ArchivDeutsches Ärzteblatt8/2023Interview mit Dr. rer. soc. Thomas Kriedel, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: Digitalisierung lebt von den Wünschen der Betroffenen

POLITIK: Das Interview

Interview mit Dr. rer. soc. Thomas Kriedel, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: Digitalisierung lebt von den Wünschen der Betroffenen

Beerheide, Rebecca; Schmedt, Michael

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Dr. rer. soc. Thomas Kriedel ist seit 2017 Mitglied des Vorstandes der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Für die bevorstehenden Wahlen der KBV steht er nicht mehr zur Verfügung. Dem Deutschen Ärzteblatt berichtet er über seine Erfahrungen aus der ärztlichen Selbstverwaltung.

Wie betrachten Sie mit ihrer 42-jährigen Berufserfahrung die Berufspolitik im Rückblick, hat sich das Verhältnis von Politik und Selbstverwaltung verändert?

Thomas Kriedel begann seine berufspolitische Karriere 1981 als Referent bei der KBV. Nach verschiedenen Position, bei der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe wurde er 2017 Vorstandsmitglied der KBV. Foto: Georg J. Lopata
Thomas Kriedel begann seine berufspolitische Karriere 1981 als Referent bei der KBV. Nach verschiedenen Position, bei der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe wurde er 2017 Vorstandsmitglied der KBV. Foto: Georg J. Lopata

Die größte Änderung, die ich in den 42 Jahren empfunden habe, ist, dass die Selbstverwaltung massiv zurückgefahren wurde. Sowohl was die ärztliche Selbstverwaltung und ihre Kompetenzen betrifft als auch in den letzten Jahren die gemeinsame Selbstverwaltung mit den Krankenkassen. Als ich in der KBV begonnen habe zu arbeiten, hatten wir noch die Verhandlungsmacht, mit einzelnen Kassen zu verhandeln. Damit konnte man natürlich auch schneller einzelne Dinge in die Versorgung bekommen.

Hat sich die Akzeptanz des KV-Systems innerhalb der Vertragsärzteschaft geändert?

Früher konnte man bei den Einführungslehrgängen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) beobachten, dass die Teilnehmenden wussten, dass sie etwas in der Selbstverwaltung bewirken können, auch wenn sich nicht alle aktiv beteiligt haben. Mir scheint, dass dieses Bewusstsein heute nicht mehr ganz so gegeben ist in der nachwachsenden Generation, die sich niederlassen könnte. Daher muss man deutlicher herausstellen, dass man gerade als Vertragsarzt viel an seiner ärztlichen Tätigkeit an seinen Interessen ausrichten kann. Das reicht vom Ort, wo man sich niederlässt, über die Frage kleine oder große Praxis bis hin zum Fachgebiet, in dem man sich spezialisieren möchte – immer natürlich unter den entsprechenden Rahmenbedingungen. Diese Vorteile müssen den jüngeren Ärztinnen und Ärzten klargemacht werden. Und dass sie ihre Forderungen an das KV-System weitergeben. Denn dieses vertritt die Vertragsärzteschaft genauso wie zum Beispiel der Marburger Bund die Krankenhausärzte.

Was ist notwendig, damit das KV-System zukunftsfest bleibt?

Zwei Punkte: Erstens muss die Politik der Selbstverwaltung mehr Freiraum geben. Wenn jetzt die Landesbehörden sogar noch die Entscheidungen der Zulassungsausschüsse absegnen sollen, wie ich höre, dann geht der Zug eindeutig in die falsche Richtung. Das Zweite ist, wir müssen aktiv über die KVen mehr Service anbieten. Der Arzt führt nach seinen Vorstellungen seine Praxis, aber gerade bei Anwendungen der Telematikinfrastruktur (TI) können wir gut unterstützen. Sei es bei Fragen zum Anschluss der TI oder zu Fragen der Sicherheit. Wir müssen den Ärzten klarmachen, was für Angebote die KBV hat und wie wir ihnen damit helfen können, Zeit zu sparen. Denn gerade in diesen Fällen hat der Aufwand nichts mit der ärztlichen Tätigkeit zu tun.

Bei der KBV haben Sie sich stark um den Bereich E-Health gekümmert. Wie ist Ihr Resümee nach sechs Jahren als KBV-Vorstand?

Rückblickend wird viel negativ berichtet. Auch ich mache das. Das liegt daran, dass mit der Ära Spahn ein großer Druck kam. Er hat einfach gesagt, alles was analog ist – Beispiel Formulare – wird jetzt digitalisiert. Das ist der falsche Weg. Das Potenzial der Digitalisierung liegt woanders. Zudem sind wir auf der technischen Seite einen deutschen Sonderweg gegangen. Stichwort Konnektor: Diesen gibt es nur in Deutschland. Das heißt er ist teuer, verursacht lange Entwicklungszeiten mit entsprechenden Fehlern und man kann ihn nicht einfach nachkaufen. Alles Folgen eines kleinen Marktes. In der ersten Phase wurde also unausgereifte Technik mit Zwang in die Praxen gedrückt. Zudem waren die Prozesse nicht voll gegenfinanziert. Das schafft verständlicherweise Unmut. Jetzt gilt es aber, die Praxen mitzunehmen und ihre Wünsche und Anforderungen zu hören. Denn auf die Anwender kommt es an. Auch wenn es wohl noch zwei Jahre dauern wird, bis alles reibungslos läuft. Daher sind wir auch froh, dass mit der TI 2.0 dieser genannte Sonderweg zu Ende geht und der Konnektor dann Geschichte ist.

Muss die Politik der KBV mehr zuhören?

Man muss auf den Anwender hören und danach priorisieren, nicht nur gesetzliche Vorgaben machen. Da die Entwicklungen oftmals Monate dauern, sind sinnvolle digitale Projekte wie die Umsetzung des Krankengelds für Eltern, deren Kinder krank sind, noch gar nicht realisiert. Wir müssen die Nutzer mehr einbeziehen und die neuen Anwendungen ausreichend testen.

Es fehlt in der Politik also Wissen über die ärztlichen Tätigkeit?

Auf jeden Fall. Wir haben ein Ärztepanel, machen Umfragen und ein Set von 200 Praxen, die man bei Bedarf fragen kann. Mit diesem Wissen sind wir in die gematik gegangen und haben Verbesserungsvorschläge gemacht. Oftmals wurde uns das ausgelegt, als wollten wir blockieren. Und trotz unserer Einwände kam schnell die gesetzliche Regelung. Die wirklichen Bedürfnisse aus der Praxis sind so nicht in die politische Entscheidung eingegangen. Erklären kann ich mir die Linie der Politik nicht so ganz. Zudem muss man nochmals darauf hinweisen, dass seit nunmehr fast drei Jahren der Mehrheitsgesellschafter der gematik das Bundesgesundheitsministerium ist. Der Politik ist offensichtlich immer noch nicht klar, wie viele Sonderfälle es in der Praxis gibt, die durchdacht werden müssen. Diese müssen geklärt werden, bevor man gesetzliche Regelungen einführt. Digitalisierung lebt davon, die Wünsche der Betroffenen zu beachten.

Ist der Unmut in der jüngeren Generation über die Probleme der TI größer?

Das ist unterschiedlich. Die Jüngeren kritisieren zunächst, dass in ihrer Ausbildung das Thema Digitalisierung eine zu kleine Rolle spielt. Dann kommen sie in eine Praxis und werden dort in ein technisches Korsett gepresst, dass ihnen veraltet erscheint. Dennoch ist es weniger eine Frage von jung oder alt, sondern der Akzeptanz. Als die Praxen in der Pandemie die Impfzahlen melden sollten, hat man sich schnell auf ein Grundraster an Daten geeinigt und losgelegt. Hier sieht man, wie schnell und effektiv so etwas umgesetzt werden kann, wenn Politik und Selbstverwaltung sich gut abstimmen.

Hat die Digitalisierung schon für vereinfachte Prozesse gesorgt?

Bislang leider nicht. Zurzeit eher das Gegenteil. Das kann sich ändern, wenn die Technik reibungslos läuft und die Kommunikation wie zum Beispiel über KIM in der Normalität angekommen ist. Aber wir brauchen vor Etablierung neuer Prozesse unbedingt eine verpflichtende Nutzen-Kosten-Abschätzung.

Was für eine Rolle spielt die Industrie?

Auf der einen Seite ist es für die Industrie problematisch, wenn man ihnen kurzfristig Aufgaben gibt und dann nur zwei bis drei Monate Entwicklungszeit einräumt. Auf der anderen Seite überlegen sie sich aber genau, was ich wie umsetze und ob ich es überhaupt mache. Dahinter steckt natürlich auch die Frage des Profits. Man kann aber feststellen, dass ausgereifte Produkte einfach zu spät kamen. Dafür wollte man die Ärzte bestrafen. Die Politik hat aber eingesehen, dass man dort nicht die Verantwortlichen findet. Daher will man jetzt eine Pauschale einführen und nicht die Refinanzierung einzelner Komponenten. Das könnte den Markt einfacher machen, die Firmen müssten vertraglich zusichern, immer das notwendige Update im Rahmen dieser Pauschale rechtzeitig zu liefern..

Könnten sich auch neue Player noch in den Markt etablieren?

Schwierig. Für die ganz Großen, wie Google oder Amazon ist der Markt viel zu klein. Für andere wird es sicher dann interessant, wenn nicht nur die TI, sondern auch die Praxisverwaltungssysteme in die Cloud gehen. Da könnten sich Türen öffnen.

Mit dem Wissen von heute, was würden Sie anders machen in der Digitalisierung?

Ich denke, man sollte viel mehr Augenmerk auf die Prozessanalyse legen. Wir neigen in Deutschland dazu, immer die 100-Prozent-Umsetzung zu erreichen. Zielführender wäre es, wenn man den sinnvollen Dingen Vorrang gibt, also diejenigen Sachen priorisiert, die einen starken Nutzen haben. Man hat dagegen ein recht gut funktionierendes analoges System genommen und ihm eine Digitalisierung ohne Strategie übergestülpt, ohne zu schauen, wo ist es sinnvoll und wo nicht. Man hätte sich zum Beispiel als Erstes darum kümmern sollen, dass die Daten zwischen den Sektoren digital schnell verfügbar sind.

Sollen diese Daten auch für die Forschung bereitgestellt werden?

Das ist ein Problem. Denn bislang sprechen wir über ein praxenzentriertes System. Für Forschung und Praxis benötigt man keine Vollerhebung der Patientendaten. Hier muss man Lösungen schaffen, die nicht zu einer Mehrbelastung führen, wenn Ärztinnen und Ärzte die Daten für die Forschung differenziert eingeben müssen. Dass man alle Arztpraxen für solche wissenschaftliche Erhebungen nutzt, sehe ich nicht. Eine Lösung könnten aber ausgewählte Praxen sein, die sich bereit erklären, die Wissenschaft zu unterstützen.

Was raten Sie Ihrem nachfolgenden KBV-Vorstand?

Mit Ratschlägen halte ich mich zurück. Ich kann nur sagen, was meine Erfahrungen sind: Die Selbstverwaltung muss gestärkt werden, das habe ich bereits gesagt. In der Digitalisierung muss die KBV die Erfahrungen, die wir aus den Praxen heraus haben, zur Geltung bringen. Nur so kann nutzerorientiert entwickelt werden, was zwangsläufig zu guten und sinnvollen Produkten für die Anwender führt.

Das Interview führten Rebecca Beerheide und Michael Schmedt.

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