MEDIZIN: Originalarbeit
Prävalenz von Schwerhörigkeit sowie Hörgeräteversorgung in der Gutenberg-Gesundheitsstudie
The prevalence of hearing loss and provision with hearing aids in the Gutenberg Health Study
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Hintergrund: Hören ist eine grundlegende Fähigkeit, die man braucht, um am täglichen Leben teilzunehmen. Ein Hörverlust schränkt die Lebensqualität daher häufig deutlich ein. Dennoch gibt es kaum epidemiologische Daten zur Prävalenz von Hörstörungen in Deutschland. In der vorliegenden Studie wurden nun die Prävalenz von Hörstörungen sowie die tatsächliche Versorgung mit Hörgeräten überprüft.
Methoden: Die Gutenberg-Gesundheitsstudie (GHS) ist eine repräsentative Kohortenstudie der Universitätsmedizin Mainz, in der die Bevölkerung der Stadt Mainz und des Landkreises Mainz-Bingen untersucht werden soll. Im Rahmen der GHS wurde bei den Teilnehmenden eine Reintonaudiometrie, getrennt für beide Ohren, durchgeführt.
Ergebnisse: Insgesamt konnten tonaudiometrische Daten von 5 024 Teilnehmenden ausgewertet werden. Die Prävalenz einer Schwerhörigkeit auf mindestens einem Ohr lag – unabhängig vom Schweregrad – in der Studienpopulation bei 40,6 %. Bei 22,5 % der Teilnehmenden fand sich eine geringgradige und bei 8,3 % eine mittelgradige Schwerhörigkeit; 2,8 % waren hochgradig schwerhörig (Einteilung nach Röser aus dem Jahr 1973). Dabei war das Hörvermögen der Frauen besser als das der Männer (im Mittel um 4,3 dB). Mit zunehmendem Alter zeigte sich eine erhöhte Prävalenz der Hörstörungen. 47,4 % der Teilnehmenden erfüllten nach der Hilfsmittel-Richtlinie die Mindestvoraussetzung hinsichtlich des tonaudiometrischen Hörverlusts für eine beidseitige Hörgeräteversorgung. Lediglich 7,7 % der Teilnehmenden waren beidseits mit Hörgeräten versorgt. Die Diskrepanz zwischen der Prävalenz der Schwerhörigkeit und der Indikation für eine Hörgeräteversorgung ergibt sich aus der unterschiedlichen Art und Weise, wie die Schwerhörigkeit ermittelt und die Indikation gestellt wird.
Schlussfolgerung: Die Prävalenz von Schwerhörigkeit war mit 40,6 % hoch. Für die Allgemeinbevölkerung in Deutschland sollten regelmäßige Hörtestungen spätestens ab dem 60. Lebensjahr empfohlen werden.


Rund 1,5 Milliarden Menschen sind schätzungsweise von einem Hörverlust betroffen (1). Aufgrund des demografischen Wandels muss zudem von einem stetigen Anstieg von Hörstörungen ausgegangen werden. Dabei gilt Hören als grundlegende Fähigkeit für die Teilnahme am täglichen Leben. Ein Hörverlust geht nicht nur mit einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität einher, sondern beeinträchtigt auch Alltagsfunktionen, insbesondere Partizipation und führt zu Isolation und Stress (2, 3, 4). Es existiert nur eine begrenzte Anzahl an epidemiologischen Arbeiten zur Prävalenz von Hörstörungen von Erwachsenen sowie zur Prävalenz der Hörgeräteversorgung in Deutschland.
Obwohl eine nicht adäquat versorgte Hörstörung vor allem zu sozialer Isolierung von älteren Menschen führen kann (5, 6), sind nationale Studien nur spärlich vorhanden. In der Übersichtsarbeit von Löhler et al. aus dem Jahr 2019 fanden sich sechs Arbeiten zu Daten von Hörstörungen in Deutschland. Dabei zeigte sich eine große Spanne bei der Angabe der Prävalenz von Schwerhörigkeit (zwischen 16 % und 25 %) ohne standardisierte Definition des Hörverlustes (7). Lediglich in zwei Studien konnten Angaben über eine Hörgeräteversorgung gemacht werden. Nach epidemiologischen Untersuchungen zum Hörstatus im Nordwesten Deutschlands (HÖRSTAT) wurde nach Umrechnung auf Bundesebene die Prävalenz von Schwerhörigkeit nach der Weltgesundheitsorganisation(WHO)-Klassifikation auf 16 % geschätzt (8). 6,5 % der Teilnehmenden waren mit einem Hörgerät versorgt. In der Untersuchung von Sohn und Jörgenshaus (9) hatten 19 % eine Hörstörung („hearing level“ [HL] > 40 dB). Lediglich 2 % der Befragten hatten ein Hörgerät und nur 57 % von ihnen benutzten dieses. Es muss davon ausgegangen werden, dass lediglich 37 % der Menschen mit Hörstörung in Deutschland ein Hörgerät tragen (10).
In dieser Studie soll in einer großen, populationsbasierten, zufällig ausgewählten Kohorte die Prävalenz von Hörstörungen und einer Hörgeräteversorgung beziehungsweise -unterversorgung erfasst werden. Es handelt sich um eine der größten Studien mit tonaudiometrischen Daten in Deutschland.
Methode
Die Gutenberg-Gesundheitsstudie (GHS) ist eine große, fortlaufende populationsbasierte Studie und wurde als monozentrische, prospektive Kohortenstudie konzipiert. Sie wurde 2007 an der Universitätsmedizin Mainz initiiert. In der Studie sollte die Bevölkerung der Stadt Mainz sowie des Landkreises Mainz-Bingen untersucht werden. Die Genehmigung der Ethikkommission der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz (Aktenzeichen 837.020.07) liegt vor. Die Bevölkerungsstichprobe wurde zufällig aus Daten vom Einwohnermeldeamt ausgewählt und nach Geschlecht sowie Wohnort für jede Altersdekade eingeteilt. Ausschlusskriterien waren körperliche und geistige Behinderungen, die Teilnehmende daran hindern könnten, das Studienzentrum zu besuchen. Darüber hinaus wurden auch Einwohnerinnen und Einwohner mit unzureichenden Deutschkenntnissen ausgeschlossen. Gemäß der Deklaration von Helsinki wurde von allen Probandinnen und Probanden vor Studienteilnahme eine schriftliche Einverständniserklärung eingeholt. Im Zeitraum von 2017–2020 (10-Jahres-Follow-up [10-FU]) wurden umfangreiche otologische Untersuchungen in die breit gefächerten und interdisziplinären Untersuchungen aufgenommen. Eine detaillierte Beschreibung des Studiendesigns wurde bereits an anderer Stelle veröffentlicht (11).
Die Validität der audiologischen Untersuchungen wurde durch die Implementierung einer „standard operating procedure“ (SOP) sichergestellt. Alle Studienkontakte und Untersuchungen der Teilnehmenden fanden in den Räumlichkeiten der Universitätsmedizin Mainz statt. Die betreuenden Studienassistentinnen und -assistenten wurden von zertifizierten Audiologinnen und Audiologen der Abteilung für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (HNO) mit dem Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Universitätsmedizin Mainz aus- und weitergebildet.
Otologische Symptome wurden abgefragt. Durchgeführt wurden eine Otoskopie und anschließend ein Reintonaudiometrie für Luft- sowie Knochenleitung, getrennt für beide Ohren. Eine detaillierte Beschreibung findet sich im eMethodenteil.
Zur Untersuchung der Prävalenz von Hörbeeinträchtigungen im Großraum Mainz wurde der prozentuale Hörverlust aus dem Tonaudiogramm nach der in Deutschland gebräuchlichen Vier-Frequenz-Tabelle nach Röser aus dem Jahr 1973 ermittelt (12). Der prozentuale Hörverlust ergibt sich als Summenwert der vier Teilkomponenten:
- 0–19 %: Normalhörigkeit
- 20–39 %: geringgradige Schwerhörigkeit
- 40–59 %: mittelgradige Schwerhörigkeit
- 60–79 %: hochgradige Schwerhörigkeit
- 80–99 %: an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit
- 100 %: Taubheit.
Eine entsprechende Hörgeräteindikation wurde für die Studie – entsprechend der Vorgaben der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln – bei einem tonaudiometrischen Hörverlust von mindestens 30 dB in mindestens einer der Prüffrequenzen zwischen 500 und 4 000 Hz definiert. Eine ergänzende sprachaudiometrische Verstehensquote unter Verwendung des Freiburger Einsilbertests lag nicht vor.
Der sozioökonomische Status wurde nach Lampert und Kroll berechnet (13). Er hat einen Summenwert von 3–21 und wird aus den Merkmalen höchster Bildungsabschluss, Haushaltseinkommen und Stellung im Beruf gebildet.
Mittelwerte wurden mit dem T-Test und Mediane mit dem Mann-Whitney-U-Test verglichen. Einflussfaktoren wurden mithilfe von logistischen Regressionsmodellen bestimmt. Dichotome Variablen wurde mittels Chi-Quadrat-Test nach Pearson untersucht.
Alle statistischen Analysen wurden mit der R-Version 3.6.1 (2019–07–05) durchgeführt.
Ergebnisse
Im Jahr 2017 wurden für das 10-FU der Gutenberg-Gesundheitsstudie 10 000 Personen eingeladen. Davon nahmen 8 731 teil. Bei 3 614 konnten aufgrund von Personalmangel keine HNO-Daten erhoben werden. 93 Teilnehmende mit fehlenden Daten in den Frequenzen 0,5 kHz, 1 kHz, 2 kHz oder 4 kHz wurden ebenfalls aus der Studie ausgeschlossen. Insgesamt lagen für 5 024 Probandinnen und Probanden vollständige Daten zur Reintonaudiometrie vor, davon waren 2 433 Frauen (48,4 %) und 2 591 (51,6 %) Männer. Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich des Alters (p = 0,86), Geschlechts (p = 0,2) und des sozioökonomischen Status (p = 0,57) zwischen den Teilnehmenden und Nichtteilnehmenden. Informationen zur Hörgeräteversorgung lagen bei 4 990 Personen vor.
Prävalenz der Schwerhörigkeit nach Röser aus dem Jahr 1973 (12)
Die Gesamtprävalenz der Schwerhörigkeit lag im Mittel – unabhängig vom Schweregrad – in der Studienpopulation bei 34,5 % (Alter als Mittelwert und Standardabweichung: 61,2 ± 13,4 Jahre; Minimum und Maximum: 25–86 Jahre). Eine Schwerhörigkeit auf mindestens einem Ohr fand sich bei 40,6 % der Teilnehmenden und eine beidseitige Schwerhörigkeit bei 28,5 %. Dabei war das Hörvermögen bei Frauen im Durchschnitt signifikant besser als bei Männern (im Mittelwert um 4,3 dB sowie 2,6 % weniger Hörverlust nach Röser [12]; U-Test: p < 0,0001).
In der Gesamtpopulation lag rechtsseitig bei 22,5 % eine geringgradige Schwerhörigkeit vor. In dem Bereich einer mittelgradigen Schwerhörigkeit befanden sich 8,3 % der Studienteilnehmenden. Eine hochgradige Schwerhörigkeit wurde bei 2,8 % der Personen diagnostiziert. Eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit zeigte sich bei 0,9 % und eine Taubheit bei 0,1 % der Teilnehmenden. Es lagen keine signifikanten Unterschiede zur linken Seite vor (paired T-test: p = 0,59). Die vollständigen Ergebnisse sind in Tabelle 1 enthalten. Eine grafische Darstellung der Hörschwellen findet sich in Grafik 1. In dieser Studienpopulation lag eine Tinnitusprävalenz von 25,5 % (1 230/5 024) vor. Die Belastung durch den Tinnitus wurde von 35,1 % der Personen (n = 302) als wenig, 30,3 % (n = 261) als geringfügig, 16,7 % (n = 144) als mäßig, 10,6 % (n = 91) als spürbar, 4,8 % (n = 41) als hoch sowie 2,4 % (n = 21) als extrem angegeben.
Prävalenz der Schwerhörigkeit nach Röser aus dem Jahr 1973 (12) und Alter
Mit zunehmendem Alter erhöhte sich die Prävalenz von Hörstörungen. In der Alterskohorte der Studienteilnehmenden zwischen 55 und 59 Jahren fand sich bei 16,7 % eine Schwerhörigkeit. Bei den 75- bis 79-Jährigen waren 71,1 % der Probandinnen und Probanden schwerhörig. Die genaue Altersverteilung der Hörverluste zeigt Tabelle 2. Der Einfluss des Alters auf den Hörverlust wurde mithilfe einer linearen Regression modelliert. Dabei wurde ein Interaktionsterm beim Alter von 58 Jahren in das Modell aufgenommen und damit eine Anpassung an die Änderung der Steigung ab diesen Punkt ermöglicht (p < 0,0001; Grafik 2). Die Häufigkeitsverteilung für die Prävalenz einer Schwerhörigkeit (Hörverlust nach Röser [12] über 20 %) nach dem Alter zeigt Grafik 3. Die Prävalenz nach der WHO ist im eMethodenteil aufgeführt.
Hörgeräte- und Hörgeräteindikation
Die angegebene Prävalenz der beidseitigen Hörgeräteversorgung lag in der Studienpopulation bei 7,7 % (383/4 990). Ein tonaudiometrischer Hörverlust auf einem Ohr von mindestens 30 dB in mindestens einer Prüffrequenz zwischen 500 und 4 000 Hz konnte bei 53,9 % (2 708/5 024) der Studienteilnehmenden rechts und bei 57,1 % (2 870/5 024) der Studienteilnehmenden links gefunden werden. 47,4 % (2 383/5 024) der Personen erfüllten die Mindestvoraussetzung hinsichtlich des tonaudiometrischen Hörverlusts für eine beidseitige Hörgeräteversorgung. Der Zusammenhang zwischen der beidseitigen Hörgeräteversorgung und dem Geschlecht (logistisches Regressionsmodell: Frauen; p < 0,0026) sowie dem Alter (p < 0,0001) war signifikant.
Hörgeräteversorgung und sozioökonomischer Status
Über alle Teilnehmenden ist die Prävalenz von Schwerhörigkeit bei niedrigerem sozioökonomischen Status (SES) signifikant höher (p < 0,001). Grafik 4 zeigt den mittleren Hörverlust nach Röser (12) in Prozent für den jeweiligen sozioökonomischen Status. Mit zunehmendem SES besteht ebenfalls eine signifikant geringere Hörgeräteindikation, das heißt, die Mindestvoraussetzung hinsichtlich eines tonaudiometrischen Hörverlusts für eine Hörgeräteversorgung ist bei höherem SES signifikant seltener gegeben (p < 0,001). Ein signifikanter Zusammenhang zwischen der tatsächlichen Hörgeräteversorgung und dem sozioökonomischen Status findet sich nicht (logistisches Regressionsmodell: p = 0,26; Grafik 5).
Diskussion
Nach dem neusten „world report on hearing“ der WHO von 2021 zählen Hörstörungen in den Industrieländern zu den dritthäufigsten Erkrankungen, die die Lebensqualität beeinträchtigen (1). Trotzdem sind Daten zur Prävalenz von Hörstörungen in Deutschland rar. In der vorliegenden Studie wurde nun die Prävalenz von Hörstörungen sowie die tatsächliche Versorgung mit Hörgeräten überprüft.
Die Gesamtprävalenz der Schwerhörigkeit lag im Mittel bei 34,5 %. Eine Schwerhörigkeit auf mindestens einem Ohr fand sich bei 40,6 % der Teilnehmenden. Mit zunehmendem Alter erhöhte sich die Prävalenz der Hörstörungen wie erwartet.
Für die Schwerhörigkeit im Alter besteht in Deutschland bisher eine unzureichende Diagnostik und Therapie (14). Löhler et al. forderten bereits 2019 eine Früherkennung durch alle Ärztinnen sowie Ärzte und anschließende fachärztliche weiterführende Diagnostik. Eine frühe Diagnosestellung ist auch wichtig, um die Akzeptanz von Hörgeräten zu verbessern. Eine erfolgreiche Hörgeräteanpassung ist schwierig, wenn schon seit längerer Zeit eine unversorgte Schwerhörigkeit besteht. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Fähigkeit zur Sprachwahrnehmung und -verarbeitung im Gehirn sich bei fehlender Stimulation zunehmend verringert („late onset deprivation“) (5).
Entsprechend den Vorgaben der Hilfsmittel-Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln erfüllten 47,4 % der Teilnehmenden die Mindestvoraussetzung hinsichtlich des tonaudiometrischen Hörverlusts für eine beidseitige Hörgeräteversorgung. Eine tatsächliche beidseitige Hörgeräteversorgung bestand jedoch nur bei 7,7 %. Auch wenn eine sprachaudiometrische Verstehensquote zur Evaluation einer Hörgeräteindikation nicht vorlag, ist anhand der tonaudiometrischen Daten von einer massiven Unterversorgung auszugehen. Auffällig ist eine Diskrepanz zwischen der Indikation/Mindestvoraussetzung für Hörgeräte und der angegebenen Prävalenz von Schwerhörigkeit. Diese zunächst paradox erscheinende Relation erklärt sich aber durch die unterschiedlichen Berechnungen. Während für die Hörgeräteindikation ein Hörverlust von mindestens 30 dB als absolute Zahl in einer der entsprechenden Frequenzen definiert ist, wird der prozentuale Hörverlust nach Röser (12) als Summenwert des Hörverlustes zwischen 0,5 bis 4 kHz in unterschiedlicher Gewichtung ermittelt.
In der Studie von Emmett et al. konnte 2015 ein Zusammenhang zwischen einem Hörverlust und niedrigem Bildungsniveau, geringem Einkommen und Arbeitslosigkeit gezeigt werden (15). Ursächlich hierfür werden in der Literatur Lärm am Arbeitsplatz und in der Freizeit, unterschiedliche Lebensstile und gehörschädigende Substanzen diskutiert. In der vorliegenden Studie geht ein niedriger sozioökonomischer Status ebenfalls mit einer signifikant höheren Prävalenz einer Schwerhörigkeit einher (p < 0,001).
Bisherige Daten zur Prävalenz von Hörstörungen in Deutschland sind rar. Löhler et al. veröffentlichen 2019 ein systematisches Review zur Prävalenz von Schwerhörigkeit (7). In der GEDA-Studie des Robert-Koch-Instituts von 2012 gaben über 20 % der Frauen und Männer an, unter einer Hörstörung zu leiden (16). Die Studie wurde als telefonische Umfrage durchgeführt. Von einer Diskrepanz zwischen den berichteten und tonaudiometrisch belegten Hörstörungen muss ausgegangen werden, da Hörstörungen von den betroffenen selbst häufig unterschätzt werden. Von Gablenz et al. fanden nach epidemiologischen Studien eine Prävalenz von Schwerhörigkeit von circa 16 % der Erwachsenen nach früheren WHO-Kriterien (8, 17). Dabei wurden tonaudiometrische Daten erhoben, wobei 8 % der Teilnehmenden in Privaträumen getestet wurden. Neubauer und Gmeiner ermittelten 2008 nach Codierungen der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) in der Altersgruppe über 70 Jahre eine Prävalenz von über 10 %. Bei den von uns erhobenen Daten war die Prävalenz einer Schwerhörigkeit höher, wobei das mittlere Alter bei 61,2 Jahren lag – mit einer größeren Anzahl an Studienteilnehmenden in den Alterskohorten ab 50 Jahren. Ein deutlicher Anstieg der Schwerhörigkeit zeigte sich ab dem 58. Lebensjahr. Da die jüngeren Alterskohorten in der Studienpopulation unterrepräsentiert sind, sind die Daten ohne Gewichtung nicht repräsentativ für ganz Deutschland. In der Arbeit von Didczuneit-Sandhop et al. von 2021 lag das Durchschnittsalter bei 74,4 Jahren und 97 % der Teilnehmenden (181/186) litten an einem Hörverlust (18). 77 % der Schwerhörigen besaßen kein Hörgerät und die Unterversorgung war signifikant höher, sobald kein Akustiker oder HNO-Arzt örtlich angesiedelt war. Im internationalen Vergleich war die von uns ermittelte Prävalenz höher als in den USA, wo – nach Berichten aus dem Jahr 2016 – 23 % der Einwohnerinnen und Einwohner direkt von einem Hörverlust betroffen waren (19). Auch in Indien war die Spanne bei der Angabe groß – die Prävalenz betrug hier 6–26,9 % (20).
Eine große Stärke unserer Studie ist die hohe Anzahl an Teilnehmenden. Im Rahmen der Gutenberg-Gesundheits-Studie konnten mit 5 024 Personen in allen Alterskohorten repräsentative Ergebnisse ermittelt werden. Darüber hinaus wurden qualitativ hochwertige tonaudiometrische Daten durch die beschriebene standardisierte Reintonaudiometrie erhoben. Die Untersuchung fand dabei durch intensiv geschultes Personal statt.
Es wurde zudem ein Komorbiditätsindex aus 9 Variablen (chronisch obstruktive Lungenerkrankung [COPD], Diabetes, Hypertonie, Myokardinfarkt, Schlaganfall, Krebserkrankung, Depressionsmodul PHQ-9, generalisierte Angststörung sowie chronische Nierenerkrankung) als Summenscore gebildet. Die Probandinnen und Probanden hatten im Schnitt einen Komorbiditätsindex von 0,93 ± 0,90. In der Non-Responder-Analyse gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen Responder und Non-Responder. Die Regressionsmodelle wurden mit dem Index adjustiert. Die Adjustierung hatte dabei keinen Einfluss auf andere Effekte.
Eine Limitation ist, dass zur präzisen Ermittlung einer möglichen Hörgeräteindikation eine Sprachaudiometrie – getrennt für beide Ohren – gefordert ist, sodass in der vorliegenden Studie lediglich die Mindestvoraussetzung hinsichtlich des tonaudiometrischen Hörverlusts ermittelt und die mögliche Hörgeräteindikation geschätzt wurde. Ebenfalls wurden keine Daten zu den Ursachen der bereits bekannten Hörstörungen erhoben und es wurden keine Angaben zu Risikofaktoren wie Lärmbelastung angeführt. Trotz der hier aufgezeigten Schwächen ist es bisher die erste Studie mit standardisierten tonaudiometrischen Daten dieser Größe in Deutschland.
Hörverlust geht nicht nur mit einem Verlust von Kommunikation, Bildung und sozialer Interaktion einher. In mehreren Studien konnte bereits ein Zusammenhang zwischen Schwerhörigkeit und Demenz gezeigt werden. In der Veröffentlichung der Lancet Commission von 2020 wird für Menschen im mittleren Alter eine Schwerhörigkeit als das größte modifizierbare Risiko für eine Demenz im Vergleich zu Menschen ohne Hörstörung angegeben (21). Es wird davon ausgegangen, dass das Tragen eines Hörgerätes dem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten entgegenwirkt. Hörstörungen sind auch mit einem höheren Risiko für die Entwicklung einer Depression assoziiert (22, 23). Zudem weisen Patientinnen und Patienten mit stärkerem Hörverlust auch stärkere kognitive Defizite auf (24). Bei älteren Menschen ist ein Hörverlust mit einer signifikant höheren Sturzwahrscheinlichkeit verbunden (25). Hörhilfen scheinen bei Älteren die raum-zeitliche Orientierung zu verbessern (26). Auch Aufgrund dieser Tatsachen sollte die Früherkennung von Hörstörungen in Deutschland weiter in den Vordergrund gerückt werden.
Fazit für die Praxis
Die Früherkennung von Hörstörungen ist immens wichtig. Die Prävalenz von Schwerhörigkeit wird erheblich unterschätzt. Die Notwendigkeit der frühzeitigen Erkennung und Behandlung wird aktuell nicht genügend berücksichtigt. Für die Allgemeinbevölkerung in Deutschland sollten im Rahmen der Vorsorge dringend regelmäßige Hörtestungen spätestens ab dem 60. Lebensjahr durchgeführt werden.
Finanzielle Förderung
Die Gutenberg-Gesundheitsstudie (GHS) wird gefördert durch die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz (Stiftung Rheinland-Pfalz für Innovation; Vertrag AZ 961–386261/733), das Forschungsprogramm „Wissen schafft Zukunft“ und das Forschungszentrum für translationale vaskuläre Biologie (CTVB) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie durch einen Vertrag mit Boehringer Ingelheim und PHILIPS Medical Systems, einschließlich einer nicht zweckgebundenen Zuwendung für die (GHS).
Interessenkonflikt
Frau Bohnert ist ehrenamtlich im Vorstand des BIAP (Bureau Internationale d’Audiophonologie) sowie im Beirat der DGA (Deutsche Gesellschaft für Audiologie) tätig. Sie ist Mitglied im Pediatric Advisory Board der Firma Sonova, Schweiz und hat Drittmittel für Forschungszwecke von dieser Firma erhalten.
Prof. Rader ist ehrenamtlicher stellvertretender Vorsitzender und Schriftführer der Fachgesellschaft „Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Audiologen, Neurootologen und Otologen (ADANO)“. Er bekam Studienunterstützung von Cochlear Deutschland und MED-EL Deutschland.
Prof. Wild erhielt Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF 01EO1003 und 01EO1503). Er ist Principle Investigator des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) und Leiter des DIASyM-Forschungskerns (BMBF 161L0219). Er erhielt ein Beraterhonorar von Boehringer Ingelheim.
Prof. Münzel ist Principal Investigator des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK).
Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 25.04.2022, revidierte Fassung angenommen: 18.11.2022
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Katharina Bahr
Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Universitätsmedizin Mainz
Langenbeckstraße 1, 55131 Mainz
katharina.bahr@unimedizin-mainz.de
Zitierweise
Döge J, Hackenberg B, O‘Brien K, Bohnert A, Rader T, Beutel ME, Münzel T, Pfeiffer N, Nagler M, Schmidtmann I, Wild PS, Matthias C, Bahr K: The prevalence of hearing loss and provision with hearing aids in the Gutenberg Health Study. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 99–106. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0385
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eMethodenteil:
www.aerzteblatt.de/m2022.0385 oder über QR-Code
Dr. med. Julia Döge, Dr. med. Berit Hackenberg, Dr. med. Karoline O‘Brien, Andrea Bohnert, Prof. Dr. med. Christoph Matthias, Dr. med. Katharina Bahr
Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Klinikum der Universität München, Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München: Prof. Dr.-Ing. Tobias Rader
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,
Universitätsmedizin Mainz: Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Manfred E. Beutel
Zentrum für Kardiologie, Kardiologie I, Universitätsmedizin Mainz:
Prof. Dr. med. Thomas Münzel
Augenklinik und Poliklinik, Universitätsmedizin Mainz: Prof. Dr. med. Norbert Pfeiffer
Präventive Kardiologie und Medizinische Prävention, Zentrum für Kardiologie,
Universitätsmedizin Mainz: Markus Nagler, Prof. Dr. med. Philipp S. Wild
Abteilung Biometrie, Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Universitätsmedizin Mainz: Dr. rer. physiol. Irene Schmidtmann
Centrum für Thrombose und Hämostase (CTH), Universitätsmedizin Mainz:
Prof. Dr. med. Thomas Münzel, Prof. Dr. med. Philipp S. Wild
Deutsches Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK), Standort
Rhein-Main, Mainz: Prof. Dr. med. Thomas Münzel, Prof. Dr. med. Philipp S. Wild
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