ArchivDeutsches Ärzteblatt4/2023Medizininformatik-Initiative: Schlummernde Reserve heben

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Medizininformatik-Initiative: Schlummernde Reserve heben

Haserück, André; Kurz, Charlotte

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Die Universitätskliniken arbeiten am Aufbau von Datenzentren, an die auch Arztpraxen und Krebsregister angegliedert werden sollen. Ziel ist eine bessere Patientenversorgung.

Foto: DragonImages/stock.adobe.com
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Ein schneller Austausch zwischen Versorgungs- und Forschungsdaten ist in Deutschland noch kaum möglich, wäre aber zentral für eine Verbesserung der Versorgung. Um Daten aus der Patientenversorgung zügiger und standardisierter in die Forschung einfließen zu lassen, arbeitet die Medizininformatik-Initiative (MII) zur datenbasierten Gesundheitsforschung seit 2018 daran, dezentrale Dateninfrastrukturen insbesondere an den Universitätskliniken in Deutschland aufzubauen. Gefördert wird die Initiative vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von 2018 bis 2026 mit insgesamt mehr als 400 Millionen Euro. Im Januar ist eine neue Projektphase gestartet.

„Die MII ist ein grundlegendes Projekt, um Versorgungsdaten für die Forschung verfügbar zu machen“, sagte Sebastian C. Semler, Leiter der MII-Koordinationsstelle und Geschäftsführer des Vereins Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) dem Deutschen Ärzteblatt. „Der Kerngedanke ist, dass man sich strukturiert darum kümmert, standortübergreifende Datennutzung herzustellen und perspektivisch primäre Forschungsdaten mit Daten verknüpft, die direkt aus der Dokumentation der Patientenversorgung stammen. Diese bilden etwa neben Daten aus klinischen Studien eine schlummernde Reserve“, erklärte Semler weiter.

In der ersten Förderphase der Initiative von 2018 bis 2022 ging es hauptsächlich um den Aufbau von Datenintegrationszentren (DIZ) an allen Universitätskliniken. Mit der aktuellen Ausbau- und Erweiterungsphase steht eine erweiterte Zusammenarbeit zwischen den Unikliniken und neuen Partnern, insbesondere aus der regionalen Versorgung, im Fokus. Für diese Phase bis 2026 gibt es eine Förderung von 200 Millionen Euro.

IT-Lösungen retten Leben

„Daten helfen heilen. Deshalb treiben wir die Digitalisierung in der Gesundheitsforschung entschieden voran“, erklärte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) Anfang Januar. „Der Nutzen unserer Förderung ist vielseitig: So können beispielsweise digitale Assistenzsysteme Medikamentenverschreibungen und klinische Routinedaten automatisch analysieren.“ Entdeckten sie erhöhte Risiken für unerwünschte Nebenwirkungen, werden die Stationsapothekerinnen und -apotheker der Klinik informiert. „Solche IT-Lösungen werden künftig in allen Bereichen der Medizin helfen, unsere Gesundheitsversorgung besser zu machen und Leben zu retten“, so die Ministerin.

Konkret fußt die Arbeit der MII vor allem auf den DIZ. „In den Datenintegrationszentren der Kliniken werden die jeweiligen Schnittstellen gebaut. Die Daten werden aus den Primärsystemen der stationären Patientenversorgung in die DIZ geleitet, transformiert und in ein Standardformat gebracht, sollten sie nicht bereits standardkonform vorliegen“, sagte Semler.

Die Datensätze liegen schlussendlich alle einheitlich in den DIZ der Unikliniken vor und können für Forschungszwecke abgefragt werden. Neben den Unikliniken baue auch das Klinikum Chemnitz als erster nicht universitärer Standort ein DIZ auf. Die MII hat einen Kerndatensatz entwickelt, der bereits mit einem ersten Satz von Modulen an allen Standorten verwendet wird. Weitere Kerndatensatzmodule sollen nun in der aktuellen zweiten Projektphase umgesetzt werden, zum Beispiel für Daten aus der Onkologie und Pathologie, aber auch zu genetischen Befunden oder zur Beschreibung von Bioproben, erläuterte Semler.

„Jetzt geht es darum, weitere Partner einzubeziehen und sich quer zu vernetzen.“ Insbesondere stehe auf der Agenda, die universitären Datenzentren mit ambulanten Strukturen zu vernetzen. „Außerdem wollen wir unsere Zentren mit den Kassendaten verzahnen“, so Semler. In den Daten der Krankenversicherungen steckten transsektorale Informationen. Diese anzubinden sei rechtlich und technisch nicht einfach, werde aber in den kommenden Jahren erarbeitet.

Zudem sei eine Verknüpfung mit dem Krebsregister geplant, kündigte Semler an. In der aktuellen Förderphase geht es weiter darum, Fragen der Finanzierung nach Auslaufen der Förderung zu klären. Um Versorgung und Forschung auch außerhalb des universitären Kontextes zu adressieren, laufen unter dem MII-Dach (Grafik) aktuell sechs Digitale FortschrittsHubs. Damit werden in Pilotprojekten Arztpraxen oder Pflegeeinrichtungen mit den Datenzentren der Unikliniken verknüpft. Die Hoffnung: Aus dem ambulanten Bereich sollen Versorgungsdaten in die DIZ eingespeist werden, die wiederum als wertvolle Informationen für die Forschung genutzt werden können. Das BMBF fördert die sechs Projekte mit weiteren rund 50 Millionen Euro (2021–2025).

Aufbau und Struktur der Medizininformatik-Initiative (MII)
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Aufbau und Struktur der Medizininformatik-Initiative (MII)

Auch Arztpraxen vernetzen

„Wir werden keine Datenintegrationszentren in jeder Arztpraxis aufbauen können, deswegen brauchen wir Konzepte, wie wir die MII-Strukturen ausrollen und vernetzen können“, erklärte Semler. Allerdings gebe es in den Arztpraxen auch Schwierigkeiten bei der Datenerfassung, etwa aufgrund mangelnder IT-Ausstattung, fehlenden Arbeitsprozessen oder Patienteneinwilligungen.

Für den Krankenhausbereich habe die MII zwar einen Mustertext zur Patienteneinwilligung etabliert, der mit allen Datenschützern bundesweit abgesprochen ist. Diese Einwilligung, die für die Nutzung der Patientendaten für die Forschung notwendig ist, sei aber für den niedergelassenen Bereich nicht einsetzbar. „Das Dokument ist sechs bis sieben Seiten lang und es gibt verschiedene Optionen, die erklärt werden müssen. Das kann man in einer Sprechstunde nicht leisten“, so Semler. Er hoffe deshalb, dass vor allem Spezialsprechstunden oder auch medizinische Versorgungszentren (MVZ), die entsprechend geschultes Personal haben, Patientendaten für die Forschung rekrutieren können. „Genau diese Fragestellungen werden gerade in den Digitalen FortschrittsHubs untersucht.“

Im Schwarzwald wird gerade etwa im Rahmen eines der Hubs erforscht, wie Digitalisierung die medizinische Versorgung in ländlich abgelegenen Regionen verbessern kann. Das Projekt LeMeDaRT („Lean medical data: the right data at the right time“) adressiert die Möglichkeiten der digitalen Nutzung von Patienten-Behandlungspfaden, sogenannte „patient journeys“. Dies beginne bei der Gesundheitsvorsorge und Prävention und reiche bis zur Interaktion der ländlichen Versorgung mit akademischen High-End-Interventionen. Die Herausforderung bestehe laut den Verantwortlichen darin, die richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Präsentation während dieser Patientenreise durch die Sektoren des Gesundheitssystems und benachbarter, nichtmedizinischer Versorgungssysteme zu jeder Zeit so bereitzustellen, dass es den Patientennutzen und die Effizienz des Systems maximiert. LeMeDaRT soll in diesem Zusammenhang insbesondere bestehende Probleme der Dateninteroperabilität lösen. „Auf dem Land ist der Weg bis zur nächsten Arztpraxis oft weit. In drei Anwendungsfällen wollen wir den Datenfluss zwischen Spitzenmedizin und der Versorgung vor Ort optimieren – und zwar in beide Richtungen“, erklärte Prof. Dr. med. Joachim E. Fischer, Koordinator von LeMeDaRT und Leiter der Abteilung Allgemeinmedizin am Zentrum für Präventivmedizin und Digitale Gesundheit (CPD) der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.

Die drei konkreten Anwendungsfälle sind: Die Vorbereitung und postoperative Begleitung von Krebspatientinnen und -patienten, die Infektionsüberwachung bei Atemwegserkrankungen sowie Prävention und frühe Intervention bei Lebererkrankungen.

Forschungsdatenportal startet

Ein wichtiger Baustein der MII-Infrastruktur ist zudem das Forschungsdatenportal Gesundheit (FDPG). Es soll nicht nur MII-Partnern, sondern allen Forschenden als zentrale Anlaufstelle dienen, wenn sie Daten und Bioproben der Universitätsmedizin nutzen wollen. Zugleich informiert das FDPG über laufende Forschungsprojekte und entsprechende Ergebnisse. „Aktuell befindet sich das Forschungsdatenportal noch im internen Testbetrieb. Wir führen verschiedene Projectathons an allen Standorten mit Testabfragen durch“, erklärte Semler. Er rechne damit, dass das Portal ab April für externe Anfragen geöffnet werden kann. Nachgefragt, was die MII konkret bereits für die Regelversorgung auch im ambulanten Bereich gebracht habe, erklärte Semler, dass es vermessen wäre zu sagen, dass hier bereits große Veränderungen stattgefunden hätten. Die Arbeit der MII sei ein langer Prozess und schaffe eine Infrastruktur für Forschung. „Über die Forschung folgt am Ende auch ein Erkenntnisgewinn, der zur Veränderung der Regelversorgung führt“, erklärte Semler. Die MII habe auch bei der Definition der medizinischen Informationsobjekte (MIO) mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zusammengearbeitet. Insbesondere bei den Laborbefunden sei es wichtig, dass einheitliche Definitionen und Standards verwendet würden, um die Werte künftig auch für die Forschung verwenden zu können, so Semler.

Die MII berate außerdem die gematik bezüglich der geplanten Forschungsfunktion der elektronischen Patientenakte (ePA). Damit diese funktioniert, muss es Semler zufolge nicht nur eine Opt-out-Regelung geben, sondern auch eine standardisierte „Pflichtbefüllung“ der ePA. Erst wenn die ePA konsequent in allen Sektoren, auch sanktionsbewährt, befüllt werde, werde sie für die Forschung relevant. „Je mehr in der Versorgung standardisiert wird, desto mehr kann ich in der Forschung nutzen“, so Semler. Trotzdem brauche es weiter Register und dezentrale Dateninfrastrukturen. Eine funktionierende ePA werde die Infrastruktur der MII nicht überflüssig machen, betonte Semler.

Einzelne Use Cases hingegen würden bereits jetzt schon durch Harmonisierung über Standorte hinweg die Dokumentation und damit die Patientenbetreuung vereinfachen – etwa das Projekt INTERPOLAR zur automatisierten Detektion und Vorbeugung von Arzneimittelwechselwirkungen. Insbesondere habe die MII mithilfe des Kerndatensatzes in den Unikliniken zu einem allgemeinen Interoperabilitätsimpuls sowie der Popularisierung des FHIR-Datenstandards beigetragen, so Semler. FHIR steht für „Fast Healthcare Interoperability Resources“. Der Standard unterstützt den Austausch von Daten zwischen verschiedenen Systemen und soll etwa Krankenhausinformationssysteme mit dem Deutschen Elektronischen Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (DEMIS) direkt verbinden. Die Verbesserungen in der medizinischen Versorgung kämen durch diese Änderungen Schritt für Schritt, betonte Semler.

Gesetzliche Regelung benötigt

Trotz der Versuche der MII, sich mit anderen Initiativen zu verknüpfen, sei man in Deutschland von einem gemeinsamen Masterplan zur Forschungsdateninfrastruktur im Gesundheitswesen noch entfernt, so Semler. Er hoffe deshalb insbesondere auf das geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das für dieses Jahr angekündigt worden ist. Mit diesem Gesetz müssten architektonische Voraussetzungen geschaffen werden, damit man mit einigen gut abgestimmten, föderierten Infrastrukturkomponenten möglichst viele Bereiche und Projekte bedienen kann und die Infrastruktur nicht jedes Mal wieder neu aufbauen muss, betonte der Leiter der MII-Koordinationsstelle.

Zudem soll ein Forschungsdatenzentrum am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgebaut werden. Darüber sollen Kassendaten zur Verfügung gestellt werden, so Semler. Für die Zukunft sei es wichtig, funktionierende Querverbindungen zwischen den Datenzentren der dezentralen Infrastruktur zu schaffen und mit geeigneten Identifikatoren Fälle datenschutzgerecht zusammenführen zu können. Ein „großer Datentanker“ sei nicht beherrschbar und datenschutzrechtlich heikel, so Semler. Außerdem gebe es keinen politischen Akteur, der einen solchen sinnvoll betreiben könne. Um insbesondere die Fragen des Datenschutzes künftig besser beantworten zu können, brauche es zudem dringend eine zentrale Anlaufstelle in Deutschland, etwa beim Bundesdatenschützer, betonte Semler. Eine solche Stelle müsse bundesweit rechtsverbindlich Auskunft geben können.

André Haserück, Charlotte Kurz

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