ArchivDeutsches Ärzteblatt41/2022Menschen ohne Krankenversicherung: Ein oft übersehenes Problem

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Menschen ohne Krankenversicherung: Ein oft übersehenes Problem

Kurz, Charlotte

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In Deutschland gibt es trotz allgemeiner Krankenversicherungspflicht viele Menschen, die entweder keinen oder nur unzureichenden Versicherungsschutz haben. Für die Betroffenen ist es oftmals schwierig, Zugang zu medizinischen Leistungen und Behandlungen zu erhalten.

Foto: axentis.de/G.J.Lopata
Foto: axentis.de/G.J.Lopata

Eigentlich ist Deutschland für ein gutes, allumfassendes Gesundheitssystem bekannt. Verglichen mit den europäischen Staaten ist das deutsche Gesundheitssystem kostenintensiv. 2020 lagen die Ausgaben auf einem Höchststand von 440,6 Milliarden Euro. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt betrug damit 13,1 Prozent und 1,2 Prozentpunkte mehr als noch 2019. Der EU-Durchschnitt lag 2019 bei 9,9 Prozent. Trotz der Rekordausgaben und des umfänglichen Leistungsspektrums kommt ein Aspekt aber oft zu kurz: die Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung.

Das Statistische Bundesamt geht aufgrund von Mikrozensus-Daten davon aus, dass 2019 rund 61 000 Personen nicht krankenversichert waren. Im Vergleich zu 2015 ist die Zahl damit gesunken, damals waren es noch 79 000 Personen. Vor allem Selbstständige seien besonders betroffen. Rund 0,4 Prozent der Selbstständigen sowie 0,8 Prozent der Erwerbslosen waren im Jahr 2019 nicht krankenversichert, so das Bundesamt. Bei der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil bei weniger als 0,1 Prozent. Das sind allerdings nur die offiziellen Zahlen, die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt.

„Der Mikrozensus stellt nur alle vier Jahre die Frage nach dem Krankenversicherungsschutz“, sagt der Gesundheitsökonom Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). Er schätzt, dass in Deutschland zwischen einer halben und einer Million Menschen keine Krankenversicherung haben. Denn: Im Mikrozensus werden nur diejenigen berücksichtigt, die in Deutschland gemeldet sind und einen legalen Aufenthaltstitel haben. Der Sozialmediziner und ehemalige Kandidat für das Bundespräsidentenamt, Prof. Dr. med. Gerhard Trabert, vermutet ebenfalls, dass die Zahl der nicht krankenversicherten Menschen in Deutschland zwischen einer halben und einer Million liegt. Die Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“ geht von Hunderttausenden Menschen ohne Zugang zu benötigter medizinischer Versorgung aus.

„Wohnungslose Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben, sind im Mikrozensus auch unterrepräsentiert“, erklärte Wasem weiter. Gerade bei dieser Gruppe ist der Anteil von Nichtversicherten hoch. Einem Statistikbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) zufolge waren 15,9 Prozent der akut wohnungslosen Menschen im Jahr 2020 nicht krankenversichert. Bei Personen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben, waren es 21,7 Prozent, also mehr als ein Fünftel. Insgesamt schätzt die BAG W die Zahl von wohnungslosen Menschen (ohne Geflüchtete) für das Jahr 2020 auf rund 256 000 Menschen.

Betroffen sind weiter neben Deutschen, die aufgrund von Insolvenzen oder Einkommensausfällen ihre Krankenversicherungsbeiträge nicht mehr bezahlen können, oftmals EU-Bürger, die über kein sozialversicherungspflichtiges Anstellungsverhältnis verfügen. Auch Personen aus Drittstaaten, die keinen aufenthaltsrechtlichen Status haben, sind betroffen. Für sie ist die Situation noch schwieriger, weil sie nur unter seltenen Umständen in das System integriert werden können.

Krankenversicherungspflicht besteht seit 2009

Eigentlich gilt seit dem 1. Januar 2009 in Deutschland per Gesetz die allgemeine Krankenversicherungspflicht. Schon im April 2007 war unter der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für Personen eingeführt worden, die nicht anderweitig krankenversichert waren. Die Versicherungspflicht bei der privaten Krankenversicherung (PKV) folgte dann zwei Jahre später.

Betroffen seien deshalb vor allem Personen, „die entweder noch aus einer rechtlichen Situation von vor dem Jahr 2009 nicht krankenversichert sind oder die nach Deutschland eingereist sind und anschließend keinen Anspruch realisieren konnten“, sagte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) dem . „Die Kündigung einer bestehenden gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung durch die gesetzliche Krankenkasse beziehungsweise das private Versicherungsunternehmen, ohne dass eine andere Form der Absicherung im Krankheitsfall zur Verfügung steht, ist wegen der Versicherungspflicht in Deutschland rechtlich grundsätzlich nicht möglich.“

Das Problem besteht allerdings oft darin, dass viele Personen ihre Krankenversicherungsbeiträge nicht bezahlen können und damit Beitragsschulden bei den Versicherungen anhäufen. Sie können in diesem Fall zwar nicht gekündigt werden, allerdings wird der Leistungsanspruch deutlich eingeschränkt.

Im Bereich der GKV ist es gesetzlich in § 16 Absatz 3 a des Sozialgesetzbuch (SGB) V geregelt, dass die Krankenversicherung von Versicherten, die ihre Beiträge zwei Monate trotz Mahnung nicht bezahlen können, automatisch ruht (Grafik 1). Das bedeutet, sie sind zwar prinzipiell noch versichert, können aber nur noch etwa Behandlungen akuter Erkrankungen und Schmerzzustände in Anspruch nehmen. Der normale GKV-Leistungskatalog gilt für sie während des Ruhens nicht mehr. Zum Zeitpunkt März 2022 betraf dies knapp 700 000 Personen (Grafik 2).

Beitragsschulden in der GKV, in Milliarden Euro
Grafik 1
Beitragsschulden in der GKV, in Milliarden Euro
Anzahl der Versicherten mit Beitragsschulden
Grafik 2
Anzahl der Versicherten mit Beitragsschulden

„Den Menschen wird in diesem Fall von den Krankenversicherungen oft vermittelt, dass sie nicht mehr versichert sind“, erklärte Trabert. Die eingeschränkten Leistungen reichen aber nicht für eine normale, angemessene Gesundheitsversorgung aus: „Auch schlecht Versicherte kommen zu uns, etwa weil der Zahnarzt die Wurzelbehandlung nicht mehr durchführen will“, sagte Felicitas von Wietersheim, die Praxismanagerin der Malteser-Praxis in Berlin-Wilmersdorf (siehe folgender Artikel).

Krankenkassen bieten Beratungen und Ratenzahlungen an

Die Kassen hingegen sind der Meinung, sie unterstützen ihre Versicherten ausreichend: „Die Krankenkassen nutzen durchaus Möglichkeiten, ihre Versicherten zu unterstützen, wenn diese ihre Beiträge nicht bezahlen können. Neben der Beratung zur allgemeinen Rechtslage werden bei der Beratung auch individuelle Probleme adressiert, indem zum Beispiel eine mehrsprachige Beratung angeboten oder auf Möglichkeiten wie Schuldnerberatung oder staatliche Unterstützung hingewiesen wird“, erklärt ein Sprecher des GKV-Spitzenverbandes auf Nachfrage des . Es könnten Ratenzahlungen vereinbart werden, unter bestimmten Voraussetzungen könnten Ansprüche auch gestundet oder erlassen werden.

Einem Sprecher des AOK-Bundesverbandes zufolge werden auch niedrigschwellige Angebote und Gespräche bei Zahlungsschwierigkeiten geführt: „Da bei den AOK auch viele Mitarbeitende mit Fremdsprachenkenntnissen beschäftigt sind, finden sich auch hier meist kundenorientierte Kommunikationswege.“ Auch eine Barmer-Sprecherin erklärte: „Bevor es zu Mahnungen wegen Beitragsschulden kommt, nehmen wir in der Regel mit den Betroffenen Kontakt auf, um nach individuellen Lösungen wie beispielsweise Stundungsvereinbarungen zu suchen.“

Bei Mahnungen weise die Barmer unter anderem auf das mögliche Ruhen der Leistungen sowie einer etwaigen Übernahme der Beiträge nach SGB II (Jobcenter) oder SGB III (Sozialamt) hin, wenn die Voraussetzungen vorliegen. „In jedem Fall sind wir in diesen Fällen auf die Kooperation betroffener Beitragsschuldnerinnen und -schuldner angewiesen, um zu einer für beide Seiten tragbaren Lösung zu kommen.“

Der volle Leistungsumfang bei der GKV lebe aber erst wieder mit Eröffnung eines Insolvenzverfahrens oder mit (Wieder-)Aufnahme der Zahlung der Mindestbeiträge plus Ratenzahlungsvereinbarung auf, sagt Susanne Wilkening von der Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt in Berlin. Auch mit Bezug von Sozialleistungen über das Jobcenter oder über das Sozialamt könne die Versicherung wieder voll aufgenommen werden, so Wilkening.

Bei PKV gibt es einen Notlagentarif für Beitragsschuldner

Bei der PKV sieht die Situation ähnlich aus. Dort erhalten Versicherte, die zwei Monate ihre Beiträge nicht bezahlen können, eine Mahnung, die zusätzlich zu den Schulden einen Säumniszuschlag von einem Prozent sowie Mahnkosten beinhaltet, erläutert ein Sprecher der PKV auf Anfrage des . Sollte zwei Monate nach der ersten Mahnung weiterhin mindestens ein Monatsbeitrag offen sein, erhielten Versicherte eine zweite Mahnung und die Unternehmen wiesen die betroffene Person darauf hin, dass ihr Vertrag ruhend gestellt werde, wenn die Schulden nicht innerhalb des nächsten Monats beglichen würden, erklärt der Sprecher weiter.

„Solange der Versicherungsvertrag ruht, sind Privatversicherte durch den Notlagentarif krankenversichert, erhalten allerdings stark eingeschränkte Leistungen. Sobald Versicherte alle rückständigen Versicherungsbeiträge, die Säumniszuschläge und Mahnkosten bezahlt haben, wechseln sie automatisch in ihren alten Tarif zurück“, heißt es weiter.

Es lasse sich vermuten, dass davon Personen mit schwankenden Einkünften wie (Solo-) Selbstständige stärker betroffen sein könnten als Versicherte mit festen Bezügen wie etwa Beamte oder Arbeitnehmer, sagt der PKV-Sprecher.

Die Summe der Beitragsschulden inklusive der Versicherten im Notlagentarif in den vergangenen Jahren lag der PKV zufolge jeweils unter 400 Millionen Euro. Vor dem Beitragsschuldengesetz aus dem Jahre 2013, das auch den Notlagentarif eingeführt hatte, beliefe sich diese Summe auf rund 850 Millionen bei etwa 149 000 Beitragsschuldnern. „Die vom Gesetzgeber angestrebte Wirkung des Notlagentarifs, dass die Schulden leichter getilgt werden können, ist also durchaus erkennbar.“

Neben dem Notlagentarif gibt es bei der PKV zwei weitere günstigere Sozialtarife, den Basis- und den Standardtarif. Diese Tarife ähneln dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. „Leider machen wir die Erfahrung, dass sowohl Krankenversicherungen als auch Jobcenter oder das Sozialamt nicht immer rechtskonform beraten. Entweder die Mitarbeitenden dort wissen die aktuelle Rechtslage nicht oder sie beraten nicht entsprechend, um Kosten zu sparen“, kritisierte Trabert, der in Mainz eine medizinische Ambulanz für Menschen in prekären Lebenslagen leitet. Wichtig wäre etwa, dass die privaten Krankenversicherer bei finanziellen Problemen den Basistarif anbieten und nicht gleich automatisch alle Betroffenen in den Notlagentarif einstufen.

Oftmals werden lediglich Mahnschreiben versendet

Tatsächlich werden Versicherte, die Zahlungsschwierigkeiten haben, nicht immer aktiv angesprochen. Die automatische Umstufung in den Notlagentarif erfolgt nach Nichtbezahlen der Beiträge. „In diesen Fällen gehen wir nicht aktiv auf den Versicherten zu; dieser erhält lediglich die Mahnschreiben“, erklärt eine Sprecherin der privaten Krankenversicherung Debeka auf Nachfrage des . Erst wenn ein Mitglied sich aktiv an die Debeka wende, übersende diese einen Tarifwechselbrief und bietet bei Anfrage des Versicherten eine Ratenzahlung an, sagte die Sprecherin sinngemäß. Eine Zusammenarbeit mit Sozialämtern oder Jobcentern sei auch aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich.

Die Allianz erklärte auf Nachfrage, dass sie bei Nichtbezahlen der Beiträge anrufe, bei Bedarf Ratenzahlungen anbiete und auf Wunsch der Versicherten auch in Bezug auf einen Wechsel in einen günstigeren Tarif berate. Von sich aus bietet die Allianz damit allerdings ebenfalls keinen aktiven Wechsel in den Standard- oder Basistarif an, der einen besseren Krankenversicherungsschutz bietet als der Notlagentarif. Charlotte Kurz

Beitragsschulden in der GKV, in Milliarden Euro
Grafik 1
Beitragsschulden in der GKV, in Milliarden Euro
Anzahl der Versicherten mit Beitragsschulden
Grafik 2
Anzahl der Versicherten mit Beitragsschulden

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