ArchivDeutsches Ärzteblatt8/2023Ukrainische Ärzte in Deutschland: Wissenstransfer in das Kriegsgebiet

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Ukrainische Ärzte in Deutschland: Wissenstransfer in das Kriegsgebiet

Kurz, Charlotte

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Ein Programm ermöglicht rund 60 Ärztinnen und Ärzten aus der Ukraine, an deutschen Unfallkliniken mehr über schwere Verletzungen zu erlernen. So können sie ihr Wissen erweitern, wenn sie Kriegsverwundete behandeln müssen. Ein Besuch im Unfallkrankenhaus Berlin.

Der ukrainische Anästhesist Andrii Rymarenko (Zweiter von rechts) schaut einem deutschen Kollegen bei einer OP in Berlin interessiert über die Schulter. Rymarenko lernt in knapp zwei Wochen am UKB viel über die Behandlung von Schwerverletzten. Fotos: Svea Pietschmann
Der ukrainische Anästhesist Andrii Rymarenko (Zweiter von rechts) schaut einem deutschen Kollegen bei einer OP in Berlin interessiert über die Schulter. Rymarenko lernt in knapp zwei Wochen am UKB viel über die Behandlung von Schwerverletzten. Fotos: Svea Pietschmann

Es ist ungewöhnlich warm im OP-Saal des Zentrums für Schwerbrandverletzte am Unfallkrankenhaus Berlin (UKB). Über ein vierjähriges Kind mit drittgradigen Verbrennungen insbesondere am Thorax, Abdomen, linken Arm, aber auch im Gesicht beugen sich konzentriert die ukrainische Chirurgin Nataliia Korchaka und der ukrainische Anästhesist Andrii Rymarenko. Sie begleiten an einem Dienstagmorgen Ende Januar den stellvertretenden Chefarzt des Zentrums, Dr. med. Frank Sander und sein Team, die das schwerverletzte Mädchen operieren.

Die abgestorbene und verbrannte Haut des Mädchens wird während dieser OP entfernt. Vorsichtig trägt Sander mithilfe Skalpell, Weckmesser und Versa-Jet, einem Hochgeschwindigkeits-Wasserstrahl, die weiße und braune, ledrige und verbrannte Haut Schicht für Schicht ab. Die Hitze im OP ist notwendig, da Verbrennungspatienten keine ausreichende Temperaturregulierung mehr über die Haut haben. Deshalb ist die Heizung direkt über dem kleinen Mädchen ausgerichtet, damit es sich nicht unterkühlt. Das bedeutet aber auch zusätzliche Anstrengung für die Operateure.

Supervisierend im OP

Die beiden Gäste aus der Ukraine dürfen zwar nicht mitoperieren, stehen aber direkt neben den operierenden Kollegen am OP-Tisch und lernen, wie Verbrennungswunden in Berlin behandelt werden. Rymarenko und Korchaka sind Teil eines Projekts, dass die Gesundheitsministerien aus Deutschland und der Ukraine seit einigen Wochen ermöglichen. Die beiden hospitieren für zwei Wochen am UKB, folgen den deutschen Kolleginnen und Kollegen auf Schritt und Tritt. Sie nehmen interessiert an Sprechstunden und Visiten teil und lernen in der Ambulanz oder in den OP-Räumen mehr über Behandlungsmöglichkeiten von schweren Brandverletzungen. Wissen, das sie in Zeiten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu Hause in ihrem Krankenhaus in Kropywnyzkij sehr gut gebrauchen können.

„In Deutschland sehen wir einen deutlichen technologischen Fortschritt, wir sehen neue Behandlungsmöglichkeiten, neue Methoden und auch andere Arzneimittel. Wir lernen hier, wie man diese entsprechenden Therapien durchführt“, sagt Rymarenko im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). In seinem Krankenhaus in Kropywnyzkij, 300 Kilometer südöstlich von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt, haben Rymarenko und Korchaka teilweise andere Methoden zur Behandlung von Verletzten zur Verfügung.

„Ich bin begeistert, wie die Skalpelle hier in Berlin durch die Haut gleiten, ohne dass Druck aufgewendet werden muss“, erklärt Korchaka mit leuchtenden Augen. „Unsere Skalpelle in der Ukraine sind etwas stumpfer und wir haben zudem keine elektrischen Messer“, erläutert sie. In Kropywnyzkij behandele die 47-jährige Chirurgin alle möglichen Wunden, insbesondere schlecht heilende, chronische Wunden, aber auch Wundinfekte oder mechanische Traumata nach Unfällen oder Knochenbrüche.

Insbesondere bei der Abtragung der Nekrose bei dem kleinen Mädchen im OP sieht sie interessiert zu. Weckmesser oder Versa-Jets habe Korchaka in der Ukraine nicht zur Verfügung. Sie arbeite mit dem Skalpell, allerdings etwas schneller als die Operateure in Berlin, ergänzte sie. Durch ihre Arbeitsweise gehe aber etwas mehr Haut verloren, dabei auch mögliche gesunde Haut.

Behandlung von Kriegswunden

„Im Sommer waren ungefähr zwei Drittel aller Patienten verletzte Soldaten, jetzt liegt der Anteil bei rund der Hälfte“, berichtet Korchaka. Insbesondere Explosionsverletzungen, Schrapnellverletzungen, Verbrennungen und Polytraumata sähen Korchaka und Rymarenko aufgrund des Angriffskrieges in der Ukraine. Der Frontverlauf befindet sich derzeit etwas weiter weg von ihrem Zuhause. Deshalb werden verwundete Soldaten und auch Zivilisten, die durch Angriffe verletzt worden sind, zunächst in Krankenhäuser in der Nähe zur Versorgung gebracht. Unter anderem nach Kropywnyzkij werden sie aber auch zur Weiterversorgung verlegt, erklärt Korchaka.

Zur besseren Versorgung der Verwundeten würde sie sich wünschen, die Möglichkeiten aus Berlin auch zu Hause zu haben. Auch die Möglichkeit, Spenderhaut entsprechend aufzuarbeiten, um sie bei Verbrennungswunden verwenden zu können, würde ihre Arbeit erleichtern. Aber für die medizinischen Geräte und weiteren Anschaffungen gebe es gerade kein Geld. Zwar könnte Korchaka theoretisch entsprechende Geräte beantragen, das werde allerdings wahrscheinlich ins Leere laufen, berichtete sie. Auch Rymarenko wünsche sich etwa 20 Perfusoren für seine Arbeit in Kropywnyzkij.

„Das Hauptproblem ist natürlich der Krieg in der Ukraine. Unsere Regierung gibt viel Geld aus, um unser Land zu verteidigen, deswegen gibt es nur wenig Geld für medizinische Geräte“, betont der 27-jährige Arzt. Allerdings bekräftigte er, dass die Ärztinnen und Ärzte in der Ukraine ebenfalls gute und wichtige Medizin leisten, nur unter anderen Umständen. Zudem erhielten sie auch viel Hilfe von den europäischen Ländern, beispielsweise durch Arzneimittellieferungen (Kasten).

Er könne rund die Hälfte des hier gelernten Wissens direkt zu Hause in seinem Krankenhaus anwenden, meint Rymarenko. Die Behandlung von Verbrennungswunden sei ein stark handwerkliches und operatives Fach, erklärt auch der Chefarzt des Zentrums, Dr. med. Bernd Hartmann, der die beiden Gäste am UKB aufgenommen hat. „Eigentlich sind die zwei Wochen Hospitation zu knapp bemessen“, sagt er. Deshalb mache er allen Hospitanten aus der Ukraine das Angebot, dass sie sich nach dem Aufenthalt jederzeit bei ihm melden können, um nach einer telemedizinischen Zweitmeinung und Hilfestellung zu fragen, etwa wie welche Verbrennungswunden am besten zu versorgen sind.

Die ukrainische Chirurgin Nataliia Korchaka (oben mit Brille, Mitte rechts und unten) und ihr Kollege Rymarenko (Mitte links), ziehen eine sehr positive Bilanz über ihre Hospitation am UKB.
Die ukrainische Chirurgin Nataliia Korchaka (oben mit Brille, Mitte rechts und unten) und ihr Kollege Rymarenko (Mitte links), ziehen eine sehr positive Bilanz über ihre Hospitation am UKB.

Operieren bei Luftalarm

Kaum vorstellbar erscheint das, was Rymarenko im warmen und sicheren OP-Saal in Berlin über seinen Berufsalltag berichtet: „An guten Tagen haben wir in der Ukraine ein oder zwei Luftalarme, an schlechten dauert ein Alarm auch mal neun oder zwölf Stunden.“ Auf der Intensivstation könnten die Ärzte ihre Patienten nicht einfach alleine lassen, deshalb gingen manche Ärzte in den Luftschutzbunker, andere blieben bei den Patienten. „Wir haben keine Operationsräume in den Luftschutzbunkern.“ Deshalb werden die Luftalarme während Operationen weitestgehend ignoriert und gehofft, dass nichts passiere, so Rymarenko.

„Zwei Stunden täglich gibt es bei uns derzeit Strom und Internet, danach gibt es für vier Stunden keinen Strom“, sagt Rymarenko weiter. Das Spiel wiederhole sich stetig, so dass sie täglich etwa acht Stunden Strom haben. Ihr Krankenhaus habe aber mittlerweile gut funktionierende Generatoren, die bei ausreichend Treibstoff auch mehrere Tage lang laufen können.

Auf die Frage, wie die beiden mit dieser Situation, den Krieg im Hinterkopf, die vielen Kriegsverletzungen und bewegenden Schicksalen umgehen, sagt Rymarenko schulterzuckend: „Wir passen uns an, wir haben unser Schicksal akzeptiert. Wenn man nichts an der Situation ändern kann, muss man sich anpassen.“ Auch jetzt in Berlin bekomme er per App-Benachrichtigung jeden Tag die Luftalarme in der Ukraine mit, das fühle sich mittlerweile normal an. „Die Arbeit lenkt mich ab. Wenn man viel arbeitet, dann fokussiert man sich auf andere Dinge und kann nicht mehr so viel über die Situation nachdenken“, ergänzt Korchaka. Als das erste Mal der Rettungshubschrauber am UKB gelandet sei, habe sie sich trotzdem sehr erschrocken, habe am ganzen Körper gezittert und sich sofort an die Wand gestellt. „Ich dachte im ersten Moment, dass der Krieg jetzt hier rüberkommt.“

Dass Korchaka und Rymarenko in Deutschland mehr über schwere Verletzungen lernen können, ist auf eine Idee bei einem Besuch des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) in der Ukraine im vergangenen Sommer zurückzuführen, berichtet Hartmann. Ukrainische und deutsche Ärzte hätten vor Ort über mögliche Hilfen nachgedacht. In Deutschland wurde anschließend das Moldova-Institut in Leipzig gefunden, das die Reisen der Ärzte aus der Ukraine organisiert. Voraussetzung für die Teilnahme ist, dass die Ärzte aus der Ukraine Englisch sprechen können.

Positive Bilanz

Seit November 2022 finden deshalb an verschiedenen BG-Kliniken, darunter in Berlin, Bochum, Hamburg oder Halle, entsprechende Hospitationen statt. Das Projekt wurde bis Ende Mai 2023 verlängert, erklärt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf Nachfrage. Insgesamt werden damit 61 Ärztinnen und Ärzte aus der Ukraine in Deutschland hospitieren. Die Bilanz sei auf beiden Seiten bislang überaus positiv, so das Ministerium weiter. Die Hospitantinnen und Hospitanten hätten jeweils einen Fragebogen ausgefüllt. „Alle haben in kürzester Zeit viel erlernen können. Alle waren von der Kollegialität und Hilfsbereitschaft der deutschen Kollegen begeistert“, so das Ministerium. Auch vonseiten der deutschen Kliniken wurde der Austausch und die Erfahrung positiv rückgemeldet.

Auch Rymarenko und Korchaka ziehen eine positive Bilanz. Die beiden Gäste aus der Ukraine haben sich in Deutschland, am UKB, sehr wohl gefühlt. „Die Leute hier sind sehr offen und zugewandt, alle kümmern sich gut um uns“, so Korchaka. Auch Berlin sei eine sehr schöne Stadt, betont sie. Rymarenko ergänzt: „Wir sind sehr dankbar für diese Möglichkeit, hier zu sein.“

Nach knapp zwei Wochen in Berlin ist ihre Hospitation beendet, die beiden fahren mit dem Bus wieder in die Ukraine. 36 Stunden dauert die Fahrt zurück in den Krieg. Was die beiden mitnehmen, ist vor allem allerhand Wissen über die Behandlung von schweren Brandverletzungen. Zudem haben Korchaka und Rymarenko die Kontaktdaten unter anderem von Chefarzt Hartmann im Gepäck. So bleibt der Austausch zwischen dem UKB und dem Krankenhaus in Kropywnyzkij, mitten im Kriegsgebiet, weiter bestehen. Charlotte Kurz

Medizinische Hilfsgüter für die Ukraine

Neben Projekten wie den Hospitationen in den BG-Kliniken gibt es auch Kooperationen zwischen einzelnen Krankenhäusern. So hat etwa die Ernst von Bergmann Gruppe in Potsdam gemeinsam mit dem BMG drei Kinderkliniken in der Mittel- bis Ostukraine mit der Ausstattung von einem Ultraschallgerät, 24 Intensivbetten und Simulationsmodellen sowie Online-Schulungen gestärkt. Das BMG hat hierbei 800 000 Euro bereitgestellt.

Auch im größeren Rahmen hat Deutschland die Ukraine in den vergangenen zwölf Monaten mit medizinischen Hilfsgütern unterstützt. Im Rahmen des gemeinsamen Melde- und Lagezentrums von Bund und Ländern (GMLZ) hat die Bundesregierung bislang medizinische Hilfslieferungen im Wert von mehr als 160 Millionen Euro gespendet, erklärte das BMG dem . Das BMG habe das GMLZ unterstützt, die Lieferungen in Abstimmung mit den Ländern, den europäischen Partnern, der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der NATO sowie den Hilfsorganisationen zu koordinieren. Davon habe das BMG medizinische Hilfsgüter von mehr als 75 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Darunter waren Patientenmonitore, Schutzanzüge, Beatmungsgeräte und Desinfektionsmittel.

Die WHO habe zudem in einem Nothilfeappell dazu aufgerufen, die Ukraine und die umliegenden Nachbarländer zu unterstützen, um die medizinische Versorgung vor Ort zu gewährleisten, so das BMG. Der aktuelle Finanzbedarf liege bei 147,5 Millionen Euro. Das BMG habe der WHO 20,5 Millionen Euro zur Lieferung dringend benötigter Hilfsgüter und der Unterstützung durch medizinische Nothilfeteams bereitgestellt.

In Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und der Hilfsorganisation Action Medeor wurden außerdem prioritär benötigte Arzneimittel, darunter Antibiotika und Impfstoffe, zur Verfügung gestellt, erklärte das BMG weiter. Auch das ukrainische Rettungswesen vor Ort wird gemeinsam mit der Hilfsorganisation Cadus unterstützt. „Hilfsmaßnahmen umfassen die Beschaffung von medizinischen Geräten zur Notfallversorgung, Schulungen zur Vorbereitung auf eine Tätigkeit im Rettungsdienst und die Unterstützung des Staatlichen Diensts für Notfallsituationen beim Aufbau einer Ausbildungsstätte für Rettungswesen.“

Im Rahmen einer Geberkonferenz zwischen der Pharmaindustrie und dem BMG wurden Spenden im Wert von 100 Millionen Euro von der deutschen Gesundheitswirtschaft angezeigt. Das BMG unterstütze die Koordinierung medizinischer Großspenden im Bereich Arzneimittel und Medizinprodukte aus dem privaten Sektor. Diese werden über die deutschen Hilfsorganisationen, etwa der Malteser, dem Deutschen Roten Kreuz oder Arbeiter-Samariter-Bund koordiniert.

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