ArchivDeutsches Ärzteblatt5/2023Telemedizin: Der Notdienst im Smartphone

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Telemedizin: Der Notdienst im Smartphone

Lau, Tobias

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Der Hype um Videosprechstunden ist vorbei. Doch das Hoch der vergangenen Jahre hat Vorbehalte abgebaut und sie bekannt gemacht. Richtig eingesetzt kann sie in der ambulanten Versorgung großen Nutzen bringen, wie ein Pilotprojekt der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein zeigte.

Foto: Antonina/stock.adobe.com
Foto: Antonina/stock.adobe.com

Das Geschäftsmodell Videosprechstunde hat kein gutes Jahr hinter sich. Mit Kry und Zava haben gleich zwei der größten Anbieter ihr Engagement auf dem deutschen Markt zusammengestrichen. Der Boom durch die COVID-19-Pandemie scheint nicht so nachhaltig zu sein, wie viele erwartet hatten. Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) verdeutlichen das: Mit Beginn der Pandemie explodierte die Zahl der abgerechneten Videosprechstunden von 1 592 im vierten Quartal 2019 auf 202 654 im ersten Quartal 2020. Der Höhepunkt war ein Jahr später mit mehr als 1,2 Millionen abgerechneten Stunden von Januar bis März 2021 erreicht. Im letzten Quartal, zu dem Zahlen vorliegen – dem zweiten des vergangenen Jahres – war die Zahl auf etwas mehr als eine halbe Million gefallen. Dem stehen bis zu 180 Millionen persönliche Arzt-Patient-Kontakte gegenüber. Relativ konstant ist wiederum die Zahl der abrechnenden Ärztinnen und Ärzte: Sie liegt seit Ende 2021 stets zwischen 25 000 und 28 000 – rund 15 Prozent der 180 000 Ärzte und Psychotherapeuten, die an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmen.

Für einen Abgesang auf die Telemedizin ist es dennoch viel zu früh. Im Gegenteil: Die ambulante Versorgung kann in bestimmten Konstellationen stark von ihr als Ergänzung profitieren. Diese Erfahrung haben die Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) in den zurückliegenden anderthalb Monaten gemacht. Denn wie im Rest der Republik belasteten im Dezember die RSV-Welle die ambulante Versorgung. „Die Kinderärzte waren völlig überlastet, wir hatten ja das Lungenvirus bei Kleinkindern und Säuglingen. Die Praxen ächzten unter dem Ansturm und es ging stetig nach oben“, erinnert sich Frank Stobbe, der bei der KVNO die Notdienste koordiniert. „Und wir wussten aus Erfahrung, dass sich Eltern gerade über die Feiertage Sorgen machen und ärztliche Hilfe suchen.“ Die Idee war geboren, die Praxen um die Jahreswende durch ein telemedizinisches Angebot zu entlasten. Innerhalb weniger Tage stellte die KVNO mithilfe und Budget des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) ein Pilotprojekt auf die Beine: Vom 24. Dezember bis zum 31. Januar konnten Eltern an den Weihnachtstagen, an Mittwochnachmittagen sowie an den Wochenenden pädiatrische Videosprechstunden in Anspruch nehmen. Über eine Hotline meldeten sie sich an und erhielten dann via SMS oder E-Mail einen Link zur Videosprechstunde.

Entwarnung und Ratschlag

Am anderen Ende der Leitung saßen im Schnitt fünf Ärztinnen und Ärzte pro Schicht. 33 waren es insgesamt, verteilt auf zwei KV-Standorte in Köln und Düsseldorf. „Wir haben mit rund zehn Minuten pro Konsultation gerechnet, jeder Arzt konnte also fünf bis sechs Patienten pro Stunde beraten“, rechnet Stobbe vor. „Das ging auch deshalb so schnell, weil das Ministerium die Vergütung übernommen hat und wir nicht nach der Krankenversicherung fragen mussten.“ 243 000 Euro hatte das MAGS für das Projekt bereitgestellt, erklärt es auf Anfrage.

Eine der beteiligten Ärztinnen war Dr. med. Silke Peppinghaus, die eigentlich im Öffentlichen Gesundheitsdienst arbeitet. „Als die Kinderpraxen wegen der RSV-Welle aus allen Nähten platzten, habe ich mich ein bisschen moralisch verpflichtet gefühlt, auszuhelfen“, sagt sie. Sechs Dienste à sechs Stunden hat sie geleistet und zieht eine durchweg positive Bilanz: „In der Pädiatrie kommen viele Eltern mit Bagatellsachen in die Praxis und dann geht es sehr oft darum, sie zu informieren, zu beruhigen und ihnen guten Rat zu geben. Genau das geht ja über Videosprechstunden sehr gut.“

Am häufigsten seien Fälle von Fieber oder Husten gewesen – Eltern beispielsweise, die in Sorge sind, weil die Temperatur ihres Kleinkindes trotz Medikamentengabe nicht sinkt, und sichergehen wollen, dass es nicht in Gefahr ist. „Solche Fälle konnte man gut in Augenschein nehmen und zum Beispiel leicht feststellen, ob der Husten obstruktiv ist oder nicht“, erklärt sie. Verordnungen konnte sie nicht ausstellen, lediglich Empfehlungen für frei verkäufliche Produkte aussprechen. In anderen Fällen hätten Eltern durchaus auch dringend in Notdienstpraxen oder -kliniken geschickt werden müssen. „Das ist allerdings sehr selten vorgekommen“, sagt Peppinghaus.

Positive Bilanz

Es lasse sich schwer beziffern, aber nach den Rückmeldungen, die er erhalten habe, zufolge hätten rund 40 Prozent der Eltern nach der Videosprechstunde gar keine Praxis mehr aufsuchen müssen, sagt Stobbe: „Wir haben über 2 200 Videokonsultationen durchgeführt, die Praxen also um 800 bis 900 Patienten entlastet.“ Entsprechend positiv fällt auch die Bilanz der KVNO aus. „Im Rückblick auf die vergangenen Wochen sind wir mit der Nutzung der Videosprechstunden insgesamt sehr zufrieden“, betont ein Sprecher. „In Summe hat sich das Projektziel, die stark frequentierten Kinderarzt- und Notdienstpraxen zu entlasten und gleichzeitig Hilfesuchende medizinisch zu beraten, erfüllt.“ Peppinghaus sieht es ganz ähnlich, betont aber auch, dass man bei der Telemedizin die Relevanz, Zielgruppen nicht aus den Augen verlieren zu dürfen: „Es ist schon so, dass wir mit dem Angebot nicht alle Familien erreichen konnten“, sagt sie. Es seien insbesondere Menschen mit höherem Bildungshintergrund und sozialem Status gewesen, die davon erfuhren. Technische Fertigkeiten hätten ebenfalls eine Rolle gespielt: „Es gab auch Familien, die ständig in der Warteschleife hingen, weil sie die Technik nicht richtig beherrschten.“ Hinzukomme, dass auch Sprachbarrieren bei der Kommunikation über den Bildschirm größere Schwierigkeiten bereiten als im persönlichen Kontakt.

Nicht zuletzt deshalb betrachtet auch die KBV Videosprechstunden weiterhin als sinnvolle Ergänzung, Goldstandard bleibe die persönliche Behandlung. „Wir gehen davon aus, dass das Angebot gerade in den Bereichen, in denen es die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte als medizinisch besonders sinnvoll betrachten – etwa bei der Besprechung von Untersuchungsergebnissen und der langfristigen Betreuung von chronisch kranken Patientinnen und Patienten – weiter wachsen wird“, erklärt ein Sprecher.

Die kontinuierliche Erweiterung der Möglichkeiten durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (Kasten) dürfte dazu noch beitragen. Die KVNO jedenfalls will den eingeschlagenen Weg weitergehen. „Wir können es uns gut vorstellen, dass das Modell als Blaupause für ein künftiges flächendeckendes, zusätzliches und dauerhaftes, digitales Versorgungsangebot im allgemeinen Notdienst dient – in Ergänzung der Struktur unserer Notdienstpraxen und des Systems der ärztlichen Hausbesuche im Notdienst“, erklärt ein Sprecher. Im Raum Aachen biete die KV bereits seit Ende 2021 ein solches Konstrukt im ambulanten Notdienst. Für einen Roll-out im gesamten KV-Bezirk seien noch Punkte wie die Besetzung der Dienste oder der Kooperation mit Dienstleistern zu klären. Die werde die KVNO nach eigenen Angaben zusammen mit dem Berufsverband der Pädiater im Rheinland im Laufe des Frühjahrs erörtern. Tobias Lau

Neue Leistungen und mehr Flexibilität in der Telemedizin

Seit April 2022 können Niedergelassene nicht mehr 20, sondern 30 Prozent der Behandlungsfälle als Videosprechstunden abrechnen. Darauf hatten sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der GKV-Spitzenverband zuvor geeinigt.

Seit dem 1. Juli 2022 haben außerdem Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mehr Flexibilität: Bis dahin galt die 30-Prozent-Regel für jede einzelne Gebührenordnungsposition (GOP), seitdem gilt sie auf die Gesamtpunktzahl der im Quartal abgerechneten GOP bezogen. Eine Praxis kann also beispielsweise eine bestimmte Leistung bis zu 100 Prozent per Video durchführen, wenn die Quote bei anderen Leistungen entsprechend geringer ist.

Mitte Januar 2023 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) dann in seinen Richtlinien neue Leistungen und deren Abrechnungsvoraussetzungen konkretisiert. Demnach können nun auch Heilmittel, häusliche Krankenpflege und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Videosprechstunden verordnet werden. Diese bleiben aber eine Ergänzung: So müsse die medizinischen Verordnungsvoraussetzungen bereits durch eine unmittelbare persönliche Untersuchung festgestellt worden sein. Eine Erstverordnung von Heilmitteln und häuslicher Krankenpflege ist nicht möglich, medizinische Rehabilitation hingegen schon. Unabdingbar ist in jedem Fall, dass die Voraussetzungen per Videosprechstunde sicher beurteilt werden können. Patienten haben keinen Anspruch auf Verordnungen ohne persönlichen Kontakt.

Der Bewertungsausschuss muss noch über die Höhe der ärztlichen und psychotherapeutischen Vergütung entscheiden, wofür er maximal sechs Monate Zeit hat.

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