ArchivDeutsches Ärzteblatt6/2023Modellprojekt „Intimarzt“: anonyme Ferndiagnose bei Geschlechtskrankheiten
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Erkrankungen im Genitoanalbereich sowie sexuell übertragbare Erkrankungen (STD, „sexually-transmitted diseases“) stellen ein interdisziplinäres Problem dar. STD und Erkrankungen im Intimbereich sind auch heutzutage für Patientinnen und Patienten schambehaftet, was dazu führt, dass Arztbesuche vermieden beziehungsweise verzögert werden (1). Hinzu kommt, dass Patientinnen und Patienten, je nach Region, oft mehrere Monate auf eine fachärztliche Ersteinschätzung ihres Gesundheitsproblems warten müssen.

Das Modellprojekt „Intimarzt“ ermöglicht eine anonyme fachärztliche Fernbehandlung von Problemen des äußeren Genitalbereichs per Foto-Diagnostik (2) und wurde am 12.02.2019 von der Landesärztekammer Baden-Württemberg genehmigt.

Fälle können über den Browser (intimarzt.de) oder die Apps für Android und iOS eingesendet werden. Für die Bearbeitung eines Falles werden 24,95 Euro erhoben. Die Bearbeitung erfolgt innerhalb von acht Stunden, durchschnittlich sogar in weniger als 60 Minuten. Die Befundung erfolgt über ein Ärzteportal, auf das befundende Fachärztinnen und Fachärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten mit mindestens zehn Jahren Berufserfahrung aus Heidelberg zugreifen können. Es handelt sich in der Regel um eine einmalige Behandlung. Eine erneute Einreichung eines Falles zur abermaligen Beratung ist möglich, jedoch findet keine systematische Nachkontrolle der Fälle statt. Die App hat nicht den Anspruch, längerfristige hautfachärztliche Behandlungen von komplexen Dermatosen zu ersetzen.

„Intimarzt“ wurde im Rahmen der Datenschutz-Folgenabschätzung so konzipiert, dass der mögliche Schaden selbst bei einem erfolgreichen Hackerangriff für Betroffene minimiert ist. Die Anonymisierung wird durch eine mehrschichtige Verschlüsselung mit Verteilung der Daten auf mehreren Servern gewährleistet (3). Nach Erstellung seines Falls wird der/die Patient/in zur sicheren Zahlung aufgefordert, die entkoppelt von seinen/ihren Falldaten über einen externen Zahlungsanbieter durchgeführt wird.

Methode

Für die aktuell erste externe wissenschaftliche Evaluation des Modellprojekts wurden alle eingesandten Fälle ab der Freischaltung der Applikation „Online-Arzt für Geschlechtskrankheiten – Intimarzt“ vom 13.03.2019–31.01.2022 statistisch-deskriptiv ausgewertet. Hierfür wurden die anonymen Patientendaten einer Autorin (WS) im Februar 2022 über einen verschlüsselten Kanal zur Verfügung gestellt. Außerdem erfolgte durch dieselbe Person eine verblindete stichprobenartige Zweitbefundung von 100 zuvor teledermatologisch diagnostizierten Fällen.

Ergebnisse

Insgesamt flossen alle 2 838 Fälle in die wissenschaftliche Evaluation ein. Deutlich mehr Männer (n = 2 485; 87,6 %) als Frauen (n = 353; 12,4 %) nutzten die Anwendung, um ihr Problem im Intimbereich teledermatologisch behandeln zu lassen. Das mittlere Alter der Patientinnen und Patienten betrug 35,4 ± 12,5 Jahre bei einer Spanne von 1–86 Jahren.

In mehr als 90 % der Fälle war laut der befundenden Ärztinnen und Ärzte die Stellung einer Ferndiagnose möglich. Es wurden über 65 verschiedene Diagnosen gestellt. Die beiden häufigsten Diagnosen waren mit Abstand eine Balanitis (n = 888; 32,9 % an allen Diagnosen beziehungsweise 31,3 % an allen Fällen) und verschiedene Formen von Dermatitiden/Ekzemen (n = 664; 24,6 % an allen Diagnosen, 23,4 % an allen Fällen). In 347 Fällen (12,2 % aller zugesandten Fälle) wurde der Verdacht auf eine STD (Condylomata acuminata in 178 Fällen, Herpes genitalis in 112 Fällen, Syphilis in 20 Fällen, Gonorrhoe in 1 Fall und eine STD im Allgemeinen in 36 Fällen) gestellt. In 5 Fällen bestand der Verdacht auf ein Karzinom im Genitoanalbereich. Einen Überblick über die häufigsten Diagnosen (n > 35) gibt Tabelle 1.

Übersicht über die am häufigsten gestellten Diagnosen Prozentwerte bezogen auf alle gestellten Diagnosen
Tabelle 1
Übersicht über die am häufigsten gestellten Diagnosen Prozentwerte bezogen auf alle gestellten Diagnosen

Die weitere Auswertung des digitalen Ärztefragebogens zeigte, dass 28,8 % der Patientinnen und Patienten (n = 816) empfohlen wurde, sich in der Dermatologie-Praxis vor Ort vorzustellen. Dies betraf unter anderem Patientinnen und Patienten, die die Ausstellung eines Rezepts benötigten. Die restlichen 71,2 % (n = 2 022), konnten, zumindest zum Zeitpunkt der Einsendung des Falles bei „Intimarzt“, rein teledermatologisch behandelt werden.

Insgesamt erhielten 2 004 Patientinnen und Patienten (70,6 %) mindestens eine und bis zu drei Therapieempfehlungen. Die beiden am häufigsten empfohlenen Therapieansätze waren topische Steroide in 972 Fällen (34,2 % aller Fälle beziehungsweise 48,5 % der Fälle, bei denen eine Therapieempfehlung gegeben wurde) und Antimykotika in 558 Fällen (19,7 %/27,8 %) (Tabelle 2).

Übersicht zu den häufigsten rezeptfreien Therapieempfehlungen
Tabelle 2
Übersicht zu den häufigsten rezeptfreien Therapieempfehlungen

Eine Bewertung in Form von „Sternen“ gaben 423 Patientinnen und Patienten (14,9 %) am Ende des teledermatologischen Behandlungsprozesses ab. Der Durchschnittswert der Bewertungen betrug 4,5 Sterne; der größte Anteil der Bewertungen entfiel mit fünf Sternen auf die beste Bewertungsmöglichkeit (n = 316, 74,7 % aller Bewertungen).

Die Auswertung der 100 zweitbegutachteten Fälle ergab, dass in 90 % der Fälle die primäre Verdachtsdiagnose mit der Zweitbefundung übereinstimmte beziehungsweise dass Übereinstimmung darin bestand, dass keine Ferndiagnose möglich gewesen sei. Unter Hinzuziehung der Differenzialdiagnose(n) stieg die Übereinstimmung auf 95 %. Es wurden keine Fälle identifiziert, die im Rahmen der Zweitbefundung als gravierende Fehldiagnosen eingeschätzt wurden.

Fazit

Die externe Evaluation des Modellprojekts „Intimarzt“ ergab, dass das Angebot einer teledermatologischen Beratung bei Problemen im Intimbereich vor allem von männlichen Patienten sehr gut angenommen wurde. Die hohe Patientenzufriedenheit, die Vielseitigkeit der Befunde und Therapiepläne sowie die große Übereinstimmung bei der Zweitbegutachtung zeigen den medizinischen Nutzen und das zukünftige Potenzial dieses Angebots.

Wiebke Sondermann, Christoph Wies, Stefan Esser, Jochen S. Utikal, Dirk Schadendorf, Titus J. Brinker

Interessenkonflikt
Titus J. Brinker ist der Eigentümer der Smart Health Heidelberg GmbH, die die Teledermatologie-App „Intimarzt” betreibt.

Die Autorin und die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 13.06.2022, revidierte Fassung angenommen: 04.10.2022

Zitierweise
Sondermann W, Wies C, Esser S, Utikal JS, Schadendorf D, Brinker TJ: The “Intimarzt” (intimate doctor) model project: anonymous remote diagnosis of sexually transmitted diseases. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 94–5. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0350

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Cunningham SD, Kerrigan DL, Jennings JM, Ellen JM: Relationships between perceived STD-related stigma, STD-related shame and STD screening among a household sample of adolescents. Perspect Sex Reprod Health 2009; 41: 225–30. CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.
Brinker TJ, Hekler A, von Kalle C, et al.: Teledermatology: comparison of store-and-forward versus live interactive video conferencing. J Med Internet Res 2018; 20: e11871.3. CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Zilch A, Tschirsich M: [Data protection and information security of digital health applications (DiGA)]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021; 64: 1254–61. CrossRef MEDLINE
Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Universitätsklinikum Essen, Universität Duisburg-Essen (Sondermann, Esser, Schadendorf) wiebke.sondermann@uk-essen.de
Digitale Biomarker für die Onkologie, Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg (Wies, Brinker)
Institut für translationale HIV-Forschung, Universitätsklinikum Essen, Universität Duisburg-Essen (Esser)
Klinische Kooperationseinheit Dermato-Onkologie, Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg (Utikal)
Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Mannheim (Utikal)
Westdeutsches Tumorzentrum, Universitätsklinikum Essen, Universität Duisburg-Essen und Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), Essen (Schadendorf)
Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT), Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg (Brinker)
Smart Health Heidelberg GmbH, Heidelberg (Brinker)
Danksagung
Die Autorin und die Autoren danken den „Intimarzt“-Befundern B. Durani, H. Durani und M. Jansen für ihre Unterstützung bei der Durchführung der externen Zweitbegutachtung.
Übersicht über die am häufigsten gestellten Diagnosen Prozentwerte bezogen auf alle gestellten Diagnosen
Tabelle 1
Übersicht über die am häufigsten gestellten Diagnosen Prozentwerte bezogen auf alle gestellten Diagnosen
Übersicht zu den häufigsten rezeptfreien Therapieempfehlungen
Tabelle 2
Übersicht zu den häufigsten rezeptfreien Therapieempfehlungen
1.Cunningham SD, Kerrigan DL, Jennings JM, Ellen JM: Relationships between perceived STD-related stigma, STD-related shame and STD screening among a household sample of adolescents. Perspect Sex Reprod Health 2009; 41: 225–30. CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.Brinker TJ, Hekler A, von Kalle C, et al.: Teledermatology: comparison of store-and-forward versus live interactive video conferencing. J Med Internet Res 2018; 20: e11871.3. CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.Zilch A, Tschirsich M: [Data protection and information security of digital health applications (DiGA)]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021; 64: 1254–61. CrossRef MEDLINE

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