ArchivDeutsches Ärzteblatt41/2022Interview mit Prof. Dr. med. Michael Hallek und Dr. med. (I) Klaus Reinhardt: Die fachliche Expertise der Ärzteschaft einbringen

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Interview mit Prof. Dr. med. Michael Hallek und Dr. med. (I) Klaus Reinhardt: Die fachliche Expertise der Ärzteschaft einbringen

Schmedt, Michael; Schulze, Anne-Kristin

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Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat eine Stellungnahme zum Post-COVID-Syndrom erarbeitet, die den derzeitigen Forschungsstand zusammenfasst.

Der Vorstand der Bundesärztekammer hat den Wissenschaftlichen Beirat beauftragt, eine Stellungnahme zu Post COVID zu erarbeiten. Warum gerade Post COVID?

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (links). Michael Hallek, stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer
Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (links).
Michael Hallek, stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer

Reinhardt: Das Post-COVID-Syndrom, kurz PCS, als schwere Folge einer SARS-CoV-2-Infektion steht im Fokus einer gesellschaftspolitischen Debatte. Wir möchten in diese wichtige Debatte gerne die fachliche Expertise der Ärzteschaft einbringen. Unsere Stellungnahme soll dazu beitragen, dass die jetzt notwendigen Schritte zur weiteren Verbesserung der Datenlage zum PCS, der Versorgung der Betroffenen sowie zur Information der Bevölkerung und zur Prävention eingeleitet werden.

Hallek: Ausgangspunkt unserer Stellungnahme ist eine definitorische Abgrenzung, insbesondere zu umgangssprachlichen Begriffen wie Long COVID, damit klar ist, was wir unter PCS verstehen. Länger als zwölf Wochen nach einer SARS-CoV-2-Infektion bestehende Beschwerden, die bei Personen mit einer Vorgeschichte einer wahrscheinlichen oder bestätigten SARS-CoV-2-Infektion auftreten und nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können, werden gemäß einer von der WHO entwickelten Definition als PCS bezeichnet. Wir haben die aktuelle Evidenz bezüglich der Pathomechanismen des PCS, der Symptome, der Diagnostik sowie der therapeutischen Ansätze zusammengetragen – dabei zeigt sich, dass es bereits punktuell gute Evidenzen gibt, aber auch noch viele Fragen offen sind.

Hat die Politik Post COVID bislang nicht genug in ihren Fokus genommen?

Hallek: Wir beginnen ja jetzt erst richtig zu verstehen, was PCS ist – wichtige Studien wurden im Laufe dieses Jahres veröffentlicht. Allerdings basieren diese im Wesentlichen auf Daten, die während der insbesondere durch die Delta-Variante von SARS-CoV-2 hervorgerufenen Infektionswelle erhoben worden sind. Die Pandemie ist aber bereits einen Schritt weiter, denn derzeit dominiert die Omikron-Variante. Die Datenlage auch zum PCS wird sich dadurch voraussichtlich ändern.

Reinhardt: Das ist ein Dilemma, mit dem die Politik umgehen muss – die wissenschaftliche Bewertung kann naturgemäß erst im Nachhinein erfolgen. Politik muss aber in die Zukunft gerichtet agieren. Insofern soll die Stellungnahme auch unter Beachtung der dynamischen Entwicklung der Pandemie zu einem besseren Verständnis des PCS beitragen. Und wir stellen konkrete Empfehlungen auf, was aktuell zu tun ist. Unzweifelhaft ist, dass diese Empfehlungen, die wir auf der Basis der verfügbaren Daten ableiten, auch für die Omikron-Variante gelten. Und es wird auch auf der Basis internationaler Daten immer deutlicher, dass bis zu 15 Prozent der SARS-CoV-2-Infizierten von PCS betroffen sind. Insofern ist jetzt der richtige Zeitpunkt, politisch aktiv zu werden und die Weichen für den weiteren Umgang mit PCS zu stellen. Darauf haben insbesondere die Betroffenen einen Anspruch, aber auch alle anderen. Denn es geht darum, PCS bestmöglich zu diagnostizieren und zu behandeln, aber auch darum, das Krankheitsbild besser zu verstehen und mögliche präventive Maßnahmen zu entwickeln.

Wie muss man sich das Vorgehen bei der Erarbeitung solch einer Stellungnahme vorstellen?

Reinhardt: Wichtig ist zuallererst die Berufung eines fachlich kompetenten Arbeitskreises, in dem alle relevanten Disziplinen vertreten sind. In diesem Fall wurde unter erheblichem Zeitdruck gearbeitet, denn die Studienlage entwickelte sich rasant. Ziel war es, eine möglichst umfassende und aktuelle Stellungnahme zu verfassen. Das hat der Arbeitskreis in nur drei Sitzungen umgesetzt, auch weil der Federführende für die erste Sitzung bereits einen sehr ausgereiften Gliederungsentwurf vorgelegt hat. Dieser wurde dann von einzelnen Fachexperten oder Autorenteams ergänzt und überarbeitet. Zudem ist eine systematische Literaturrecherche erfolgt. In einem nächsten Schritt haben der Vorstand und das Plenum des Wissenschaftlichen Beirats den im Arbeitskreis fachlich konsentierten Entwurf beraten. Anschließend hat der Vorstand der Bundesärztekammer, der insbesondere seine berufspolitische Expertise einbringt, die Stellungnahme am gleichen Tag beraten und beschlossen. Die ärztliche Selbstverwaltung verfügt durch dieses gestufte Ineinandergreifen verschiedener Expertisen über ein einzigartiges Instrument – und wir sind den zahlreichen zumeist ehrenamtlich Tätigen sehr dankbar für ihr großes Engagement. Und natürlich freuen wir uns, durch diese aufeinander abgestimmten Beratungsschritte eine sehr aktuelle Stellungnahme vorlegen zu können.

Welche Erfahrungen haben Sie bei der Sichtung der Studienlage gemacht? Welche weiteren Untersuchungen sind notwendig, welche Forschungsschwerpunkte sollten gesetzt werden?

Hallek: Ausgangspunkt unserer Stellungnahme ist eine systematische Literaturrecherche. Diese wurde Ende Juli 2022 durchgeführt und ergänzt durch weitere Fachliteratur, die einzelne Autoren benannt haben. Damit liegt ein Kompendium der aktuell verfügbaren Datenlage vor, welches in dieser Form einzigartig sein dürfte. Allerdings stellt die Stellungnahme eine Momentaufnahme dar – die dynamische Pandemieentwicklung und auch die Mutationstendenz von SARS-CoV-2 führen dazu, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse schnell weiterentwickeln oder auch überholt sind. Forschung zu SARS-CoV-2, COVID-19 und nicht zuletzt PCS muss daher nicht nur weitergeführt, sondern intensiviert werden. Wir haben in der Stellungnahme die aus unserer Sicht relevanten Forschungsschwerpunkte benannt, unter anderem Untersuchungen zur Prävalenz und Untersuchungen zur Divergenz zwischen Symptomen und objektivierbaren Befunden, Entwicklung diagnostischer Algorithmen und Identifizierung neuer Biomarker, die Auftreten oder Verlauf des PCS vorhersagen, Untersuchungen zur Pathogenese, auch im Vergleich zu anderen viralen Erkrankungen, Erforschung der Risiko- und Resilienzfaktoren, Entwicklung von Präventionskonzepten inklusive Rolle der Impfungen sowie Untersuchung zu den gesundheitsökonomischen Folgen des PCS. Im Vordergrund soll ein patientenorientierter Forschungsansatz stehen, der frühzeitig Translationskonzepte auf einem international kompetitiven Niveau und mit internationaler Vernetzung vorantreibt. Denn es geht einerseits darum, Daten aus der Patientenversorgung für die Forschung zu nutzen, sowie andererseits Forschungsergebnisse möglichst rasch in klinisches Handeln zu übersetzen. Hierbei sind Kapazitäten für Grundlagenforschung, klinische Studien und Versorgungsforschung durch interdisziplinäre Verbünde aufzubauen.

Was ist über die Ursachen von Post COVID bekannt und welche Risikofaktoren gibt es?

Reinhardt: Auch wenn wir die Entstehung des PCS noch nicht vollständig verstehen, existieren gute Belege für unterschiedliche übergreifende sowie organspezifische Ursachen. Das Vorhandensein von Angiotensin-konvertierenden Enzym-2-(ACE2-)Rezeptoren im vaskulären Endothel in einer Vielzahl von Geweben sowie das Auftreten von entzündlichen und immunologischen Begleitprozessen geben eine erste mögliche Erklärung für die hohe Diversität der klinischen Manifestationen von COVID-19. Wichtig ist: PCS kann sowohl nach schweren COVID-19-Verläufen wie auch nach einer symptomarmen Infektion mit SARS-CoV-2 auftreten. Bei PCS handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose – gemäß der Definition der WHO können die Symptome nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden, sie sind drei Monate nach Beginn einer COVID-19-Erkrankung vorhanden und von mindestens zwei Monaten Dauer. Die Abgrenzung insbesondere von Exazerbationen psychiatrischer Erkrankungen und psychosozialer Folgen von einem PCS ist eine wichtige differenzialdiagnostische Aufgabe und kann in Einzelfällen schwierig sein.

Hallek: Festgestellt werden muss, dass jede Infektion mit SARS-CoV-2 das Risiko der Entwicklung eines PCS birgt. Die Datenlage erlaubt die Aussage, dass einerseits biografische Faktoren wie kaukasische Rasse, mittleres Lebensalter und weibliches Geschlecht sowie Vorerkrankungen wie Asthma bronchiale, schlechte psychische Gesundheit, Diabetes mellitus, Bluthochdruck und Fettleibigkeit Risikofaktoren für PCS darstellen. Hinzu kommen COVID-spezifische Faktoren wie multiple (mehr als fünf) akute Symptome, eine hohe akute Viruslast, niedrige Baseline-SARS-CoV-2-IgG, Durchfall und der Impfstatus. Die SARS-CoV-2-Impfung scheint das Risiko von PCS deutlich zu mindern. Erste Studienergebnisse weisen zudem auf eine anhaltende Verbesserung von PCS nach einer zweiten Impfdosis hin.

Wie kann Post COVID behandelt werden und wie ist die Prognose?

Hallek: Die pathophysiologischen Zusammenhänge des PCS sind zum Teil nicht bekannt, was die Entwicklung von kausalen Therapien erschwert. Evidenzbasierte, kausale Behandlungsmöglichkeiten existieren derzeit nicht. Es gibt nur wenige interventionelle Studien, auch zu nicht etablierten Methoden der Medizin, ohne dass bisher ein therapeutisches Konzept genügend durch Studien abgesichert werden konnte. Es bedarf weiterer Studien, beispielsweise über die Wirksamkeit von Impfungen oder die Gabe von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 bei PCS.

Reinhardt: Aktuelle Therapiekonzepte stützen sich daher auf einen interdisziplinären, pragmatischen Ansatz, Maßnahmen der physikalischen Rehabilitation sowie symptomorientierten Therapie der unterschiedlichen Organstörungen. Es gibt gewisse Hinweise, dass aktive Rehabilitationsmaßnahmen die Folgen oder Behinderungen im Rahmen des PCS verringern können. Die künftige Identifizierung zielgerichteter Therapieansätze bleibt somit von großer Wichtigkeit. Hier müssen die medizinische Versorgungsebene und die Forschung eng zusammenarbeiten und eine rasche Translation von Forschungsergebnissen in die medizinische Versorgung sicherstellen.

Welche Bedeutung hat die interdisziplinäre Betreuung der von Post COVID Betroffenen und wie kann sie strukturiert werden?

Hallek: Angesichts der hohen Zahlen von PCS-Patienten und der Vielfältigkeit des Krankheitsbildes sollten differenzierte regionale Versorgungskapazitäten aufgebaut werden. Dazu sollen bestehende Strukturen genutzt werden, die gestuft ausgebaut und qualifiziert werden: Für die klinische Versorgung sind spezialisierte PCS-Zentren an Einrichtungen der Maximalversorgung einzurichten – das dürften in der Regel Universitätsklinika sein, in denen Spezialisten aus mehreren Disziplinen eine umfassende Versorgung gewährleisten können. Diese PCS-Zentren sollten regionale Netzwerke mit den umliegenden Kliniken, hausärztlich-allgemeinmedizinischen beziehungsweise kinder- und jugendmedizinischen und fachärztlich spezialisierten ambulanten Versorgungsstrukturen sowie mit spezialisierten Rehabilitationskliniken bilden oder bestehende Netzwerke einbinden. Für Kinder und Jugendliche gibt es bisher zu wenig Anlaufstellen für die aufwendige interdisziplinäre, holistische Differenzialdiagnostik, wobei eine Einbindung von sozialpädiatrischen Zentren gewährleistet werden sollte. Zudem müssen Angebote zur Rehabilitation von PCS-Patienten geschaffen werden. Durch die PCS-Zentren-Struktur soll auch sichergestellt werden, dass nur diagnostische und therapeutische Maßnahmen zum Einsatz kommen, deren Nutzen nachgewiesen ist oder die im Rahmen klinischer Studien untersucht werden.

Reinhardt: Auch wenn hier im Wesentlichen auf bereits bestehende Strukturen zurückgegriffen werden kann, ist die Finanzierung dieser gestuften, die individuellen Patientenbedürfnisse berücksichtigenden Versorgungseinrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sicherzustellen. In diesem Zusammenhang sollte auch eine erweiterte ICD-10-Codierung etabliert werden, die analog der Kodierung des Diabetes mellitus die verschiedenen Organmanifestierungen, zum Beispiel Post COVID mit kardialen, pulmonalen, neurologischen, psychischen, abdominellen oder sonstigen Organmanifestationen, abbildet. Zudem ist die Überprüfung der sozialrechtlichen Einordnung, insbesondere bezüglich des Behindertenstatus von Patienten mit PCS, notwendig. Unsere Stellungnahme stellt diesbezüglich Empfehlungen auf, bei deren Umsetzung die Ärzteschaft der Politik gerne mit ihrer fachlichen Expertise als Ansprechpartner zur Verfügung steht.

Das Interview führten Michael Schmedt und Dr. med. Anne-Kristin Schulze.

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