MEDIZIN: Originalarbeit
SARS-CoV-2-Seroprävalenzen bei Vorschul- und Schulkindern
Ergebnisse aus einem Bevölkerungsscreening von Januar 2020 bis Juni 2022
SARS-CoV-2 seroprevalence in preschool and school-age children—population screening findings from January 2020 to June 2022
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Hintergrund: Die SARS-CoV-2-Pandemie besteht in Deutschland weiter fort. Kinder und Jugendliche sind zunehmend infiziert, mit wahrscheinlich hoher Dunkelziffer. Seroepidemiologische Studien können den tatsächlichen Anteil Infizierter ermitteln.
Methode: Von Januar 2020 bis Juni 2022 wurden im Rahmen eines Screenings für präsymptomatischen Typ-1-Diabetes (Fr1da-Studie) in Bayern 59 786 Teilnehmende im Alter von 1–17 Jahren auf SARS-CoV-2-Antikörper getestet.
Ergebnisse: Im Juni 2022 betrug die Seroprävalenz im Gesamtkollektiv 73,5 %; sie war mit 84,4 % versus 66,6 %, p < 0,001, bei Schulkindern (Alter 5–10 Jahre) statistisch signifikant höher als bei Vorschulkindern (Alter 1–4 Jahre). Im November 2021, vor dem Auftreten der Omikron-Variante, lag die Seroprävalenz dagegen bei 14,7 % (16,2 % der Schulkinder, 13,0 % der Vorschulkinder, p = 0,06). Im Gesamtkollektiv stiegen die Seroprävalenzen von Herbst 2021 bis Juni 2022 um das 5-Fache (bei den Schulkindern um das 5,2-Fache, bei den Vorschulkindern um das 5,1-Fache). Ähnliche Seroprävalenzen wurden – bei kleineren Fallzahlen – im Juni 2022 in den Vergleichsstudien Fr1da in Sachsen und Fr1da-im-Norden (Niedersachsen, Hamburg) mit 87,8 % beziehungsweise 76,7 % beobachtet.
Schlussfolgerung: Die monatlichen Fallzahlen deuten auf eine erhebliche Zunahme SARS-CoV-2-infizierter Kinder und Jugendlicher von Ende 2021 bis Mitte 2022 hin. Der hohe Anteil durchgemachter Infektionen bei Vorschul- und Schulkindern, bei einem Kollektiv, das eine niedrige Impfquote aufweist, sollte in die gesundheitspolitische Bewertung einfließen.


Das Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) ist seit Januar 2020 in Deutschland präsent und infizierte bis Juni 2022 bundesweit circa 28 Millionen Menschen (1). Von Januar 2020 bis Juni 2022 durchlief das Infektionsgeschehen sechs Wellen mit abwechselnd dominanten Virusvarianten. Angetrieben durch die Verdrängung der seit Juli 2021 vorherrschenden SARS-CoV-2 B.1.617.2 („Delta“)-Variante durch die sich rasch verbreitende SARS-CoV-2 B.1.1.529 („Omikron“)-Variante seit Ende 2021 haben sich die Fallzahlen innerhalb weniger Monate deutlich vervielfacht (2). Dieser Trend betrifft nunmehr alle Altersklassen und dadurch zunehmend auch Kinder und Jugendliche (2).
Die Melderegisterdaten in Deutschland zeigen, dass sich bis Juni 2022 circa 890 000 Kinder im Alter von 0–4 Jahren und etwa 3,9 Millionen 5–14-Jährige infiziert hatten (3). Wie präzise diese Fallzahlen sind und wie viele nichtregistrierte Infektionen auftraten, bleibt jedoch schwierig zu bewerten. Wegen der überwiegend asymptomatischen beziehungsweise milden COVID- 19-Verläufe bei Kindern und Jugendlichen (4, 5) ist es allerdings sehr wahrscheinlich, dass in diesen Altersgruppen eine besonders hohe Untererfassung (Dunkelziffer) vorliegt. Frühere Untersuchungen in Deutschland zeigten bereits eine deutlich höhere Fallzahl seropositiver Kinder im Vergleich zu den registrierten Fällen. Beispielsweise ergab eine Untersuchung der monatlichen Seroprävalenzen von Juni 2020 bis Februar 2021 (CorKid-Studie) eine 3- bis 4-fach erhöhte Fallzahl seropositiver Kinder im Vergleich zu den registrierten Fällen (6). Ebenso zeigten frühere Auswertungen des vorliegenden Studienkollektivs eine bis zu 6-fach erhöhte Fallzahl von April bis Juli 2020 (7) und einen Untererfassungsfaktor von 3–4 zu Anfang 2021 (8).
Wegen der höheren Impfquote bei Erwachsenen und der überwiegenden Aussetzung öffentlicher Infektionsschutzmaßnahmen, zum Beispiel der Maskenpflicht in Schulen, können insbesondere Kinder und Jugendliche, die zudem eher in körperlich engem Kontakt stehen, das Infektionsgeschehen vorantreiben. Im Juni 2022 hatten etwa 28 % der 12- bis 17-Jährigen (rund 1,2 Millionen) und etwa 78 % der 5- bis 11-Jährigen (circa 4,2 Millionen) noch keine Erstimpfung erhalten (9). Eine Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) für Kinder unter fünf Jahren gibt es bisher nicht. Demzufolge stellen Kinder und Jugendliche weiterhin vulnerable Gruppen dar, auch wenn die Infektionen selten schwerwiegend verlaufen beziehungsweise zu einer Hospitalisierung führen. Über langfristige Infektionsfolgen ist allerdings wenig bekannt.
Für zukünftige Einschätzungen zum Infektionsgeschehen, der Ausarbeitung von Impfstrategien sowie der Entscheidung über öffentliche Infektionsschutzmaßnahmen, insbesondere in Kinderbetreuungsstätten und Schulen, sind genaue Fallzahlen seropositiver Kinder und Jugendlicher jedoch hilfreich und notwendig.
Wir analysieren hier die monatlichen SARS-CoV-2- Antikörper-Seroprävalenzen im zeitlichen Verlauf von Januar 2020 bis Juni 2022 bei Kindern und Jugendlichen, die an der Fr1da-Studie in Bayern teilnehmen. Um das Infektionsgeschehen bei Kleinkindern und (Vor-)Schulkindern gesondert beurteilen zu können, wurden die Seroprävalenzen zusätzlich nach den Altersgruppen 1–4 Jahre und 5–10 Jahre stratifiziert. Zum Vergleich der Infektionshäufigkeiten unseres Kollektivs mit anderen Bundesländern wurden zusätzlich Daten der Studien Fr1da in Sachsen und Fr1da-im-Norden herangezogen.
Methode
Studienkollektiv
Die untersuchten Kinder sind Teilnehmende der Fr1da-Studie in Bayern (n ~ 167 000), einem 2015 initiierten öffentlichen Gesundheitsscreening für präsymptomatischen Typ-1-Diabetes (10, 11). Teilnehmen können alle Kinder in Bayern, die 2–10 (genauer 1,75–10,99) Jahre alt sind und bisher keine Diabetesdiagnose erhalten haben. Ebenso können Verwandte ersten Grades der Teilnehmenden im Alter von 1–17 (genauer 1,0–17,99) Jahren das Screening durchlaufen. In den teilnehmenden 684 Kinderarztpraxen wird den Teilnehmenden eine kapillare Blutprobe entnommen und unmittelbar an das Zentrallabor am Institut für Diabetesforschung am Helmholtz Zentrum München, Deutschland, versendet, wo die weitere Probenanalyse stattfindet. Das ausführliche Studiendesign der Fr1da-Studie wurde bereits an anderen Stellen beschrieben (10, 11). Im Verlauf der Fr1da-Studie wurde seit Januar 2020 allen Teilnehmenden zusätzlich die Antikörperbestimmung gegen SARS-CoV-2 angeboten (7, 8, 12). Vom 09.01.2020– 30.06.2022 wurden 59 786 Blutproben auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 untersucht. Nach Altersgruppen waren dies 38 430 Blutproben der 1- bis 4-Jährigen, 20 534 der 5- bis 10-Jährigen und 822 der 11- bis 17-Jährigen. Ebenso wurden bei der pädiatrischen Untersuchung mit standardisierten Fragebögen das Alter und Geschlecht und ab Januar 2022 der Impfstatus des Kindes erfasst.
Zum Vergleich wurden Daten von Kindern und Jugendlichen aus der Fr1da-Studie in Sachsen und aus der Fr1da-im-Norden-Studie (Niedersachsen und Hamburg) ausgewertet. Die Studienprotokolle entsprechen dem Protokoll der Fr1da-Studie in Bayern. Seit dem 01.09.2021 wurden in der Fr1da-Studie in Sachsen 376 Teilnehmende und seit dem 01.08.2021 in der Fr1da-im-Norden-Studie 851 Teilnehmende auf SARS-CoV-2-Antikörper untersucht.
Die Ethikkommission der Technischen Universität München hat die Fr1da-Studie auf ethische Aspekte geprüft und der Durchführung zugestimmt (#70/14 s und 235/20 s). Ein schriftliches Einverständnis der Erziehungsberechtigten der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen lag stets vor.
SARS-CoV-2-Antikörpermessung
Immunglobulin-G-Antikörper gegen die SARS-CoV-2-Rezeptorbindungsdomäne („receptor binding domain“, RBD) und gegen das SARS-CoV-2-Nukleokapsid-Protein („nucleocapsid protein“, NP) wurden im kapillaren Serum mit hochspezifischen Luciferase-Immunopräzipitations-System (LIPS)-Ansätzen gemessen. Eine detaillierte Methodenbeschreibung kann im eMethodenteil eingesehen werden und wurde bereits an anderer Stelle beschrieben (7).
Statistik
Die dargestellten Häufigkeiten seropositiver Kinder und Jugendlicher entsprechen dem Quotienten aus SARS-CoV-2-positiven Fällen (RBD-positiv und NP-positiv/negativ) und insgesamt getesteten Proben in dem jeweiligen Monat. Die Monatsangaben beziehen die Proben vom ersten bis zum letzten Tag des Monats ein, bis auf Januar 2020, wo die ersten Proben ab dem 09.01. gemessen wurden. Aufgrund der Impfempfehlung für 5- bis 11-jährige Kinder ab Januar 2022, wurden von Januar bis Juni 2022 zusätzlich zu der Gesamtseroprävalenz die Anteile der Teilnehmenden mit Impfung ohne bisherige Infektion beziehungsweise einer weit zurückliegenden Infektion separat angegeben. Für die altersspezifische Auswertung der Seroprävalenzen der 1- bis 4- und 5- bis 10-Jährigen nach Infektionswellen in Deutschland wurden die Zeiträume nach öffentlichen Angaben verwendet (13). Das Altersjahr war stets bis zum vollendeten Lebensjahr, zum Beispiel galten alle Kinder von 10,0–10,99 Jahren als 10-Jährige. Wegen der geringen Anzahl der 11- bis 17-Jährigen wurde diese Altersgruppe nicht gesondert ausgewertet. Zum Vergleich der Altersgruppen sind die Mediane (Minimum–Maximum) der monatlichen Seroprävalenzen in den jeweiligen Infektionswellen dargestellt. Pro Infektionswelle wurde die Gesamtzahl an positiven Fällen pro insgesamt getestete Proben zwischen den beiden Altersgruppen mittels Chi-Quadrat-Test statistisch verglichen. Die SARS-CoV-2-RBD-Antikörpertiter im Gesamtkollektiv sind als Median mit Interquartilabstand („inter quartile range“, IQR) beschrieben und als Box-Plot (Median und IQR) mit Linien für Werte innerhalb der 1,5-fachen IQR und Punkten für Werte außerhalb der 1,5-fachen IQR dargestellt. Die RBD-Antikörpertiter vor und seit dem 01.03.2022 wurden mittels Wilcoxon-Test statistisch verglichen. Für einen exemplarischen Vergleich der RBD-Antikörpertiter zwischen Genesenen ohne Impfung (RBD- und NP-positive Fälle bis Juli 2021) und Geimpften ohne oder mit Infektion (bestätigte Erstimpfung, RBD-positiv und NP-negativ beziehungsweise -positiv) wurden die Gruppen mittels Wilcoxon-Test statistisch analysiert. Alle statistischen Tests wurden mit der Software R (R core team, Wien, Österreich) berechnet. Ein P-Wert < 0,05 wurde als statistisch signifikant angenommen.
Ergebnisse
Monatliche Seroprävalenzen im Gesamtkollektiv
Von Januar 2020 bis Juni 2022 wurden 59 786 Kinder und Jugendliche auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 untersucht, durchschnittlich etwa 1 993 Kinder pro Monat. Im Juni 2022 betrug die Häufigkeit RBD-positiver SARS-CoV-2-Fälle 73,5 % (Grafik 1a). Davon waren, basierend auf dem Antikörperprofil, 66,7 % genesen beziehungsweise genesen und geimpft, 6,8 % waren geimpft ohne bisherige Infektion oder hatten eine weit zurückliegende Infektion. Die Seroprävalenz im Juni 2022 stellte das bisherige Höchstniveau seit Beginn der Messungen dar.
Seit November 2021 (Seroprävalenz 14,7 %) stiegen die Fallzahlen deutlich und rasch bis Juni 2022 an; bereits im März 2022 war nahezu die Hälfte der getesteten Kinder und Jugendlichen seropositiv (53,4 %; Grafik 1a). Über den Zeitraum von November 2021 bis Juni 2022 hat sich der Anteil seropositiver Teilnehmender in diesem Studienkollektiv in etwa verfünffacht.
Von Frühjahr bis Herbst 2021 war die Seroprävalenz auf einem relativ stabilen Niveau um die 10–12 % geblieben (Grafik 1a). Davor gab es einen stetigen Anstieg der Fallzahlen von 2,7 % im November 2020 bis 10,6 % im Mai 2021.
Monatliche Seroprävalenzen stratifiziert nach den Altersgruppen 1–4 und 5–10 Jahre
Die monatlichen Seroprävalenzen bei Kleinkindern (1–4 Jahre) und Schulkindern (5–10 Jahre) folgten insgesamt dem Verlauf des Gesamtkollektivs. Im Juni 2022 betrug die Seroprävalenz 66,6 % bei den 1- bis 4-Jährigen (Anzahl positiv: n = 613, Anzahl getesteter: n = 920) und war mit 84,4 % statistisch signifikant höher bei den 5- bis 10-Jährigen (Anzahl positiv: n = 416, Anzahl getesteter: n = 493; p < 0,001). Davon waren 62,1 % bei den Kleinkindern und 73,8 % der Schulkinder genesen beziehungsweise genesen und geimpft. Der Anteil an Kindern mit einem Antikörperprofil, das einer Impfung ohne vorherige Infektion beziehungsweise mit früherer Infektion entspricht, betrug im Juni 2022 bei den 1- bis 4-Jährigen 4,5 % und bei den 5- bis 10-Jährigen 10,5 %. Im November 2021 hatten beide Altersgruppen ähnliche Seroprävalenzen gezeigt (Vorschulkinder 13,0 %, Schulkinder 16,2 %, p = 0,06).
Eine konzentrierte Auswertung der Seroprävalenzen über den Verlauf der ersten fünf Infektionswellen zeigte – unabhängig von den Altersgruppen – in der fünften Infektionswelle (Januar–Mai 2022) eine deutliche Erhöhung verglichen mit den vorherigen Zeiträumen (Tabelle). Im Median waren in der fünften Infektionswelle 44,6 % der 1- bis 4-Jährigen und 63,0 % der 5- bis 10-Jährigen seropositiv (p < 0,001). Die 5- bis 10-Jährigen zeigten in der zweiten, dritten und vierten Infektionswelle statistisch signifikant erhöhte Seroprävalenzen im Vergleich zu der jüngeren Altersgruppe (Tabelle). In der ersten Infektionswelle lag die mediane Seroprävalenz um die 0,3 % in beiden Altersgruppen (p = 0,7904).
Monatliche Seroprävalenzen der Studien in Sachsen und Niedersachsen/Hamburg
Vergleichsdaten aus der Fr1da-Studie in Sachsen weisen gleichfalls auf eine starke Steigerung der Seroprävalenzen bei Kindern und Jugendlichen seit Herbst/Winter 2021 hin (Seroprävalenz 21,6 %; Grafik 1b). Wegen geringerer Testungen von September bis Dezember 2021 wurden die Fallzahlen hier zusammengefasst, um eine ähnliche Gruppengröße gegenüber den nachfolgenden Monaten zu erhalten. Auch in dieser Studie stieg der Anteil seropositiver Kinder und Jugendlicher im Juni 2022 auf das bisherige Höchstniveau von 87,8 % (Grafik 1b). Nach dem Antikörperprofil war der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Impfung ohne durchlaufene Infektion beziehungsweise weit zurückliegender Infektion hier im Januar 2022 am höchsten mit 12,9 % und fiel bis Juni 2022 auf 1,8 % (Grafik 1b).
Auch eine Analyse aus der Fr1da-im-Norden-Studie von August 2021 bis Juni 2022 zeigt ein ähnliches Muster (Grafik 1c). Die markante und schnelle Zunahme der Fallzahlen von November/Dezember 2021 (Seroprävalenz 10,9/7,9 %) bis Juni 2022 (Seroprävalenz 76,7 %) spiegelte sich auch in diesem Studienkollektiv aus Niedersachsen und Hamburg wider (Grafik 1c). In der Fr1da-im-Norden-Studie war der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einer Impfung ohne durchlaufene Infektion beziehungsweise mit einer weit zurückliegenden Infektion im Januar 2022 am niedrigsten mit 3,9 % und stieg bis Juni 2022 auf 16,7 % (Grafik 1c).
SARS-CoV-2-RBD-Antikörpertiter der Studie in Bayern
Die individuellen RBD-Antikörpertiter der RBD-positiven Proben im Gesamtkollektiv zeigten ab März 2022 mit dem hier verwendeten RBD-Antikörper-Assay statistisch signifikant geringere Titer als in der gesamten Periode davor (p < 0,001; Grafik 2).
Dies zeigen auch die medianen Antikörpertiter über den Verlauf der fünf Infektionswellen. In der fünften Infektionswelle (Januar–Mai 2022) lag der mediane Titer bei 440,1 „binding antibody units“ (BAU; internationale Standardeinheit [14]) (IQR: 95,7–4 030,4) und somit deutlich niedriger als in vorherigen Infektionswellen. Die vierte Infektionswelle von August–Dezember 2021 zeigte ähnliche Titer wie die zweite Infektionswelle von September 2020–Januar 2021 (vierte Welle: 2 220,9 [615,4–5 802,3] BAU; zweite Welle: 2 532,4 [454,4–4 752,6] BAU). In der dritten Infektionswelle (Februar–Mai 2021) wurden mit 2 902,9 (1 040,3–5 807,4) BAU die höchsten Antikörpertiter beobachtet. Dagegen lag der Median in der ersten Infektionswelle (März–April 2020) bei 509,4 (276,4– 1 141,9) BAU.
Bei einem Vergleich zwischen Genesenen ohne Impfung (n = 1 532) und Geimpften ohne (n = 226) oder mit Infektion (n = 206) nahmen die RBD-Antikörpertiter über die drei Gruppen statistisch signifikant zu (eGrafik 1). Die medianen Titer von Genesenen ohne Impfung lagen bei 2 589,8 (963,8–5 238,2) BAU, die der Geimpften ohne Infektion bei 17 225,9 (8 602,9–29 508,0) BAU und die der Geimpften mit Infektion bei 40 789,9 (18 777,7–70 087,4) BAU (alle Vergleiche p < 0,001).
Diskussion
Seroepidemiologische Studien sind ein wichtiger Bestandteil zur Beurteilung des Infektionsgeschehens und unterstützen somit die Ausarbeitung zukünftiger gesundheitspolitischer (Schutz-)Maßnahmen.
In Bayern bietet die Fr1da-Studie seit Beginn der COVID-Pandemie den Teilnehmenden über ein weites Netz von Kinderarztpraxen an, sich auf SARS-CoV-2-Antikörper testen zu lassen. Seit dem Auftreten der Omikron-Variante Ende 2021 in Deutschland zeigen auch die vorliegenden Zahlen einen schnellen und markanten Anstieg seropositiver Kinder und Jugendlicher. Bis zum Sommer 2022 stiegen die monatlichen Seroprävalenzen im Gesamtkollektiv auf 73,5 % und betrugen in den Altersgruppen 1–4 und 5–10 Jahre 66,6 % und 84,4 %. Daten aus der Fr1da-im-Norden-Studie und der Fr1da-Studie in Sachsen bestätigen – wenn auch mit weniger Testungen – diese Befunde und zeigen, dass auch in anderen Bundesländern bereits eine sehr hohe Seroprävalenz vorliegt. Bemerkenswert ist dieser Anstieg trotz regelmäßiger Testverfahren in Schulen und Kindergärten sowie Maskenpflicht in Schulen – Infektionsschutzmaßnahmen, die zum Beispiel in Bayern bis Anfang Mai 2022 vorgeschrieben waren. In dem untersuchten Kollektiv zeigten Schulkinder, insbesondere in der fünften Infektionswelle, höhere Seroprävalenzen im Vergleich zu den Vorschulkindern. Eine mögliche Ursache ist, dass Schulkinder häufiger zwischenmenschliche Kontakte, etwa bei Freizeitaktivitäten, haben als Kleinkinder, die beispielsweise nur zum Teil in Betreuungseinrichtungen untergebracht sind. Es bleibt abzuwarten, wie sich die weiteren Fallzahlen entwickeln; allerdings ist unter den aktuellen Bedingungen, zum Beispiel mangelnde Impfbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen, bei dominanter Omikron-Variante und fehlenden Infektionsschutzmaßnahmen eine weiter zunehmende Zahl seropositiver Kinder und Jugendliche zunächst wahrscheinlich.
Bei der Betrachtung der RBD-Antikörpertiter war ab November 2021 eine breitere Streuung der Werte zu erkennen, die seit Februar 2022 weiter zunahm. Darauf folgte eine deutliche Reduktion der medianen Titer ab März 2022 bei gleichbleibend hoher Streuung. Demnach hatten ab März 2022 zunehmend mehr Kinder und Jugendliche niedrigere Antikörpertiter; zu beachten ist jedoch die starke Streuung der Werte. Eine mögliche Erklärung hierzu ist, dass der Antikörper-Assay mit den Virusproteinkonstrukten des SARS-CoV-2-Wildtyps entwickelt wurde und diese weniger intensiv mit den gegen die Omikron-Variante gerichteten Antikörpern der getesteten Kinder reagieren. Auch eine geringere Antikörperantwort gegen eine Infektion mit der Omikron-Variante, die in dieser Zeit die dominante Variante darstellte, könnte eine Ursache sein (15).
Die Teilnahme an der Fr1da-Studie sowie die Testung auf SARS-CoV-2-Antikörper sind freiwillig und daher kann ein Selektionsfehler („selection bias“) nicht ausgeschlossen werden, was auf nahezu alle Untersuchungen dieser Art zutreffen kann (16). Eine Unter- beziehungsweise Überschätzung der tatsächlichen monatlichen Seroprävalenzen ist somit möglich. Stärken unserer Untersuchung sind jedoch die relativ große Stichprobe, die über einen langen Zeitraum untersucht wurde. Zudem ergibt sich durch eine breite geografische Verteilung der teilnehmenden Kinderärztinnen und -ärzte eine gute Abdeckung der Bevölkerung in Bayern.
Die aktuelle Auswertung SARS-CoV-2-Antikörper-positiver Kinder und Jugendlicher in Bayern zeigt einen starken Anstieg der Seroprävalenz seit November 2021. Bereits im Juni 2022 waren mehr als zwei Drittel der getesteten Kinder im Gesamtkollektiv und mehr als 60,0 % der Vorschulkinder beziehungsweise mehr als 80,0 % der Schulkinder seropositiv. Diese hohen Fallzahlen, die auch in anderen Bundesländern erkennbar sind, sollten bei zukünftigen gesundheitspolitischen Bewertungen berücksichtigt werden.
Förderung
Diese Arbeit wurde mit Fördergeldern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (FKZ01KX1818) und des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) unterstützt.
Die Fr1da-Studie wird finanziert durch die LifeScience-Stiftung (HMGU19.01), JDRF (3-SRA-2019–718-Q-R) und The Helmsley Charitable Trust (G-1911–03274 und G-1911–03274).
Danksagung
Unser besonderer Dank gilt den teilnehmenden Familien und Kindern und den Mitwirkenden an der der Fr1da-Studie. Wir danken insbesondere Christiane Winkler für das Projektmanagement; Marlon Scholz, Claudia Matzke, Cigdem Gezginci, Katharina Sarcletti, Stefanie Jacobsen, Willi Gräz, Merve Vurucu, und Rebecca Niewöhner für labortechnische Assistenz. Auch danken wir den teilnehmenden Kinderärztinnen und -ärzten der Fr1da-Studie (17).
Interessenkonflikt
Dr. Ewald ist ehrenamtlicher Landesverbandsvorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte.
Die übrigen Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 17.09.2022, revidierte Fassung angenommen: 13.10.2022
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Anette-G. Ziegler
Institut für Diabetesforschung
Helmholtz Zentrum München
Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt
Ingolstaedter Landstraße 1
85764 München-Neuherberg
anette-g.ziegler@helmholtz-muenchen.de
Zitierweise
Ott R, Achenbach P, Ewald DA, Friedl N, Gemulla G, Hubmann M, Kordonouri O, Loff A, Marquardt E, Sifft P, Sporreiter M, Zapardiel-Gonzalo J, Ziegler AG: SARS-CoV-2 seroprevalence in preschool and school-age children—population screening findings from January 2020 to June 2022. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 765–70. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0355
Dieser Beitrag erschien online am 26.10.2022 (online first) unter
www.aerzteblatt.de
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eMethodenteil, eGrafiken:
www.aerzteblatt.de/m2022.0355 oder über QR-Code
Praxis für Kinder- und Jugendmedizin, Regensburg: Dr. med. Dominik A. Ewald
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät, TU Dresden: Dr. med. Gita Gemulla, Dr. rer. nat. Anja Loff
Center for Regenerative Therapies Dresden, Medizinische Fakultät, TU Dresden:
Dr. med. Gita Gemulla, Dr. rer. nat. Anja Loff
Praxis für Kinder- und Jugendmedizin, Zirndorf: Dr. med. Michael Hubmann
Kinder- und Jugendkrankenhaus Auf der Bult, Hannover: Prof. Dr. med. Olga Kordonouri, Erika Marquardt
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