ArchivDeutsches Ärzteblatt41/2022Menschen ohne Krankenversicherung: Was wirklich helfen kann

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Menschen ohne Krankenversicherung: Was wirklich helfen kann

Kurz, Charlotte

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Für Menschen ohne oder mit unzureichender Krankenversicherung gibt es in Deutschland zwar bereits Behandlungsmöglichkeiten. Allerdings sind diese nicht flächendeckend verfügbar, oft fehlt es an der Finanzierung. Dabei gibt es auch weitergehende Ideen zur Lösung des Problems.

Hirsch im Behandlungsgespräch mit einem Patienten aus Guinea, der seit einem Jahr in Berlin lebt, aber keinen legalen Aufenthaltsstatus und damit keine Krankenversicherung hat. Foto: axentis.de/G.J.Lopata
Hirsch im Behandlungsgespräch mit einem Patienten aus Guinea, der seit einem Jahr in Berlin lebt, aber keinen legalen Aufenthaltsstatus und damit keine Krankenversicherung hat. Foto: axentis.de/G.J.Lopata

Für Menschen ohne Krankenversicherung kommen nur wenige Stellen für einen Arztbesuch infrage. Vor allem ehrenamtlich organisierte Praxen wie die Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung versuchen die Versorgung abzudecken. An bundesweit 19 Standorten bieten die Malteser entsprechende Versorgungsmöglichkeiten an. In Berlin-Wilmersdorf arbeiten rund 30 Ärztinnen und Ärzte ehrenamtlich von einmal im Monat bis hin zu ein- oder zweimal die Woche in der Praxis. An vier Tagen die Woche bietet die Praxis allgemeinmedizinische Sprechstunden, Termine in der Zahnmedizin, Gynäkologie sowie Orthopädie, Dermatologie und Kinderheilkunde an. Die Behandlung ist für die Patientinnen und Patienten kostenfrei, erklärt der medizinische Leiter der Praxis, Dr. med. Jan Hirsch, dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ).

Kein legaler Status

Zu Hirsch und seinen Kolleginnen und Kollegen kommen vor allem Menschen aus Vietnam, die keinen legalen Aufenthaltsstatus und damit auch keine Krankenversicherung haben. An zweiter Stelle folgen Personen aus Serbien, die sich zwar visafrei im Rahmen des Schengenabkommens 90 Tage in Deutschland aufhalten können, aber damit keinen Zugang zur Krankenversicherung haben. Aber auch Deutsche, die aus unterschiedlichen Gründen keine Krankenversicherung haben oder nur unzureichend versichert sind, kommen häufig in die Praxis.

„In manchen Fällen geht es im Asylbereich auch in Richtung humanitäre Hilfe und damit kann auch eine Duldung und eine Aufnahme in die Sozialkassen erwirkt werden“, sagt Hirsch. „Allerdings reden wir hier von akuten medizinischen Situationen und auf der anderen Seite einem bürokratischen System, das hierfür sehr lange Zeit braucht“, kritisiert Hirsch. Oftmals besteht erhöhter Beratungsbedarf.

Einige Bundesländer organisieren über sogenannte Clearingstellen direkte und kostenfreie Hilfe und Beratungsangebote für Betroffene, etwa in Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen.

Der von Sozialmediziner Prof. Dr. med. Gerhard Trabert gegründete Verein Armut und Gesundheit bietet eine solche Stelle in Mainz an. „Unsere Clearingstelle hat eine Erfolgsquote von ungefähr 60 Prozent. Das heißt, dass 60 Prozent der Menschen, die glauben sie sind nicht versichert, eigentlich doch versichert sind. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überprüfen dann je nach Rechtslage, wer zuständig ist. Das können etwa das Jobcenter oder das Sozialamt sein, die die Beiträge übernehmen müssen“, erklärt Trabert.

Seiner Meinung nach sind Betroffene oftmals überfordert von der schwierigen Rechtssituation, etwa wenn Jobcenter oder Sozialämter die Versicherungsbeiträge nicht bezahlen würden. „Es kann nicht sein, dass andere Beratungsstellen immer involviert werden müssen, um den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Das müssen die Stellen selbst machen und nicht sofort Schuldzinsen einfordern, sondern aktiv nachfragen, wie die Betroffenen beraten oder unterstützt werden können“, sagt Trabert.

Die Berliner Clearingstelle erläutert, dass sie in der Vergangenheit rund 15 Prozent der Ratsuchenden in die Krankenversicherung vermitteln konnte. In der Clearingstelle würden vor allem Fälle landen, denen woanders nicht geholfen werden kann und die rechtlich keine Zugangsmöglichkeit zur Versicherung haben, sagt eine Sprecherin.

Neben Beratungsangeboten bietet die Clearingstelle auch eine Kostenübernahme von Behandlungen an. Seit 2019 werden Kostenübernahmescheine für Behandlungen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes bei kooperierenden Arztpraxen und Krankenhäusern ausgestellt. Seit 2020 liegt zudem eine Kooperationsvereinbarung mit der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin vor. Damit können Nichtversicherte die Kostenübernahmescheine in allen niedergelassenen Hausarztpraxen einlösen. Fachärztliche Praxen könnten sich bei der Clearingstelle melden, um im Rahmen von Kooperationsverträgen die Behandlungskosten für Nichtversicherte nach dem 1,0-fachen Satz der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) mit der Stelle abzurechnen. Die Kosten trägt dabei die Senatsverwaltung für Gesundheit.

Bedarf steigt deutlich an

Für 2021 wurden in Berlin 2 009 Kostenübernahmescheine für ambulante und stationäre Behandlungen eingelöst, etwa 500 mehr als noch im Vorjahr. Der überwiegende Anteil erfolgte im ambulanten Bereich. Gekostet habe dies im Jahr 2021 knapp 1,5 Millionen Euro, sagt die Sprecherin. Für die Behandlungen gebe es keine Ausschlüsse, nur fehle es an Kooperationspartnern, zum Beispiel bei der Mund-Kiefer-Chirurgie oder Physiotherapie.

Vorreiter für dieses System ist allerdings Thüringen. Dort existiert seit 2015 der Verein „Anonymer Krankenschein Thüringen“, der seit 2017 mithilfe finanzieller Förderung des Landes anonyme Krankenscheine ausstellt. Das Projekt ist dabei nicht befristet, sondern soll als dauerhafte (Not-)Lösung wirken, bis eine bessere Lösung gefunden wird, sagt ein Sprecher des Vereins dem . Die Scheine werden nicht nur durch die Stelle, sondern auch durch Ärztinnen und Ärzte ausgegeben, bei denen sie allerdings nicht selbst eingelöst werden dürfen. Es gelte ein Vieraugenprinzip und eine freie Wahl der behandelnden Praxen und Apotheken. Allerdings sei kein Arzt oder keine Ärztin zur Behandlung verpflichtet, so der Sprecher. Die überwiegende Mehrheit der Ärzteschaft in Thüringen mache aber mit.

Das Angebot werde gut angenommen, bis Mitte 2022 habe die Stelle Rechnungen für 902 Krankenscheine übernommen. Die Finanzierung durch das Land Thüringen liegt für 2022 bei 350 000 Euro. In den vergangenen Jahren konnten bisher alle notwendigen ambulanten Behandlungen bezahlt werden. „Leider sind wir nur begrenzt in der Lage, auch stationäre Kosten zu übernehmen. Dort mussten wir jedes Jahr einige Behandlungen aus Kostengründen ablehnen“, sagt der Sprecher.

Neben den ehrenamtlichen Strukturen gibt es also in einigen Bundesländern Zwischenlösungen, die Betroffenen zwar helfen, aber nicht das Grundproblem lösen können. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. med. Peter Bobbert (Kasten), findet, dass die Möglichkeiten der Beratung in Clearingstellen und die Ausgabe von anonymen Behandlungsscheinen, „hervorragende Instrumente“ seien, die aber noch für die Zahl der Menschen, die das Problem betrifft, ausgebaut werden müssten. „Hier bedarf es zudem einer Aufklärungskampagne, um mehr betroffene Menschen über die bereits bestehenden Hilfsmöglichkeiten zu informieren“, sagte Bobbert.

Auch der Gesundheitsökonom Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem bewertet die aktuellen Möglichkeiten als hilfreich. Allerdings würde er eine regelhafte Lösung vorziehen. Die Option der Behandlungsscheine für nichtversicherte Menschen auf Bundesebene, könnte jährlich etwa 100 bis 150 Millionen Euro pro Jahr kosten, schätzt Wasem.

Der einfache Zugang zu Gesundheitsleistungen für alle sei aber nicht nur ein Qualitätsmerkmal, sondern eine rechtliche Verpflichtung für Deutschland, betonte Trabert. Deutschland verletze demnach den 1966 aufgesetzten Sozialpakt der Vereinten Nationen. Dort heißt es in Artikel 12 unter anderem, dass die Vertragsstaaten Maßnahmen zur Vorbeugung, Behandlung und Bekämpfung epidemischer, endemischer Berufs- und sonstiger Krankheiten schaffen sowie die Voraussetzungen, dass jedermann im Krankheitsfall in den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung kommt, sicherstellen müssen.

Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Anonyme Behandlungsscheine und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung (BACK) fordert die Bundesregierung auf, diesen Pakt umzusetzen. Die Regierung ist sich dieses Problems zwar bewusst. Im Ampelkoalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir werden für Menschen mit ungeklärtem Versicherungsstatus, wie insbesondere Wohnungslose, den Zugang zur Krankenversicherung und zur Versorgung prüfen und im Sinne der Betroffenen klären.“

Allerdings ist offen, inwiefern die Bundesregierung konkret tätig werden will. Auf Nachfrage heißt es vom Bundesgesundheitsministerium (BMG): „Die Bundesregierung befindet sich hierzu aktuell im Austausch mit verschiedenen Akteuren.“ In diesem Zusammenhang werde etwa geprüft, wo die einzelnen Problemkreise liegen und inwiefern die Einrichtung von Clearingstellen auf kommunaler Ebene unterstützt und ausgebaut werden könne.

Verantwortlich sieht das BMG vor allem die Akteure vor Ort, die Krankenkassen sowie die Kommunen und Länder, Betroffene entsprechend zu beraten und zu unterstützen. Bei der Arbeit der Clearingstellen zeige sich leider, dass oftmals Personen ohne realisierbaren Versicherungsschutz zu Clearingstellen kommen, die eigentlich formal versichert seien. „So folgt ein reales Problem der grundlegenden Systematik der privaten Krankenversicherung, dass Behandlungskosten gegenüber Leistungserbringern von Patientinnen und Patienten vorzustrecken sind. Sind diese unvermögend, wird die Behandlung schlicht oftmals unterlassen“, so das BMG.

Gleichbehandlung gefordert

Die BACK fordert darüber hinaus eine Gleichbehandlung von EU-Bürgern bei Sozialleistungen und den Leistungsausschluss in der Gesundheitsversorgung abzuschaffen. Zudem müsste es eine umfassende, barrierearme Gesundheitsversorgung für Geflüchtete inklusive der Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ab Beginn des Aufenthalts in Deutschland geben. Aktuell haben Personen mit einer Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz oder einer Duldung lediglich Anspruch auf Akutbehandlungen nach Paragraf 4 Asylbewerberleistungsgesetz. Helfen würde laut BACK, wenn der Mindestbeitragssatz zur freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung für einkommensschwache Personengruppen gesenkt sowie eine gesetzliche Krankenversicherung für alle (Bürgerversicherung) eingeführt werden würde.

Schuldenschnitt und Kontrollen

Eine andere Lösung wäre, Betroffenen einen Schuldenschnitt zu gewähren und auf die Rückzahlung der nicht bezahlten Beiträge zu verzichten, schlägt Wasem vor. Künftig könnte nach einer Lösung gesucht werden, bei der Dritte den Beitrag bei finanziellen Problemen übernehmen könnten. Wer seine Krankenversicherungsbeiträge etwa vier Jahre nicht bezahlen könne, sammele schnell 40 000 Euro Schulden an, so Wasem. Diese Schulden könnten meist kaum zurückgezahlt werden.

Einen solchen Schuldenschnitt gab es bereits 2013 mit dem Beitragsschuldengesetz. Die Anhäufung von Schulden sei aber auch nach 2013 ein Haupthindernis für viele, eine angemessene Gesundheitsversorgung zu erhalten, so Wasem. Zudem könnten striktere Kontrollen hinsichtlich der geltenden Versicherungspflicht eingeführt werden, schlägt der Gesundheitsökonom vor. Der Zoll könnte ähnlich wie bei der Schwarzarbeit die Krankenversicherungspflicht in Deutschland kontrollieren. „Das würde für einen Teil der Betroffenen funktionieren.“

Bis es eine flächendeckende Lösung geben könnte, ist die Gesundheitsversorgung für Menschen ohne oder mit unzureichender Krankenversicherung vor allem von Engagierten wie Hirsch und unter anderem der Berliner Malteser-Praxis abhängig. Deshalb ist Hirsch dankbar für alle, die sich ehrenamtlich bei ihm engagieren wollen. Nur wenn es ausreichend Personen im Gesundheitswesen gibt, die sich einbringen, können derzeit Menschen versorgt werden, die sonst keine oder kaum eine andere Anlaufstelle haben. Charlotte Kurz

Foto: André Wagenzik/Ärztekammer Berlin
Foto: André Wagenzik/Ärztekammer Berlin

3 Fragen an . . .

Dr. med. Peter Bobbert Menschenrechtsbeauftragter bei der Bundesärztekammer (BÄK)

Was unternehmen Sie als BÄK-Menschenrechtsbeauftragter, um die Situation für Menschen ohne Krankenversicherung zu verbessern?

Wir beschäftigen uns mit diesem Thema seit Jahren und versuchen, auf politischer Seite entsprechende Akzeptanz zu schaffen. Wir merken, dass das Thema in den vergangenen Jahren im Bundestag und in Anhörungen der Ausschüsse deutlich ernster genommen wird als noch vor fünf oder zehn Jahren. Wir versuchen, hier weiter Druck zu machen, damit nicht nur darüber diskutiert wird, sondern dass hier auch Entscheidungen getroffen werden. Ich erwarte auch, dass den Ankündigungen im Koalitionsvertrag zeitnah handfeste Ergebnisse folgen.

Was könnte helfen, um den Zugang in die Krankenversicherung zu erleichtern?

Ich denke, dass die Krankenkassen mehr in die Pflicht genommen werden müssten, um Beratungsangebote so niederschwellig wie möglich anzubieten. Der Schritt in die Versicherung ist teilweise so kompliziert, dass Menschen einfach überfordert sind. Diese Überforderung müssen wir aufheben. Alle Menschen sollten Versicherungsangebote von sich aus annehmen können und hierfür nicht noch Hilfe von Dritten benötigen. Krankenkassen müssten den Patientinnen und Patienten deshalb stärker behilflich sein, in die Versicherung zu kommen. Da müssen wir auch an eine stärkere gesetzliche Verpflichtung der Krankenkassen herangehen.

Die Kassen würden vermutlich sagen, dass das viel Geld kostet. Wie würden Sie hier höhere Investitionen der Beratung und Kostenübernahmen erklären?

Wir kämen sogar günstiger weg, wenn medizinisch notwendige Behandlungen schnell und unbürokratisch vorgenommen und nicht aufgeschoben werden. Ein wichtiges Qualitätsmerkmal eines Gesundheitssystems ist, dass alle Menschen einen gleichen gerechten Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten.

Wir geben viel für unser Gesundheitswesen aus, das weiterhin in der Qualität führend auf der Welt ist. In einem solchen Gesundheitswesen darf es am Ende nicht am Geld scheitern, um allen Menschen die notwendige medizinische Versorgung zu ermöglichen.

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