ArchivDeutsches ÄrzteblattOnlineFirst/2023Versorgungsqualität Schwerverletzter in Deutschland während der COVID-19-Pandemie anhand von Daten aus dem TraumaRegister DGU 2020
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Die COVID-19-Pandemie hat die medizinische Versorgung in Deutschland in den letzten Jahren stark beeinflusst. Neben den durch die Therapie der symptomatischen COVID-Patientinnen und -Patienten direkt betroffenen Intensivstationen hatte die Pandemie auch Einfluss auf chirurgische Fachdisziplinen, beispielsweise durch Reduktion der Operationsmöglichkeiten (1). Inwieweit sich die traumatologische Versorgung von Schwerverletzten durch die COVID-19-Pandemie verändert hat, war Ziel dieser Datenanalyse aus dem TraumaRegister DGU (TR-DGU) der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Hierbei sollte analysiert werden, inwieweit sich durch gesteigerte Hygienemaßnahmen bei unklarem COVID-Infektionsstatus die absolute Behandlungszeit verändert hat, zum Beispiel präklinisch oder vom Schockraumbeginn bis zur Durchführung einer Computertomografie (CT) oder des Beginns einer Operation.

Methoden

Die standardisierten Daten des multizentrischen TR-DGU werden prospektiv gesammelt und umfassen den Gesamtweg der Patientin oder des Patienten von der Präklinik über den Schockraum bis zur Entlassung. TR-DGU-Einschlusskriterium ist die Aufnahme über den Schockraum mit anschließender Intensiv-Überwachung („Intermediate Care“, IMC), oder Klinikankunft mit Vitalzeichen und Versterben vor Intensiv-Aufnahme.

Für die Analyse des Jahres 2020 wurden als Einschlusskriterien ausschließlich primäre Aufnahmen aus Kliniken in Deutschland betrachtet, in denen in der COVID-19-Phase (ab 10. Kalenderwoche 2020) Traumapatientinnen und -patienten dokumentiert wurden (2). Dies entsprach n = 617 Kliniken. Als Kontrollgruppe wurden dieselben Kliniken in den Jahren 2015–2019 sowie in der 1.–9. Kalenderwoche 2020 betrachtet. Zum Ausschluss von leichtgradigen Verletzungen war mindestens eine Einzelverletzungsschwere von „Abbreviated Injury Scale“ (AIS) ≥ 3 oder ein AIS = 2 mit anschließender Überwachung auf der Intensivstation (ITS) notwendig. Für den Vergleich mit dem RISC II („Revised Injury Severity Classification“), welcher eine Mortalitätsprognose berechnet, wurden Sterbefälle innerhalb der ersten 48 Stunden Aufenthalt mit einer Patientenverfügung ausgeschlossen.

Ergebnisse

Bei vergleichbarer Patientenpopulation und Verteilung der Unfallmechanismen zwischen Kontroll- und COVID-Phase (Tabelle 1) zeigten sich in letzterer generell längere (prähospitale) Versorgungszeiten. Ebenso war die Verweildauer im Schockraum um 4–7 % verlängert und der Anteil der Patientinnen und Patienten, die auf die Intensivstation verlegt wurden, war um 1,1 % leicht reduziert (Tabelle 2). Beides hatte jedoch keinerlei negative Auswirkungen auf das Outcome. Die Zeit bis zur Diagnostik (Abdomen-Sonografie/Ganzkörper-CT) war unverändert. Bei gleichbleibender Gesamtverletzungsschwere (Injury Severity Score [ISS]), Verletzungsmuster (Kopf/Thorax/Abdomen/Extremitäten AIS ≥ 3), ITS-Liegedauer und Beatmungsdauer war die Verweildauer im Krankenhaus um einen Tag verkürzt. Die Intubationsquote verringerte sich n der COVID-Phase ebenfalls. Die mediane Verweildauer im Schockraum war mit 69 min (45–123) bei COVID-positivem Befund verlängert (versus COVID-negativ 66 min [45–119]). Die Gesamtfallzahlen im TR-DGU unterschieden sich kaum zwischen 2019 (n = 22 706) und 2020 (n = 23 031).

Unfallmechanismus, Verletzungsschwere, Intubationsrate und Infektionsstatus in der Schwerverletztenversorgung im Vergleich COVID-Phase zur Kontroll-Phase*
Tabelle 1
Unfallmechanismus, Verletzungsschwere, Intubationsrate und Infektionsstatus in der Schwerverletztenversorgung im Vergleich COVID-Phase zur Kontroll-Phase*
Versorgungszeiten und Outcome-Parameter in der Schwerverletztenversorgung im Vergleich COVID-Phase zur Kontroll-Phase*
Tabelle 2
Versorgungszeiten und Outcome-Parameter in der Schwerverletztenversorgung im Vergleich COVID-Phase zur Kontroll-Phase*

Diskussion

Die COVID-19-Pandemie hat im Jahr 2020 das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen gestellt. Inwieweit sich diese auf die Versorgung von Schwerverletzten ausgewirkt hat, ist bisher nicht bekannt. Anhand des großen Kollektivs des TraumaRegister DGU konnte gezeigt werden, dass die Versorgungszeiten insgesamt um 3–12 % verlängert waren, es sich im Detail jedoch nur um kleinere, absolute Unterschiede handelte. So sind die verlängerten präklinischen Versorgungszeiten am ehesten auf die COVID-bedingten, ausgedehnteren Hygienemaßnahmen zurückzuführen. Gleiches gilt für die Verweildauer im Schockraum, wobei hier auch noch das Abwarten endgültiger Testergebnisse vor innerklinischer Weiterverlegung eine Rolle gespielt haben könnte. Die verringerte Quote der Intubationen – präklinisch und im Schockraum – könnte Ausdruck einer strengeren Indikationsstellung aufgrund von (drohendem) Mangel an Beatmungskapazität sein. Eine Befürchtung vor erhöhtem Infektionsrisiko durch vermehrte Aerosolbildung bei der Intubation könnte ebenfalls ein Einflussfaktor gewesen sein. Alternativ sind auch saisonale Einflüsse möglich, da die COVID-Phase die vulnerable Zeit vor der 10. Kalenderwoche 2020 mit potenziell vielen respiratorischen Infekten nicht beinhaltete.

Eine Vermutung ist, dass bei vergleichbarem ISS/Verletzungsmuster versucht wurde, Kapazitäten für COVID-19-Fälle freizuhalten. Dies könnte die Liegedauer verkürzt haben. Eine strengere Indikationsstellung zur ITS-Aufnahme könnte deren Reduktion veranlasst haben, um diese kritische Ressource zu schonen (3). Auch eine optimierte Organisation im Vorfeld, wie beispielsweise durch verbesserte Patientensteuerung anhand der Erfassung von ITS-Behandlungskapazitäten im DIVI-Intensivregister (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin), könnte die Notwendigkeit einer frühen Weiterverlegung vermindert haben (4).

Die Quote der positiven Testbefunde lag analog zum deutschlandweiten Gesamtkollektiv bei circa 1 % aller getesteten Patientinnen und Patienten. Bei den COVID-positiven Patientinnen und Patienten war die Verweildauer im Schockraum noch einmal verlängert, was neben den erweiterten Hygienemaßnahmen auch an der zunächst notwendigen Organisation einer Unterbringungsmöglichkeit auf Isolationsstation gelegen haben könnte. Dies könnte gerade zu Pandemiebeginn längere Zeit in Anspruch genommen haben. Jedoch ist eine Limitation der Studie die geringe Anzahl der bis dato protokollierten positiv-getesteten Fälle. Für weitergehende Vergleiche scheint diese Fallzahl zu gering und sollte Gegenstand weiterer Forschung sein.

Auch wenn nur indirekt Rückschlüsse auf die Hygienemaßnahmen wie das Arbeiten in spezieller Schutzausrüstung möglich sind, geben die Ergebnisse Hinweise darauf, dass sich die im TraumaNetzwerk DGU verwendeten Algorithmen bislang bewährt haben. Eine kontinuierliche Anpassung der Leitlinien an die sich ständig ändernde Pandemielage erscheint jedoch notwendig. Die Hypothese, dass eine verlängerte Rettungskette/Zeit bis zur Intervention zu schlechterem Outcome führte, konnten wir nicht bestätigen. Die Versorgungsqualität Schwerverletzter in Deutschland blieb scheinbar unbeeinflusst von der COVID-19-Pandemie.

Sinan Bakir, Rolf Lefering, Lisa Auerbach, Axel Ekkernkamp für das TraumaRegister DGU

Universitätsmedizin Greifswald, Zentrum für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rehabilitative Medizin, Klinik für Unfall-, Wiederherstellungschirurgie und Rehabilitative Medizin, Greifswald (Bakir, Auerbach, Ekkernkamp) sinan.bakir@uni-greifswald.de

BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin gGmbH, Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Berlin (Bakir, Ekkernkamp)

Institut für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM), Medizinische Fakultät, Universität Witten/Herdecke, Köln (Lefering)

Interessenkonflikt
Die Autorin und die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 06.10.2022, revidierte Fassung angenommen: 17.01.2023

Zitierweise
Bakir S, Lefering R, Auerbach L, Ekkernkamp A and the TraumaRegister DGU: The quality of care of persons with severe trauma in Germany during the COVID-19 pandemic as assessed with data from the 2020 DGU Trauma Registry. Dtsch Arztebl Int 2023; 120. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0013

Dieser Beitrag erschien online am 30.01.2023 (online first) unter: www.aerzteblatt.de.

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Kuhlen R, Schmithausen D, Winklmair C, Schick J, Scriba P: The effects of the COVID-19 pandemic and lockdown on routine hospital care for other illnesses. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 488–9 VOLLTEXT
2.
Schilling J, Tolksdorf K, Marquis A, et al.: [The different periods of COVID-19 in Germany: a descriptive analysis from January 2020 to February 2021]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021; 64: 1093–106 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Bravata DM, Perkins AJ, Myers LJ, et al.: Association of intensive care unit patient load and demand with mortality rates in US department of veterans affairs hospitals during the COVID-19 pandemic. JAMA Netw Open 2021; 4: e2034266 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
Gräsner JT, Hannappel L, Zill M, Alpers B, Weber-Carstens S, Karagiannidis C: COVID-19-Intensivpatienten: Innerdeutsche Verlegungen. Dtsch Arztebl 2020; 117: A-2321 VOLLTEXT
Unfallmechanismus, Verletzungsschwere, Intubationsrate und Infektionsstatus in der Schwerverletztenversorgung im Vergleich COVID-Phase zur Kontroll-Phase*
Tabelle 1
Unfallmechanismus, Verletzungsschwere, Intubationsrate und Infektionsstatus in der Schwerverletztenversorgung im Vergleich COVID-Phase zur Kontroll-Phase*
Versorgungszeiten und Outcome-Parameter in der Schwerverletztenversorgung im Vergleich COVID-Phase zur Kontroll-Phase*
Tabelle 2
Versorgungszeiten und Outcome-Parameter in der Schwerverletztenversorgung im Vergleich COVID-Phase zur Kontroll-Phase*
1.Kuhlen R, Schmithausen D, Winklmair C, Schick J, Scriba P: The effects of the COVID-19 pandemic and lockdown on routine hospital care for other illnesses. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 488–9 VOLLTEXT
2.Schilling J, Tolksdorf K, Marquis A, et al.: [The different periods of COVID-19 in Germany: a descriptive analysis from January 2020 to February 2021]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021; 64: 1093–106 CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.Bravata DM, Perkins AJ, Myers LJ, et al.: Association of intensive care unit patient load and demand with mortality rates in US department of veterans affairs hospitals during the COVID-19 pandemic. JAMA Netw Open 2021; 4: e2034266 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.Gräsner JT, Hannappel L, Zill M, Alpers B, Weber-Carstens S, Karagiannidis C: COVID-19-Intensivpatienten: Innerdeutsche Verlegungen. Dtsch Arztebl 2020; 117: A-2321 VOLLTEXT

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