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"Aus der UAW-Datenbank" Pseudopubertas praecox nach akzidenteller Übertragung von Estradiol-Gel auf Kind


Mitteilungen
Aus der UAW-Datenbank
Pseudopubertas praecox nach akzidenteller Übertragung von Estradiol-Gel auf Kind
Sexualhormone werden in verschiedenen Indikationen wie Substitution einer ungenügenden körpereigenen Produktion oder zur Kontrazeption angewendet (1). Verschiedene Sexualhormone sind in Deutschland zur topischen Anwendung zugelassen, z. B. Estradiol (u. a. zur perimenopausalen Hormonbehandlung, meist in Kombination mit einem Gestagen) oder Testosteron zur Behandlung des männlichen Hypogonadismus. Sie sind aufgrund ihrer physikochemischen Eigenschaften für eine topische Applikation geeignet (2).
Der AkdÄ wurde der Fall eines siebenjährigen Jungen gemeldet, welcher wegen Brustwachstum, zunehmender dunkler Behaarung im Schambereich und axillär, Schweißgeruch und auffälligem Wachstum in der Kinderendokrinologie vorgestellt wurde. Bis auf die mütterliche Anwendung von Bupropion und Lamotrigin während der Schwangerschaft war die Geburtsanamnese unauffällig. Der Junge wies eine leicht verzögerte Entwicklung auf und war für sein Alter sehr groß (132,5 cm, 90–97. Perzentile).
Die klinische Untersuchung ergab frühe Pubertätszeichen mit Pubesbehaarung, Brustentwicklung sowie Pigmentierung von Skrotum und Penis, welche nicht vergrößert waren. Das Knochenalter war akzeleriert (elf Jahre und drei Monate). Die Laborwerte sprachen gegen ein frühzeitiges Einsetzen einer normalen Pubertät, sondern für eine Pseudopubertas praecox (LH niedrig [< 0,3 IU/l], FSH niedrig [0,53 IU/l], Testosteron niedrig [< 0,025 µg/l], Estradiol hoch [9,6 ng/l]). Ein adrenogenitales Syndrom wurde ausgeschlossen, und es gab keinen Anhalt für einen hormonproduzierenden Tumor bzw. eine pathologische Hormonbildung in der Nebennierenrinde. Die Chromosomenanalyse ergab einen normalen männlichen Chromosomensatz (46, XY).
Die Anamnese ergab, dass der biologische Vater (jetzt Mutter 2) bei Mann-zu-Frau-Transidentität seit über sieben Jahren zur geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung ein Estradiol-haltiges Gel (Gynokadin® Dosiergel) sowie Cyproteronacetat oral und Progesteron lokal angewendet hat. Es wurde die Diagnose der Pseudopubertas praecox feminina durch akzidentelle externe Östrogenexposition gestellt, verursacht durch intensiven Körperkontakt zur Mutter 2, welche das Gel manchmal auch kurz vor dem Körperkontakt aufgetragen hatte. Ein Monat nach Absetzen des Estradiol-Gels bei der Mutter 2 und Umstellung auf ein Estrogen-haltiges Pflaster bildete sich die Brustdrüsenschwellung bei dem Jungen zurück, und es fand sich kein messbares Estradiol im Serum. In den folgenden sechs Monaten verlangsamte sich das Körperlängenwachstum erheblich. Das Knochenalter schritt nach Beendigung der Exposition gegenüber Estradiol deutlich langsamer voran und war ein Jahr später bei elf Jahren, sechs Monaten.
Gynokadin® Dosiergel enthält 0,62 mg Estradiol-Hemihydrat (entsprechend 0,6 mg Estradiol) pro Gramm Gel. Die zugelassenen Anwendungsgebiete umfassen die Behandlung von Beschwerden bei nachlassender Estradiol-Produktion der Eierstöcke in und nach den Wechseljahren bzw. nach Ovarektomie sowie die Behandlung von Rückbildungserscheinungen an den Harn- und Geschlechtsorganen, die durch Estrogenmangel bedingt sind. Ohne regelmäßigen Zusatz von Gestagenen soll das Arzneimittel in und nach den Wechseljahren nur bei hysterektomierten Frauen angewendet werden (3). Außerhalb der Zulassung erfolgt die Anwendung zur geschlechtsangleichenden Hormontherapie bei Mann-zu-Frau-Transidentität (4;5).
In den Jahren 1962 und 1963 traten bei sieben Säuglingen und Kleinkindern (drei Mädchen, vier Jungen) im Alter von vier Monaten bis zwei Jahren klinische Zeichen einer frühen Pubertätsentwicklung wie Pigmentierung des Warzenhofs und der Genitalien, Brustvergrößerung und die Bildung von Schamhaaren auf. Nach Ausschluss anderer möglicher Ursachen für eine sexuelle Frühreife wurde die Anwendung einer Estradiol-haltigen Salbe zur Vorbeugung einer Windeldermatitis bei allen Kindern identifiziert (6). Bei mehreren Kindern mit ähnlichen Symptomen wurde die Anwendung Estrogen-haltiger Haarpflegemittel bzw. Salbe als Auslöser identifiziert (7;8). Bei weiteren Kindern wird die „Anwendung“ Estrogen-haltiger Salben beim Spielen berichtet (9;10). Bei drei Jungen im Alter von 28 Monaten bis acht Jahren wurden frühzeitige Pubertätszeichen nach indirekter Estrogenexposition beobachtet: Die Mütter der Jungen hatten Estrogen-haltige Cremes angewendet, welche dann versehentlich auf die Kinder übertragen wurden (11).
Auch für topisch anzuwendende Androgen-haltige Präparate ist eine Übertragung auf Kinder mit entsprechenden Virilisierungszeichen beschrieben: Bei vier Mädchen im Alter von 18 Monaten bis fünf Jahren und zwei Monaten entwickelte sich Schambehaarung, bei einer davon zusätzlich eine vergrößerte Klitoris. Bei einem Jungen (fünf Jahre, vier Monate) wurde neben dem Auftreten von Schambehaarung ein beschleunigtes Wachstum beobachtet. Als Ursache wurde die Übertragung verschiedener Androgene, welche zumeist die Väter topisch angewendet hatten, auf die Kinder identifiziert (12). In weiteren Fallberichten von Virilisierungserscheinungen bei Jungen und Mädchen wurde die versehentliche Übertragung von Androgenen (meist Testosteron) auf die Kinder beschrieben (13, 14, 15, 16, 17, 18, 19).
In der Europäischen Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Nebenwirkungen (EudraVigilance) sind ebenfalls Berichte akzidenteller Übertragungen von Sexualhormonen auf Kinder zu finden (2). Interessanterweise wird in einigen Fallberichten akzidenteller Androgen-Übertragung von Vätern auf Kinder erwähnt, dass auch die Mütter Virilisierungszeichen wie Hirsutismus und Zyklusstörungen aufwiesen (12;13;15). Häufig bilden sich die Symptome einer akzidentellen Exposition gegenüber Estrogenen oder Androgenen nach Beendigung der Applikation größtenteils zurück, sie können jedoch teilweise auch länger persistieren (6–12;15;16).
Zum Zeitpunkt der Meldung des obigen Fallberichts enthielt die Fachinformation von Gynokadin® Dosiergel lediglich einen Warnhinweis, dass die Übertragung von Estradiol auf Dritte durch engen Hautkontakt möglich ist, sowie verschiedene Vorsichtsmaßnahmen (20). Zu diesem Zeitpunkt fanden sich in der Fachinformation eines Testosteron-haltigen Gels nicht nur Empfehlungen zur Vermeidung einer Übertragung auf Dritte, sondern auch Hinweise auf klinische Symptome einer akzidentellen Übertragung (21). Inzwischen wurde die Fachinformation von Gynokadin® Dosiergel sowie weiterer Estradiol-haltiger Arzneimittel zur topischen Anwendung aktualisiert und spezifische Symptome einer akzidentellen Übertragung auf Kinder ergänzt (3). Nach Auskunft des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) war dies das Ergebnis einer routinemäßigen Überprüfung von Daten zur Sicherheit Estradiol-haltiger Arzneimittel (ausgenommen solcher zur Anwendung im weiblichen Genitalbereich) durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (22).
Fazit
Wenn bei präpubertären Kindern Zeichen einer frühzeitigen Pubertät auftreten, sollten nicht nur verschiedene Erkrankungen differenzialdiagnostisch in Erwägung gezogen werden, sondern auch die versehentliche Applikation von hormonhaltigen Gels, Cremes, Salben etc., entweder durch die Kinder selbst oder durch indirekte Übertragung von anwendenden Eltern/engen Bezugspersonen auf die Kinder (10–12;18;19). Da Eltern, möglicherweise aus Unwissenheit, manchmal nicht bei der ersten Befragung über die Anwendung derartiger Hormonpräparate berichten, sollte ggf. mehrfach und ggf. auch bei den Großeltern und anderen engen Bezugspersonen nachgefragt werden (8;10;13). Da gerade Androgen-haltige Präparate zur Steigerung der Libido oder Muskelkraft auch im Internet bezogen werden können (12), sollte gezielt auch danach gefragt werden. Anwenderinnen und Anwender topisch zu applizierender Hormonpräparate sollten über die Gefahr der Übertragung auf Dritte informiert werden, insbesondere wenn sie regelmäßigen engen Kontakt zu Kindern haben. Ggf. sollte eine andere zugelassene Applikationsstelle oder eine alternative Applikationsform, z. B. Pflaster, gewählt werden. Zu beachten ist, dass eine akzidentelle Übertragung von Hormonpräparaten auch auf Haustiere beschrieben ist und bei diesen ebenfalls Symptome verursachen kann (2).
Bitte teilen Sie der AkdÄ Nebenwirkungen (auch Verdachtsfälle) mit. Sie können online über unsere Website www.akdae.de melden oder unseren Berichtsbogen verwenden, der regelmäßig im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wird.
Sie können sich unter www.akdae.de/Service/Newsletter für einen Newsletter der AkdÄ anmelden, der auf neue Risikoinformationen zu Arzneimitteln hinweist.
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Fachausschuss der Bundesärztekammer, Herbert-Lewin-Platz 1, 10623 Berlin, Telefon: 0 30/40 04 56–5 00, Fax: 0 30/40 04 56–5 55, E-Mail: akdae@baek.de, Internet: www.akdae.de
(letzter Zugriff: 15. Dezember 2022). Amsterdam, 10. Juni 2022.
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