

Häufig würden Patienten den zumeist noch in Papierform vorhandenen Medikationsplan jedoch bei einem Krankenhausaufenthalt nicht mitbringen, ergänzte Hecker. Das könnte sich durch die angestrebte Opt-out-Regelung für die elektronische Patientenakte (ePA) ändern. Darin sieht auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) große Chancen.

Denn durch die Opt-out-Regelung ließen sich mithilfe der ePA Daten aufbauen, die es ermöglichen, Defizite in der Medikamententherapie direkt an den Arzt oder den Patienten zu melden, sagte der Minister kürzlich bei einer Veranstaltung des APS anlässlich des Tages der Patientensicherheit Mitte September. Wie Gausmann hält auch er die Digitalisierung für den „Königsweg“, um die Patientensicherheit zu verbessern. Im Extremfall wäre die Patientensicherheit auch bedeutsamer als der Datenschutz, sagte Lauterbach.

Eine Lern- und Feedbackkultur im Gesundheitswesen stärker zu verankern, steht in den sogenannten Gesundheitszielen festgeschrieben. Der Kooperationsverbund gesundheitsziele.de besteht aus mehr als 140 Organisationen des deutschen Gesundheitswesens. Er erarbeitet Empfehlungen und Maßnahmen. „Patientensicherheit“ ist das zehnte der seit 2000 entwickelten Gesundheitsziele und folgt auf das 2017 veröffentlichte Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“.

Um aus Fehlern lernen zu können, müsse Kommunikation sanktionsfrei ablaufen, sagte Dr. med. Günther Jonitz, Leiter der Arbeitsgruppe Patientensicherheit von Gesundheitsziele.de kürzlich bei einer Veranstaltung.

Mit dem aktuellen Ziel will der Kooperationsverbund die Patientensicherheitskultur fördern und Patientensicherheitskompetenz ausbauen. Sicherheitskultur meint, dass alle im Gesundheitssystem beteiligten Gruppen das gleiche Grundverständnis von Fehlerprävention und kritischen Ereignissen haben.

Alle beteiligten Gruppen im Gesundheitswesen sollen über Patientensicherheit informiert sein und diese umsetzen können. „Patientensicherheit kann man lernen“, sagte Jonitz. Das sei ohne großen Kostenaufwand möglich.

Zu den Akteuren im Gesundheitswesen gehören auch die Patienten selbst. Auch sie seien dafür verantwortlich zur eigenen Sicherheit beizutragen, erklärte Gausmann.

So habe das Aktionsbündnis die Patienteninformation im August, „Fünf Fragen, wenn es um Ihre Medikamente geht“, eingeführt. Sie sollen Patientinnen und Patienten dabei helfen, sich auf das nächste Gespräch mit ihrem Arzt vorzubereiten.

Zudem brauche es eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten, Apothekerinnen und Apothekern und den Angehörigen der Pflegeberufe, sagte Vogt. „Arzneimitteltherapiesicherheit funktioniert nur im Team.“ Mirjam Martin

eGrafik im Internet: www.aerzteblatt.de/221632
oder über QR-Code.

Medikationsfehler im klinischen Alltag

„Eine 25- bis 30-Jährige war nach einer Operation einer ausgedehnten Endometriose stationär in unserer Klinik. Die Patientin hatte nach Erstgabe eines Novalgins eine Agranulozytose entwickelt. Daher setzten wir das Medikament ab und markierten in ihrer Papierkurve fett, dass sie kein Novalgin erhalten dürfe. Allerdings setzte der Anästhesist das Medikament in der Schmerzvisite wieder an. Die Patientin entwickelte eine Stomatitis aphtosa, eine Angina und hohes Fieber. Wir meldeten den Fall im Critical Incident Reporting System und besprachen den Fall gemeinsam mit der Anästhesie.“ Ärztin in Weiterbildung, Gynäkologie, Name ist der Redaktion bekannt

„Ein Patient mit einer akuten myeloischen Leukämie hatte unter seiner Chemotherapie eine schwere Mukositis entwickelt. Daher erhielt er Morphinperfusor in niedriger Dosierung, circa 1 mg MSI pro Stunde. Am Morgen war der Patient auf Schmerzreize nicht erweckbar und hatte eine Sauerstoffsättigung von 21 mmHg. Als ich gesehen habe, dass der Morphinperfusor angeschlossen war, habe ich den Patienten antagonisiert und aufgrund der geringen Sättigung das Reanimationsteam dazu gerufen. Der Patient klarte unter Antagonisierung wieder auf. Im Nachgang stellte sich heraus, dass der Patient anstelle des MSI in der Nacht Hydromorphon erhalten hatte, ein sehr viel potenteres Opiat. Die Klinik hatte ein neues Hydromorphon-Präparat eingeführt, dessen Verpackung der von MSI ähnelte. Anschließend hat die Klinik bei der Ausgabe von Opiaten das Vier-Augen-Prinzip eingeführt“ Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Name ist der Redaktion bekannt

Direkte AMTS-Meldungen (u. a. Medikationsfehlermeldungen) ab dem Jahr 2017 mit und ohne UAW− halbjährlich
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Direkte AMTS-Meldungen (u. a. Medikationsfehlermeldungen) ab dem Jahr 2017 mit und ohne UAW− halbjährlich

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