POLITIK
COVID-19-Pandemie: Kitaschließungen waren unnötig


Die Corona-KiTa-Studie zeigt, dass Kitas während der Coronapandemie keine Infektionsherde waren. Bei den Kindern verlief eine Infektion meist harmlos. Deutlich mehr Kinder haben aber einen höheren sprachlichen, motorischen und sozio-emotionalen Förderbedarf als vor der Pandemie.
Die Schließungen von Kindertagesstätten in den ersten Coronawellen sind nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nicht notwendig gewesen. „Das Schließen von Kitas ist definitiv medizinisch nicht angemessen und wäre auch in dem Umfang, wie wir es damals gemacht haben, nach heutigem Wissen nicht nötig gewesen“, sagte er anlässlich der Vorstellung des Abschlussberichts der Corona-KiTa-Studie (1) am 2. November in Berlin.
„Kitas waren keine Infektionsherde. Die Inzidenzen lagen deutlich unter denen in Schulen und Familien. Langfristige und schwere Infektionsverläufe mit COVID-19 waren bei Kitakindern eher selten“, resümierte Lauterbach aus der Studie, die er zusammen mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) der Öffentlichkeit vorstellte.
Lauterbach will keine Schuldzuweisungen
Rückblickend sagte Lauterbach, der zur Zeit der Schließungen noch nicht Bundesgesundheitsminister war, aber als SPD-Gesundheitsexperte in der gemeinsamen Regierung mit der Union an wichtigen Entscheidungen beteiligt, er halte nichts von Schuldzuweisungen. Bundesregierung und Länder hätten das damals gemeinsam beschlossen. Jetzt sei man mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu dem Schluss gekommen, dass die Kitaschließungen nicht nötig gewesen wären gewesen. „Diese Erkenntnisse müssen wir nutzen, um nach vorne zu schauen. Es wird keine Schließungen dieser Art mehr geben“, sicherte der Bundesgesundheitsminister zu.
„In Zukunft muss das Kindeswohl unbedingt an oberster Stelle stehen“, betonte Bundesfamilienministerin Paus. Kinder, die am meisten von frühkindlicher Bildung und Förderung profitieren könnten, tragen der Corona-KiTa-Studie zufolge besonders schwer an den Folgen der Eindämmungsmaßnahmen. „Kitas mit hohem Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien haben jetzt einen fast doppelt so hohen Förderbedarf bei Sprache, bei Motorik und bei der sozialen und emotionalen Entwicklung wie zuvor. Die Pandemie hat die soziale Ungleichheit schon bei den Kitakindern verstärkt“, sagte Paus.
Die von beiden Ministerien finanzierte und vom Deutschen Jugendinstitut und Robert Koch-Institut (RKI) durchgeführte Corona-KiTa-Studie lief von Sommer 2020 bis Juni 2022. Untersucht wurden in dem Projekt die Auswirkungen der Pandemie und der Schutzmaßnahmen auf Kindertagesbetreuung, Kinder und Familien aus verschiedenen Blickwinkeln. Ermittelt wurde darin unter anderem, wie oft Kinder im Kitaalter an Corona erkranken, wie empfänglich sie für das Virus sind und wie schwer die Krankheitsverläufe sind. Darüber hinaus wurden die Unterstützungsbedarfe von Familien und Kitas sowie die mittelfristigen Folgen der Pandemie wie Entwicklungsschwierigkeiten von Kindern und Long-COVID-Erkrankungen untersucht.
Die Corona-KiTa-Studie ist in vier Module gegliedert. Die Corona-KiTa-Surveys ermittelten die Herausforderungen und Lösungen vor Ort, indem Kitaleitungen und das pädagogische Personal von 3 914 Einrichtungen sowie Eltern (21 447 Familien) standardisiert und im Längsschnitt befragt wurden (Modul 1). Das KiTa-Register hat wöchentlich und bundesweit Eckdaten zum Funktionieren der Kindertagesbetreuung in der Pandemie erhoben (Modul 2). Die Corona-KiTa-Surveillance am RKI steuerte unter anderem Meldedaten der Gesundheitsämter sowie Daten der syndromischen Surveillance bei (Modul 3). Schließlich wurden anlassbezogene Untersuchungen in solchen Kitas durchgeführt, in denen es zu Coronaausbrüchen kam (Modul 4).
Kitakinder folgten immer dem Infektionsgeschehen
Im Ergebnis zeigt die Corona-KiTa-Studie anhand des Verlaufs der gemeldeten Infektionsfälle, dass Kinder im Alter von null bis fünf Jahren in der Pandemie deutlich weniger von COVID-19-Infektionen betroffen waren als ältere Kinder und Jugendliche. Dabei folgten die Kinder immer dem Infektionsgeschehen, als dass sie diesem vorausgingen, wie es bei anderen Atemwegserkrankungen der Fall ist. Allerdings nahm die Häufigkeit und Dynamik von Infektionen auch bei Kindern von Variante zu Variante zu. Infizierte Kinder zeigten meist wenige oder asymptomatische Symptome. Schnupfen war das häufigste Symptom. Schwere Beschwerden, wie zum Beispiel Atemnot, wurden nur sehr selten angegeben. Diese Beobachtungen beziehen sich auf den SARS-CoV-2-Wildtyp und die Alpha-Variante. Kinder zeigten auch seltener schwere Krankheitsverläufe. Zwar stieg die Inzidenz von stationär aufgenommenen Kindern mit COVID-19 im Pandemieverlauf an, jedoch blieb der Anteil stationär behandelter Kinder im Vergleich zu älteren Altersgruppen auf einem niedrigen Niveau. Die Zahl mit einer SARS-CoV-2-Infektion verstorbenen Kinder war im gesamten Pandemieverlauf vergleichsweise klein und lag bei drei von 100 000 Kindern. Sie blieb damit unterhalb der Werte aller Altersgruppen über 20 Jahren. In der Nachbefragung sieben bis zwölf Monate nach den Ausbruchsuntersuchungen hatten Kitakinder, die zuvor eine Coronainfektion hatten (n = 31), nicht häufiger Langzeitbeschwerden als Kinder ohne Coronainfektion (n = 158) aus denselben Kitas (26 % versus 38 %). Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass dieser Befund in größeren Studien weiter untersucht werden müsse.
Das Coronainfektionsgeschehen in den 30 untersuchten Kitas mit mindestens einem SARS-CoV-2-Fall (Kind oder Beschäftigte) war zwischen den Kitas sehr unterschiedlich (von null bis mehr als zehn Übertragungen in einer Kitagruppe). Im Schnitt wurden zehn Prozent der Kontaktpersonen in einer Kitagruppe angesteckt. Von infizierten Kitakindern und Kitabeschäftigten ging ein ähnlich hohes Übertragungsrisiko aus. Unter den Kontaktpersonen haben sich Kinder deutlich seltener angesteckt als Erwachsene. Die Übertragungsrate in den Haushalten von infizierten Kindern oder Beschäftigten der 30 untersuchten Kitas lag bei 53 Prozent. Damit steckten sich in den Haushalten deutlich mehr Personen an als in den Kitas.
Kleingruppen, Masken bei Erwachsenen und Lüften
Die Corona-KiTa-Studie zeigt weiter, dass die Schutz- und Hygienemaßnahmen, die in den Kitas umgesetzt wurden, das Übertragungsrisiko des SARS-CoV-2-Virus in relevantem Umfang reduzierten. Als besonders wirksame Maßnahmen zur Reduktion der Infektionsfälle erwiesen sich das Bilden von Kleingruppen mit fester Personalzuweisung sowie das Tragen von Masken durch Erwachsene, vor allem in Innenräumen. Einen schützenden Effekt hatte auch das Lüften der Räume. Keinen messbaren Effekt hatte indes das regelmäßige Desinfizieren der Oberflächen.
Das Tragen von Masken der Beschäftigten im Umgang mit Kindern erwies sich in der vierten und fünften Welle als vorteilhaft. Nach Ansicht der Studienautoren gelte es allerdings genau abzuwägen, ob die epidemiologischen Schutzeffekte der Gesichtsmasken mögliche Erschwernisse im pädagogischen Alltag aufwiegen.
Als nicht beabsichtigte Folge der Coronaeindämmungsmaßnahmen fand in den Kitas indes ein Reboundeffekt bei anderen Atemwegserregern statt, der die Kinder, das Personal und die Familien belastete, vor allem im Frühherbst 2021.
Die Leitungsbefragung der Corona-KiTa-Studie machte deutlich, dass sich der organisatorische und pädagogische Kitaalltag durch die wiederkehrende Einführung und Aufhebung von Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht, Betretungsverbote für Eltern oder regelmäßige Testungen von Kindern und Beschäftigten zwischen Herbst 2020 und Frühjahr 2022 mehrfach grundlegend verändert hat. Dies war für einige Leitungen mit Schwierigkeiten und Konflikten bei der Neuorganisation des Alltags und dem Kontakt mit Eltern verbunden. Zusätzlich zu den Ansteckungsängsten der Pädagoginnen und Pädagogen führte dies während der zweiten und dritten Pandemiewelle zu gesteigerten Belastungen sowie zu verschlechterten Beziehungen zu den Eltern.
Höherer Förderbedarf bei sozial schwächeren Kindern
Viele Kitaleitungen gaben im Frühjahr 2022 einen relevanten Anteil an Kindern an, die einen deutlich höheren sprachlichen (43 Prozent), motorischen (46 Prozent) und sozio-emotionalen (58 Prozent) Förderbedarf hatten als im Vergleich zu vor der Pandemie. In Einrichtungen mit einem größeren Anteil an Kindern aus sozio-ökonomisch schwachen Verhältnissen war der Anteil höher. Etwa 40 bis 50 Prozent der Leitungen gaben an, zusätzliche Förderangebote im Bereich der sprachlichen Bildung, der Bewegungsförderung, der Förderung der sozio-emotionalen Entwicklung sowie der psychischen Gesundheit von Kindern geschaffen zu haben.
Die in der Corona-KiTa-Studie befragten Eltern schätzten das Wohlbefinden ihrer Kinder geringer ein, wenn diese wegen der Schließungen in der zweiten und dritten Pandemiewelle ihre gewohnte Kindertagesbetreuung nicht nutzen konnten. Von Kitaausfällen betroffene Eltern berichteten auch selbst ein erhöhtes Stresserleben – insbesondere alleinerziehende Eltern und wenn beide Elternteile berufstätig waren.
Im Verlauf der Pandemie stellte die Corona-KiTa-Studie eine zunehmende Entkoppelung von Infektionsfällen und Schließungen fest, die auf eine sich verändernde Praxis der Quarantäne- oder Schließungsanweisungen hinweist. Infektionsfälle und damit auch Schließungen waren darüber hinaus sozial stratifiziert: Einrichtungen mit einem hohen Anteil herkunftsbedingt benachteiligter – und damit besonders unterstützungsbedürftiger – Kinder wiesen ein erhöhtes Risiko für Infektionsfälle in der Einrichtung auf und wurden häufiger geschlossen. Petra Bühring
aerzteblatt.de
SARS-CoV-2-Seroprävalenzen
Ergebnisse aus einem Bevölkerungsscreening deuten auf eine erhebliche Zunahme infizierter Heranwachsender hin.
http://daebl.de/YB67
Kindeswohl im Fokus
Kinder und Jugendliche sind von COVID-19-Erkrankungen weniger betroffen. Deutlich stärker sind die sekundären Folgen.
http://daebl.de/HS24
Psychische Gesundheit
Die COPSY-Studie untersuchte die psychische Gesundheit von Kindern und Eltern während der COVID-19-Pandemie.
http://daebl.de/WP46
126. Deutscher Ärztetag
Die Ärzte forderten, das Wohl von Kindern und Jugendlichen bei den Coronamaßnahmen ganzheitlich zu berücksichtigen.
http://daebl.de/MF79
Kinder mit chronischen Krankheiten
Medizinische Rehabilitationen für Kinder und Jugendliche sind im ersten Jahr der Coronapandemie zurückgegangen.
http://daebl.de/VH98
Gewichtszunahme
Die Gewichtsentwicklung bei adipösen Kindern und Jugendlichen nahm während der COVID-19-Pandemie weiter zu.
http://daebl.de/YN69
1. | Kuger S, Haas W. Kalicki B, et al: Die Kindertagesbetreuung während der COVID-19-Pandemie. Ergebnisse einer interdisziplinären Studie. Bielefeld 2022: wbv Publikation. DOI: 10.3278/9783763973279 . |