

Angesichts eines Rückgangs bei lebensrettenden Organspenden in Deutschland kommt die Debatte über eine Einführung einer Widerspruchslösung wieder in Gang. Die Zahl der postmortalen Organspenden sank im vergangenen Jahr deutlich – nicht allein erklärbar durch die Pandemie.
Die aktuellen Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) sind erschreckend: Im vergangenen Jahr sank die Zahl der postmortalen Organspender um 6,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, die Zahl der postmortal gespendeten Organe um 8,4 Prozent. Lediglich 869 Menschen spendeten 2022 nach ihrem Tod ein oder mehrere Organe. Dies sind 64 weniger als im Vorjahreszeitraum und das entspricht kaum mehr als zehn Spenderinnen und Spender (rechnerisch 10,3) pro einer Million Einwohnerinnen und Einwohner in Deutschland (2021: 11,2).
Die Anzahl der in 2022 postmortal gespendeten Organe (2 662) liegt jetzt sogar noch unter dem Wert von 2013 (3 035). Dies war das Jahr, in dem die Organspendezahlen nach den Skandalen in den Transplantationszentren einen Negativrekord erreicht hatten (Grafik 1). Eine Katastrophe ist diese Entwicklung vor allem für die derzeit 8 500 Menschen, die hierzulande auf ein Spenderorgan warten und tagtäglich mit Erkrankungen ringen, die ohne eine Transplantation zum Tode führen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu denjenigen gehören, die noch rechtzeitig ein lebensrettendes Organ erhalten, wird für sie mit jedem erneuten Einbruch der Organspendezahlen geringer. Die Statistik der DSO ist für sie alles andere als abstrakt.
Kein Wunder also, dass deren Veröffentlichung in der vergangenen Woche erneut eine Debatte um den richtigen Weg angestoßen hat, wie die Zahl der Organspender und -spenden in Deutschland erhöht werden kann. Für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) waren die rückläufigen Zahlen Anlass, seinen Vorschlag für eine Widerspruchslösung bei der Organspende zu bekräftigen, mit dem er im Januar 2020 ebenso wie der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Bundestag gescheitert war.
Nachdem sich damals die Mehrheit des Parlaments für eine Entscheidungslösung ausgesprochen hatte, drängt Lauterbach nun auf eine neue Reform. „Das geltende Gesetz ist gescheitert“, sagte der SPD-Politiker. Viele Menschen seien zwar zur Organspende bereit, dokumentierten das aber nicht. „Deswegen sollte der Bundestag einen erneuten Anlauf nehmen, über die Widerspruchslösung abzustimmen.“ Dies sei man denjenigen schuldig, die vergeblich auf Organspenden warteten.
Ärzte für Widerspruchslösung
Zur Erinnerung: Bei einer Widerspruchslösung gelten zunächst alle Menschen automatisch als organspendebereit – es sei denn, sie widersprechen. Für ihre Einführung hatte sich die Ärzteschaft bereits 2018 beim 121. Deutschen Ärztetag mehrheitlich ausgesprochen und den Gesetzgeber aufgefordert, das Transplantationsgesetz (TPG) entsprechend zu ändern. Es könne von jeder Bürgerin und jedem Bürger nach der Aufklärung durch die Krankenkassen erwartet werden, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen und im Falle einer tatsächlichen Ablehnung ein Nein zur Organspende zu formulieren, meinten die Delegierten. Doch trotz wiederholter Appelle von Ärztinnen und Ärzten scheiterte im Januar 2020 ein Gesetzentwurf zur Einführung der Widerspruchslösung. Stattdessen beschloss der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende – eine Regelung, nach der eine Organ- und Gewebeentnahme in Deutschland weiterhin nur nach vorheriger Zustimmung der verstorbenen Person oder ihrer Angehörigen erfolgen kann. Am 1. März 2022 trat die Gesetzesänderung in Kraft. Kernstücke der Reform sind eine stärkere Aufklärung durch Ausweisstellen sowie Hausärztinnen und -ärzte, die die Bevölkerung dazu bewegen sollen, konkret über eine Spende nach dem Tod zu entscheiden. Vorgesehen ist zudem ein Organspenderegister beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, in dem man freiwillig seine Spendebereitschaft festhalten kann. Seine Umsetzung liegt jedoch weit hinter dem Zeitplan. Lauterbachs erneuter Vorstoß stößt sowohl auf Gegenliebe wie auch auf Kritik. „Die Einführung der Widerspruchslösung bietet die Chance, dass mehr Organe gespendet werden und dadurch mehr Menschen ein lebensrettendes Spenderorgan bekommen“, lobt Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Unabhängig von der Einführung der Widerspruchslösung dürfe man bei den Anstrengungen nicht nachlassen, die Menschen dazu zu motivieren, sich mit dem Thema Organspende zu beschäftigen und eine Entscheidung zu treffen. Auch Baden-Württembergs Ressortchef Manne Lucha (Grüne) unterstützt einen neuen Anlauf. Nach seiner Ansicht solle der Bundestag das Thema schnell auf die Tagesordnung bringen, da die Organspenden bundesweit seit Jahren zurückgingen.
Kritik an neuem Reformvorstoß
Kritik kommt hingegen aus der Riege der Abgeordneten, die damals die heute bestehende Entscheidungslösung in den Bundestag eingebracht hatten. „Das Gesetz als gescheitert zu erklären, bevor es umfassend umgesetzt und seine Umsetzung evaluiert worden ist, halte ich für verfrüht“, sagt Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) dem Deutschen Ärzteblatt. Die Aufgabe von Lauterbach sei es, im Schulterschluss mit den Ländern die von Bundestag beschlossenen Maßnahmen zur Stärkung der Organspende – insbesondere auch die Einrichtung des Onlineorganspenderegisters – zügig und umfassend umzusetzen.
Auch der Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger (CSU) hatte sich damals gegen eine Widerspruchslösung gestellt. Er sagt dem Deutschen Ärzteblatt, Bundesgesundheitsminister Lauterbach und das ihm unterstehende Bundesgesundheitsministerium hätten es nach mehr als einem Jahr Amtszeit nicht geschafft, das für die Entscheidungslösung maßgeblich notwendige Organspenderegister aufzubauen. „Auf meine entsprechende Anfrage im letzten Sommer, wann das eigentlich für den 1. März 2022 geplante Register tatsächlich arbeitsfähig sein wird, hieß es vom Bundesgesundheitsministerium, dass sich die Arbeiten wegen der anhaltenden Coronapandemie verzögerten, sodass es ,frühestens Ende 2022‘ freigeschaltet werden könne. Dies ist bekanntlich noch immer nicht der Fall“, so Pilsinger. Er ruft Lauterbach auf, „keine politischen Spielchen“ zu spielen, um eine politische Niederlage rückgängig zu machen.
„Wie Minister Lauterbach auf die Idee kommen kann, gerade jetzt das Thema Widerspruchslösung bei der Organspende wieder aufzumachen, kann ich in keiner Weise nachvollziehen“, sagt Kathrin Vogler (Linke) dem Deutschen Ärzteblatt. Die Entscheidungslösung, die im Bundestag eine überdeutliche Mehrheit gehabt habe, sei „noch nicht ansatzweise umgesetzt“. „Hier betreibt das Gesundheitsministerium unter Karl Lauterbach ebenso wie unter Jens Spahn schlicht Arbeitsverweigerung.“ Vogler verweist darauf, dass die desaströse Lage in den Krankenhäusern durch eine Widerspruchslösung nicht verändert werde.
Ablehnung aus Unsicherheit
Aus Sicht der DSO spielen mehrere Gründe für die Entwicklung der Organspendezahlen im vergangenen Jahr eine Rolle. Die Coronavirus-Pandemie und die daraus resultierenden Krankenstände beim Personal in den Kliniken hätten Anfang 2022 das gesamte Gesundheitssystem belastet und wesentlich zu dem starken Einbruch der Organspendezahlen um 30 Prozent im ersten Quartal 2022 beigetragen, meint sie. Gleichzeitig weist sie jedoch darauf hin, dass sich 2022 die organspendebezogenen Kontaktaufnahmen der Kliniken zur DSO im Vergleich zum Vorjahr sogar erhöht haben (Grafik 2). Dies hätte allerdings offensichtlich nicht zu mehr Organspenden geführt, die realisiert werden konnten. Man müsse sich deshalb die Frage stellen, warum keine Steigerung erzielt werden konnte – trotz der guten Voraussetzungen, die 2019 durch das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende geschaffen wurden.
Zwar spielten mit dem zunehmenden Alter der Spenderinnen und Spender medizinische Ausschlussgründe eine immer größere Rolle, heißt es bei der DSO. Ihren Statistiken zufolge war jedoch die fehlende Einwilligung der häufigste Grund, warum eine Organspende nicht erfolgen konnte. Im vergangenen Jahr hätte diese bei der Hälfte der nicht realisierten Spenden gefehlt. Auffällig sei, dass diese Ablehnung der Organspende in weniger als einem Viertel der Fälle auf einem bekannten schriftlichen (7,3 Prozent) oder mündlichen (16,3 Prozent) Willen der Verstorbenen basierten. In 42 Prozent sei die Ablehnung aufgrund des vermuteten Willens der Verstorbenen erfolgt, 35 Prozent der Ablehnungen beruhten auf der Einschätzung der Angehörigen. Für die DSO ist es an der Zeit, die Organspende als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Thorsten Maybaum,
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
3 Fragen an . . .
Dr. med. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO)
Halten Sie einen erneuten Anlauf für eine Reform der Organspende im Sinne der Einführung einer Widerspruchsregelung für Erfolg versprechend?
Momentan entscheiden sich Angehörige offensichtlich eher gegen eine Organspende. Für mich sagt das etwas über unsere Kultur der Organspende aus: Es fehlt die positive Grundeinstellung, wie wir sie aus anderen europäischen Ländern kennen. Wer jedoch glaubt, dass die Einführung der Widerspruchsregelung den Hebel von jetzt auf gleich umlegt und zu einem sprunghaften Anstieg der Organspende führt, der irrt. Allerdings bin ich überzeugt, dass die Widerspruchslösung zu einem Umdenken in der Bevölkerung und einer Prägung einer Kultur der Organspende beitragen würde. Wenn dann auch die anderen Initiativen nicht vernachlässigt werden, kann es zu einer Trendwende kommen.
Sind aus Ihrer Sicht die bisherigen Gesetzesinitiativen gescheitert?
Nein, keineswegs. Das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen hat einen positiven Rahmen gesetzt. Jetzt muss dieser jedoch mit Leben gefüllt werden. Es ist eine Frage der Menschlichkeit und der Solidarität, anderen Menschen zu helfen.
Durch das derzeit geltende Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft soll die persönliche Organspendebereitschaft gefördert werden. Es sieht ein Organspenderegister vor. Kann es – wenn es dann endlich kommt – zum Gamechanger werden?
Wahrscheinlich nicht – wenn man ins Ausland blickt, wo Hoffnungen auf Erfolg durch solch ein Register bereits enttäuscht wurden. Vermutlich sind tiefergreifende Änderungen notwendig. Sicher kann ein gut gemachtes Organspenderegister auch helfen, aber das wird dauern. Aber vermutlich wird es erst Ende 2023/Anfang 2024 online gehen können, denn seine Einführung ist in der Tat nicht trivial. Und auch dann muss es sich erst füllen. Wir brauchen Millionen von Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern, die sich eintragen. Damit reden wir voraussichtlich über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren bis es überhaupt Wirkungen zeigen könnte.
Gesetzesänderungen
- Rechtliche Grundlage für die Organspende ist in Deutschland das Transplantationsgesetz (TPG). Es trat 1997 in Kraft und gestaltet die Spende, Vermittlung und Transplantation von Organen. 2007 wurde es durch das Gewebegesetz erweitert.
- Eine Änderung des TPG trat am 1. April 2019 mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende“ in Kraft, durch das Krankenhäuser mehr Zeit und Geld für Organtransplantationen bekommen.
- Die letzte TPG-Änderung wurde 2020 mit dem „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ beschlossen. Es trat am 1. März 2022 in Kraft.
Ostertag, Gerhard
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