ArchivDeutsches Ärzteblatt8/2023Reformierung der Notfallversorgung: Vorschläge zur Entlastung

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Reformierung der Notfallversorgung: Vorschläge zur Entlastung

Kurz, Charlotte

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Die Notaufnahmen an den Krankenhäusern sind häufig überlastet. Um dies zu ändern, soll die Versorgung modernisiert werden. Insbesondere telemedizinische Angebote sollen flächendeckend genutzt werden können. Foto: picture alliance/Sascha Steinach
Die Notaufnahmen an den Krankenhäusern sind häufig überlastet. Um dies zu ändern, soll die Versorgung modernisiert werden. Insbesondere telemedizinische Angebote sollen flächendeckend genutzt werden können. Foto: picture alliance/Sascha Steinach

Die Regierungskommission hat Empfehlungen zur Reformierung der Notfallversorgung vorgelegt. Dabei sollen die bereits genutzten Notrufnummern zusammengelegt und telemedizinische Möglichkeiten ausgebaut werden. Zudem sollen sich Notdienstpraxen direkt an Krankenhäusern ansiedeln.

Neben der Reformierung der Krankenhauslandschaft will die Bundesregierung auch die Notfallversorgung modernisieren. Ziel sei eine Entlastung der massiv überfüllten Notaufnahmen, erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vergangene Woche in Berlin. Künftig sollen deshalb Patientinnen und Patienten im Notfall durch neue Leitstellen und Notfallzentren versorgt werden. Die Vorschläge hat die Regierungskommission Krankenhaus vorgelegt, die bereits Empfehlungen für die Krankenhausreform veröffentlicht hat.

Die Gesamtzahl der behandelten Notfallpatienten – durch den Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) sowie den Notaufnahmen der Krankenhäuser – sei von 24,9 Millionen im Jahr 2009 auf 27,8 Millionen Menschen im Jahr 2019 gestiegen, heißt es im Bericht der Kommission. Die behandelten Fälle in den Kliniken seien von 14,9 Millionen auf 19,1 Millionen im gleichen Zeitraum angewachsen.

„Wir brauchen eine kluge Steuerung der Patienten auf zwei unterschiedlichen Ebenen“, kündigte Prof. Dr. med. Tom Bschor, Koordinator der Kommission, an. Über die Einrichtung von integrierten Leitstellen (ILS) sollen die beiden Notrufnummern 112 und 116117 zusammengeführt werden. Die Anrufe sollen entweder in der gleichen Stelle einlaufen oder getrennte Leitstellen sollen so verbunden sein, sodass ein Rückgriff auf die Strukturen der anderen Leitstelle möglich ist.

Hilfesuchende durchlaufen zunächst eine telefonische oder telemedizinische Ersteinschätzung, die mithilfe eines standardisierten, softwaregestützten Ersteinschätzungsinstruments vorgenommen werden soll. Die Leitstelle soll die Patienten anschließend der für sie am besten geeigneten Notfallstruktur zuweisen. Sie soll etwa telemedizinische Beratungen, Verordnungen von Notfallmedikamenten oder einen verbindlichen Termin bei einer Arztpraxis, einer KV-Notdienstpraxis sowie in der Notaufnahme vermitteln können.

Zudem sollen auch aufsuchende Dienste, insbesondere für immobile Patientinnen und Patienten wie etwa der KV-Bereitschaftsdienst oder die pflegerische Notfallversorgung entsendet werden können. Dieser soll zu einem flächendeckenden 24/7-Angebot ausgebaut werden. Die telemedizinische Beratung soll innerhalb von zehn Minuten erreichbar sein und etwa für die Gynäkologie, Augen- und HNO-Heilkunde eingerichtet werden. Dafür werden „hoch qualifizierte“ Personen, die gut bezahlt werden müssten, benötigt, so Lauterbach. Gängige Programme wie etwa Skype, Whatsapp oder Facetime sollen für einen niedrigschwelligen Zugang eingerichtet werden.

Unmittelbare Erreichbarkeit

Die 112 soll nach wie vor sofort erreichbar sein, für die 116117 sollen mehr als 75 Prozent aller Anrufe in maximal drei, mehr als 95 Prozent aller Anrufe in maximal zehn Minuten durchgestellt werden. Die unmittelbare Erreichbarkeit der 116117 gehöre zum Sicherstellungsauftrag der KVen. „Geeignete Kontroll- und – bei Überschreiten der Wartezeitvorgaben Sanktionsmechanismen sind einzuführen“, schreibt die Kommission. Die ILS müssten „so vorteilhaft und attraktiv sein, dass für die Bevölkerung ein großer Anreiz besteht, sich in einem medizinischen Notfall primär an die ILS zu wenden“, heißt es.

Das zweite Standbein sollen integrierte Notfallzentren (INZ) im Krankenhaus sein, erklärte Bschor. Integriert bedeutet, dass es eine Notaufnahme des Krankenhauses sowie eine KV-Notdienstpraxis gibt, die direkt am Krankenhaus eine gemeinsame zentrale Ersteinschätzungsstelle haben.

Über die Verantwortlichkeit soll eine Einigung zwischen zuständiger KV und Krankenhaus erfolgen. „Kommt keine Einigung zustande, leitet das Krankenhaus das INZ“, heißt es im Vorschlag. Die INZ sollen in allen Krankenhäusern der erweiterten Notfallversorgung (rund 260 Krankenhäuser) und umfassenden Notfallversorgung (etwa 160) aufgebaut werden. Wo regional erforderlich, werde ein INZ auch an Krankenhäusern der Basisnotfallversorgung eingerichtet, heißt es. An Standorten der Kinderkliniken, die die Voraussetzung des Moduls Notfallversorgung Kinder erfüllen (etwa 290 Krankenhäuser), sollen integrierte Notfallzentren für Kinder und Jugendliche (KINZ) aufgebaut werden.

Notdienstpraxis am Klinikum

Die Notdienstpraxen sollen sich innerhalb der Klinik oder in unmittelbarer Nähe ansiedeln. Personell sollten sie mit mindestens einem Arzt oder einer Ärztin der Fachrichtungen Innere Medizin, Chirurgie, Allgemeinmedizin, Anästhesie oder über eine Weiterqualifikation in Notfallmedizin besetzt sein sowie einer medizinischen Fachangestellten oder Pflegefachperson.

Die Finanzierung der Notdienstpraxen ist entweder über den Sicherstellungsauftrag des KV-Systems zu organisieren oder im Rahmen einer Reform des Vergütungssystems über einen gemeinsamen Finanzierungstopf von KV-Praxen und Notaufnahmen. Vorgesehen sind der Kommission zufolge auch Sanktionen für eine unzureichende Besetzung der Praxen oder einer Nichterfüllung der Vorgaben der Notaufnahmen.

Der Vorschlag zeige die Unkenntnis der Kommission über die Versorgungssituation im ambulanten Bereich, sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. med. Andreas Gassen dem Deutschen Ärzteblatt. Der ambulante Bereich versorge in den normalen Praxiszeiten über 600 Millionen Fälle, denen rund 20 Millionen Fälle gegenüberstehen, die die Krankenhäuser im Notdienst behandeln und von denen ein erheblicher Teil gar keine Notfälle seien. Bezüglich der geplanten Öffnungszeiten fragt sich Gassen: „Sollen dann die Niedergelassenen ihre Praxen zumachen und in der Notfallpraxis sitzen?“ Es erschließe sich nicht, mit welchem ärztlichen und nichtärztlichen Personal im Krankenhaus diese Vorschläge umgesetzt werden sollen. Sein Stellvertreter, Dr. med. Stephan Hofmeister ergänzte: „Die Regelung, dass der Tresen vom Krankenhaus geführt wird, wenn man sich nicht einigt, birgt auch eine große Gefahr. Denn die Kolleginnen und Kollegen würden dann sozialversicherungspflichtig werden.“ Damit wären die Niedergelassenen ganz raus, denn da das Krankenhaus in diesem Fall Träger ist, müssten diese angestellt werden. Die sektorenübergreifende Expertise der Ärztekammern sollte unbedingt für die Notdienstreform einbezogen werden, betonte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. med. (I) Klaus Reinhardt. Die BÄK übte ebenfalls Kritik am Ansatz, die Notdienstpraxen auch zu den normalen Sprechstundenzeiten zu öffnen. Das sei der falsche Ansatz.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte, die Vorschläge hätten das Potenzial, die Notfallversorgung der Patienten zu verbessern. Positiv sieht die DKG das Ziel, durch gestufte Angebote der ILS den Hilfesuchenden adäquate Angebote zu machen. Dies dürfte dazu beitragen, die Notaufnahmen zu entlasten. Der GKV-Spitzenverband begrüßte den Vorstoß. Richtig sei es, Hilfesuchende durch die ILS dorthin zu leiten, wo sie schnell und bedarfsgerecht medizinisch versorgt werden, sagte Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstand im GKV-Spitzenverband. Die Planung der Standorte der INZ müsse sich jedoch am Bevölkerungsbedarf orientieren, um bundesweit eine gute Erreichbarkeit der INZ zu gewährleisten und gleichzeitig unnötige Doppelstrukturen zu vermeiden, so Stoff-Ahnis.

„Wir sehen einen Großteil der Empfehlungen als bereits umgesetzt an“, sagte der Chef des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung (Zi), Dr. rer. pol. Dominik von Stillfried. Der andere Teil befinde sich auf dem Wege dorthin. Während sich die digitale Fallübergabe etwa bereits in der Erprobung befinde, brauche es für den Austausch über die Rufnummern der Anrufenden und die bereits erfolgten Dispositionen eine entsprechende Rechtsgrundlage.

Erneuter Anlauf

Eine Reform der Notfallversorgung wurde immer wieder geplant, zuletzt von Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Ende 2019 brachte er, kurz vor der Pandemie, einen entsprechenden Gesetzentwurf auf den Weg. Darin waren schon ein gemeinsames Notfallleitsystem sowie integrierte Notfallzentren vorgesehen. Das Vorhaben ist damals insbesondere nach Gesprächen mit den Ländern und anderen beteiligten Akteuren gescheitert. Mit dem verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung, das im Juli 2021 in Kraft getreten ist, sollte hingegen eine Regelung zur Durchführung einer standardisierten Ersteinschätzung eingeführt werden. Damit wurde der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) verpflichtet, Vorgaben bis Juli 2022 zu erarbeiten. Aufgrund der anstehenden Krankenhausreform wurde die Einführung aber um ein Jahr verschoben. Die Entscheidung soll im April 2023 erfolgen.

Die Vorschläge der Kommission sollen nun in der Bund-Länder-Runde zur Krankenhausreform beraten werden, erklärte Lauterbach. Das nächste Treffen ist für Ende Februar anberaumt. Die Reform der Notfallversorgung solle dann in dieser Legislaturperiode (bis 2025) schon wirken. Charlotte Kurz

Kernpunkte der Notfallreform

Einrichtung von integrierten Leitstellen (ILS):

  • Zusammenführung von 112 und 116117
  • telefonische/telemedizinische Ersteinschätzung mittels softwaregestütztem Ersteinschätzungsinstrument
  • je nach benötigter Hilfe: Möglichkeiten der Verordnungen von Notfallmedikamenten, Vermittlung eines verbindlichen Arzttermins oder aufsuchende Dienste, ambulante Palliativversorgung, Akut-Sozialdienst oder psychosozialer Kriseninterventionsdienst

Aufbau von integrierten Notfallzentren (INZ):

  • Gemeinsame zentrale Ersteinschätzungsstelle von Krankenhaus und KV-Notdienstpraxis
  • Öffnungszeiten der Notdienstpraxen: Montag bis Freitag von 14 bis 22 Uhr sowie am Wochenende oder an Feiertagen von 9 bis 21 Uhr (Notfallstufe 2); 24/7 in Notfallstufe 3
  • Praxen dürfen diagnostische Möglichkeiten der Klinik nutzen, müssen aber EKGs ableiten und Blutentnahmen durchführen können.

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