MEDIZIN: Originalarbeit
Räumlich-zeitliche Trends der Inzidenz des Typ-2-Diabetes in Deutschland
Auswertung der Abrechnungsdaten von 63 Millionen gesetzlich Versicherten zwischen 2014 und 2019
Spatio-temporal trends in the incidence of type 2 diabetes in Germany—analysis of the claims data of 63 million persons with statutory health insurance from 2014 to 2019
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Hintergrund: Aktuelle Trends der Inzidenzrate des Typ-2-Diabetes (T2D) in Deutschland sind nicht bekannt. Ziel dieser Arbeit ist es, die geschlechts-, alters- und regionsspezifischen Trends der T2D-Inzidenzrate zwischen 2014 und 2019 zu bestimmen.
Methode: Basierend auf bundesweiten Daten gesetzlich Versicherter in Deutschland wurden alters- und geschlechtsspezifische Trends der T2D-Inzidenzrate über negativ-binomiale Regressionsmodelle geschätzt. Alters- und geschlechtsadjustierte Trends für 401 Landkreise und kreisfreie Städte wurden mit einem bayesianischen räumlich-zeitlichen Regressionsmodell berechnet.
Ergebnisse: Im untersuchten Zeitraum wurden jährlich circa 450 000 T2D-Neuerkrankungen bei insgesamt circa 63 Millionen Personen beobachtet. Über alle Altersgruppen sank die Inzidenzrate bei Frauen und Männern jeweils von 6,9 (95-%-Konfidenzintervall: [6,7; 7,0]) und 8,4 [8,2; 8,6] pro 1 000 Personen im Jahr 2014 auf 6,1 [5,9; 6,3] und 7,7 [7,5; 8,0] pro 1 000 Personen im Jahr 2019. Das entspricht einer jährlichen Verringerung um jeweils 2,4 % [1,5; 3,2] und 1,7 % [0,8; 2,5]. In der Altersgruppe 20–39 Jahre stieg die Inzidenzrate. Die alters- und geschlechtsadjustierte Inzidenzrate sank in fast allen Landkreisen, wenngleich regionale Unterschiede bestehen blieben.
Schlussfolgerung: Es sollte künftig genau beobachtet werden, ob sich der sinkende Trend fortsetzt. Zu beachten ist, dass die Prävalenz steigen kann, obwohl die Inzidenz sinkt. Daher bedeuten die Ergebnisse nicht zwangsläufig, dass die T2D-assozierte Krankheitslast und der damit verbundene Versorgungsbedarf geringer werden.


Die Prävalenz des Typ-2-Diabetes (T2D) stieg sowohl in Deutschland als auch international in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich (1, 2, 3). Modellierungsstudien deuten darauf hin, dass die Anzahl der Menschen mit T2D auch künftig deutlich zunehmen wird (3, 4, 5). Ein wesentlicher Einflussfaktor auf die aktuelle und zukünftige T2D-Prävalenz ist die Inzidenz des T2D, also die Anzahl der Neuerkrankungen im Verhältnis zur Bevölkerung ohne T2D. Eine Metaanalyse zeigte, dass in einigen Ländern mit hohen Einkommen die T2D-Inzidenz seit Mitte der 2000er stagniert oder sinkt (6). Die steigende Prävalenz im gleichen Zeitraum ist nur ein scheinbarer Widerspruch, denn die Verbesserung der medizinischen Versorgung von Menschen mit T2D führt zu einer höheren Lebenserwartung, was sich wiederum in einer Zunahme der Prävalenz niederschlägt. Die höhere Lebenserwartung resultiert darin, dass Menschen nach T2D-Diagnose länger leben und somit zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr Menschen in der Bevölkerung an T2D erkrankt sind (4, 7).
Studien zu zeitlichen Trends der T2D-Inzidenz in Deutschland sind selten. Die aktuellste Studie aus Deutschland, die in der oben genannten Metaanalyse eingeschlossen wurde, bezog sich auf den Zeitraum 2008–2010 und weist auf eine steigende Inzidenz hin (6, 8). Im Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) werden für den Zeitraum von 2012–2014 bundesweit dagegen sinkende T2D-Inzidenzen berichtet. In beiden Studien wird ein vergleichsweiser kurzer und bereits weiter zurückliegender Zeitraum betrachtet. Entsprechend schlussfolgern Heidemann et al. (9) in ihrer Übersichtsarbeit, dass zeitliche Trends der T2D-Inzidenz in Deutschland schwer beurteilt werden können, insbesondere bezüglich alters- und geschlechtsspezifischer Trends. Neben Alters- und Geschlechtsunterschieden werden in vorangegangenen Studien zudem beträchtliche regionale Unterschiede in der T2D-Inzidenz beschrieben (2). Wie sich diese regionalen Unterschiede über die Zeit entwickelten, ist hingegen weitgehend unbekannt. Darüber hinaus beziehen sich bisherige Studien auf eine vergleichsweise grobe regionale Gliederung auf Ebene der Bundesländer oder der Regionen der 17 kassenärztlichen Vereinigungen.
Daher war das Ziel der vorliegenden Arbeit geschlechts- und altersspezifische Trends der T2D-Inzidenz in Deutschland zwischen 2014 und 2019 zu schätzen. Zudem sollten aktuelle Trends der regionalen Unterschiede in der T2D-Inzidenz zwischen 401 Kreisen und kreisfreien Städten beschrieben werden.
Methode
Datengrundlage
Auf Grundlage krankenkassenübergreifender und bundesweiter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) der Jahre 2014–2019 wurden die bundesweiten und kreisspezifischen T2D-Inzidenzraten geschätzt. Die Datengrundlage enthält alle gesetzlich Versicherten mit mindestens einem Kontakt zu einem Vertragsarzt/einer Vertragsärztin je Jahr. Circa 85 % der Bevölkerung in Deutschland sind gesetzlich versichert. In Anlehnung an die Studie von Goffrier et al. (2) wurden Personen ausgeschlossen, bei denen innerhalb der drei vorangegangenen Jahre bereits Diabetes diagnostiziert wurde. Dieser diagnosefreie Zeitraum dient dazu, Personen auszuschließen, die bereits an Diabetes erkrankt sind und für die somit nicht mehr das Risiko besteht, neu zu erkranken. Wird der diagnosefreie Zeitraum zu kurz gewählt, kann dies zu einer Überschätzung der Inzidenzrate führen (2). Es wurden außerdem nur Versicherte mit gültiger Wohnortangabe (Kreis), einem Alter < 111 Jahre und männlichem oder weiblichem Geschlecht in die Analyse eingeschlossen. Das diverse Geschlecht wurde aufgrund der geringen Fallzahl ausgeschlossen.
Zur Wahrung der Anonymität der Daten wurden vom Zi nach Alter und Geschlecht aggregierte Daten bereitgestellt, wobei in jedem Alters- und Geschlechtsstratum die Fallzahl mindestens 30 Personen betragen musste. Auf Bundesebene standen die Daten in 20 5-Jahres-Altersgruppen (< 5 Jahre bis ≥ 95 Jahre) stratifiziert nach Geschlecht zur Verfügung, wobei in jedem Stratum die Anzahl inzidenter Fälle und die Anzahl der Personen unter Risiko angegeben war. Aufgrund der feingliedrigen regionalen Stratifizierung in die 401 Kreise und kreisfreien Städte war keine Altersstratifizierung möglich, sodass auf Kreisebene ausschließlich die Gesamtzahl der T2D-Neuerkrankungen vorlag. Allerdings konnte die Anzahl der Personen unter Risiko für einen neuauftretenden T2D in 5-Jahres-Altersgruppen stratifiziert nach Geschlecht zur Verfügung gestellt werden, was eine indirekte Alters- und Geschlechtsstandardisierung ermöglichte.
Identifikation inzidenter Typ-2-Diabetesfälle
Die Identifikation einer T2D-Neuerkrankung erfolgte auf Basis der zu Abrechnungszwecken codierten ICD-10-Klassifikation (internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision, ICD-10), wobei ausschließlich gesicherte Diagnosen berücksichtigt wurden. Um die Wahrscheinlichkeit falsch positiver Diagnosen zu verringern, musste nach der ersten Codierung eines T2D mindestens eine weitere T2D-Codierung in einem der drei Folgequartale vorliegen (m2Q-Kriterium). In Anlehnung an Goffrier et al. (2) wurde ein T2D anhand der ICD-10-Codes E11 (T2D), E12 (Diabetes mellitus in Verbindung mit Fehl- oder Mangelernährung), E13 (sonstiger näher bezeichneter Diabetes mellitus) und E14 (nicht näher bezeichneter Diabetes mellitus) definiert. Da für einen inzidenten Fall mindestens zwei Diagnosen in zwei unterschiedlichen Quartalen vorliegen mussten, ergaben sich unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten dieser ICD-Codes. Welche Kombinationen als T2D definiert wurde, kann im Detail bei Goffrier et al. (2) nachvollzogen worden. Die Berücksichtigung der Diagnosen E12–E14 erfolgte, da die Anzahl der T2D-Diagnosen vermutlich unterschätzt wird, wenn ausschließlich E11-Diagnosen betrachtet werden (2). Die Daten beinhalten nur ambulante und keine stationär gestellten Diagnosen.
Statistische Analyse
Mithilfe von negativ-binomialen Regressionsmodellen wurden alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzraten auf Bundesebene für die Jahre 2014–2019 geschätzt. Zeitliche Veränderungen in der Inzidenzrate wurden als jährliche prozentuale Veränderung („annual percentage change“, APC) angegeben.
Um regionale Unterschiede zu untersuchen, wurde auf Kreisebene das standardisierte Inzidenzratenverhältnis („standardized incidence ratio“, SIR) berechnet. Das SIR ist definiert als Quotient der beobachteten Anzahl inzidenter Fälle eines Kreises und der erwarteten Anzahl inzidenter Fälle eines Kreises. Letztere wurde anhand der alters- und geschlechtsspezifischen Inzidenzrate der vorliegenden Studienpopulation des Jahres 2014 berechnet. Das SIR kann als Faktor interpretiert werden, um den sich die Inzidenzrate in einem Kreis von der bundesweiten Inzidenzrate im Jahr 2014 unterscheidet – unabhängig von Unterschieden in der Alters- und Geschlechtsverteilung. Zur Schätzung des SIR wurde ein bayesianisches räumlich-zeitliches Regressionsmodell verwendet. Dieses Modell nutzt bei der Schätzung des SIR für einen Kreis Informationen von benachbarten Kreisen. Hierbei liegt die Annahme zugrunde, dass benachbarte Kreise ähnlichere T2D-Inzidenzraten aufweisen als nichtbenachbarte Kreise. Eine detaillierte Beschreibung der statistischen Analyse ist im eMethodenteil sowie in eTabelle 1, eGrafik 1 und eGrafik 2 zu finden.
Ergebnisse
Ergebnisse auf Bundesebene
Insgesamt wurden jedes Jahr circa 450 000 T2D-Neuerkrankungen bei circa 63 Millionen Personen unter Risiko beobachtet (eGrafik 3).
Grafik 1a und eGrafik 4 zeigen die Ergebnisse der negativ-binomialen Regressionsanalyse auf Bundesebene. Es ist ein starker, nichtlinearer Zusammenhang zwischen der Inzidenzrate und dem Alter zu erkennen – mit höheren altersspezifischen Raten bei Männern im Vergleich zu Frauen. Zudem wird deutlich (Grafik 1b), dass sich die Inzidenzrate in den höheren Altersgruppen zwischen 2014 und 2019 verringert hat. In den Altersgruppen < 60 sind die Inzidenzraten im Jahr 2019 teilweise höher als 2014. Dies zeigt sich auch in den linearen Trends für verschiedene Altersgruppen. In allen Altersgruppen sank die Inzidenzrate bei Frauen und Männern jeweils von 6,9 [6,7; 7,0] sowie 8,4 [8,2; 8,6] pro 1 000 Personen im Jahr 2014 auf 6,1 [5,9; 6,3] und 7,7 [7,5; 8,0] pro 1 000 Personen im Jahr 2019. Dies entspricht einer jährlichen Verringerung um jeweils –2,4 % [–3,2; –1,5] und –1,7 % [–2,5; –0,8]. In höheren Altersgruppen sank die Inzidenzrate stärker. In der Altersgruppe von 20–39 Jahren ist hingegen bei Männern und Frauen ein jährlicher Anstieg der Inzidenzrate von jeweils 2,9 % [1,8; 4,0] und 2,4 % [1,4; 3,3] zu finden. Diese Altersgruppe umfasst circa 7 % aller inzidenten Fälle im Beobachtungszeitraum.
Ergebnisse auf Kreisebene
Grafik 2 und eGrafik 5 zeigen die Ergebnisse für das SIR basierend auf dem räumlich-zeitlichen Regressionsmodell. Es ist zu erkennen, dass die Inzidenzrate, unabhängig von der Alters- und Geschlechtsverteilung der Kreise, in den neuen Bundesländern und im Saarland tendenziell über und im Nordwesten sowie Süden Deutschlands unter dem Bundesdurchschnitt von 2014 liegen. Wie die bundesweite Inzidenzrate sinkt auch das SIR auf Kreisebene über den Beobachtungszeitraum. Demnach lagen im Jahr 2019 deutlich mehr Kreise unter der bundesweiten Inzidenzrate von 2014 als im Jahr 2014 (eGrafik 6). Entsprechend weisen fast alle Kreise ein sinkendes SIR auf, wobei die mediane Verringerung bei –2,2 % jährlich liegt (Grafik 3). In 14 Kreisen ist auch eine steigende Tendenz zu erkennen. In den Kreisen Main-Kinzig-Kreis, Dessau-Roßlau und Gotha stieg das SIR um mehr als 1 % pro Jahr.
Wenngleich das SIR in fast allen Kreisen sank, blieben die Unterschiede zwischen den Kreisen im Wesentlichen bestehen. Im Jahr 2014 lagen die Kreise mit dem niedrigsten Werten circa 20–30 % unter dem Bundesdurchschnitt von 2014, während Kreise mit den höchsten Werten 40–50 % darüber lagen (eGrafik 6). Für das Jahr 2019 zeigte sich ein ähnliches Bild, allerdings verschob sich die Verteilung des SIR in die Richtung niedrigerer Werte. Eine tabellarische Auflistung der Ergebnisse auf Kreisebene ist in eTabelle 2 zu finden.
Diskussion
Basierend auf Daten von jährlich circa 63 Millionen Versicherten der GKV wurden zeitliche und regionale Trends der T2D-Inzidenzrate in Deutschland zwischen 2014 und 2019 untersucht. Bundesweit zeigten sich insgesamt sinkende Inzidenzraten, wobei in der Altersgruppe von 20–39 Jahren ein Anstieg zu verzeichnen war. Mit wenigen Ausnahmen sank die alters- und geschlechtsadjustierte Inzidenzrate auch auf regionaler Ebene in fast allen 401 Kreisen und kreisfreien Städten, wenngleich die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Kreisen größtenteils bestehen blieben.
Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit einer kürzlich publizierten Metaanalyse, die in einigen Ländern mit hohen Einkommen sinkende oder gleichbleibende Inzidenzraten seit den 2010er Jahren identifizierte (6). Auch die vorangegangene Studie mit vertragsärztlichen Abrechnungsdaten für den Zeitraum von 2012–2014 zeigte, dass die T2D-Inzidenzrate bundesweit sank (2). Die positive Entwicklung der T2D-Inzidenzrate könnte auf den Erfolg von Präventionsmaßnahmen zurückzuführen sein (6). Allerdings zeigt sich bei der aktuellen Entwicklung wichtiger T2D-Risikofaktoren keine eindeutige Tendenz. So wurden zwischen 1995 und 2018 rückläufige Trends der Rauchprävalenz beobachtet (10). Die Prävalenz von Übergewicht hat sich zwischen 2012 und 2020 hingegen kaum verändert; die Prävalenz der Adipositas nahm im gleichen Zeitraum sogar zu (11).
Ursachen für die erheblichen regionalen Unterschiede in der T2D-Inzidenz sind vermutlich sozioökonomische Differenzen (12), aber auch umweltbezogene Faktoren wie regionale Variationen in der Luftschadstoffbelastung oder beim Zugang zu Grünflächen (13).
Trotz der positiven Trends der T2D-Inzidenzrate sollte die aktuelle Entwicklung weiterhin intensiv beobachtet werden, insbesondere aufgrund der steigenden Inzidenzraten in jüngeren Altersgruppen. Ergebnisse aus Dänemark verdeutlichen, dass sich die Dynamik auch rasch wieder umkehren kann. Dort wurden zwischen 2011 und 2014 sinkende, zwischen 2014 und 2016 allerdings wieder steigende T2D-Inzidenzraten beobachtet (7). Zu beachten ist auch, dass trotz sinkender Inzidenzraten die Anzahl Betroffener künftig steigen kann, da neben der Inzidenzrate auch die Entwicklung der Lebenserwartung von Menschen mit und ohne T2D die zukünftige Prävalenz beeinflusst (4). Zudem ist noch unklar, wie sich die COVID-19-Pandemie und deren Folgen auf die künftige T2D-Inzidenz auswirken wird. Bisherige Studien legen nahe, dass sich das Risiko für T2D infolge einer COVID-19-Erkrankung erhöhen könnte (14). Auch könnten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gesundheitsrelevante Verhaltensweisen wie die körperliche Aktivität oder den Tabakkonsum nachteilig geändert haben (15). Daten der deutschen Befragung zum Rauchverhalten (DEBRA) zeigten einen steigenden Trend in der Rauchprävalenz seit Ende 2020 (16). Somit wäre es denkbar, dass in den Jahren nach 2020 die T2D-Inzidenz zunehmen wird. Die vorliegende Arbeit kann für künftige Studien, die dies genauer untersuchen, als Vergleich herangezogen werden.
In Anbetracht der hohen aktuellen und zukünftigen Krankheitslast des T2D in Deutschland (17, 18) sollten die Ergebnisse nicht dazu veranlassen, Bemühungen zur effektiven Prävention von T2D zu vernachlässigen. Beispielsweise empfiehlt die Deutsche Diabetes Gesellschaft präventive Maßnahmen auf Populationsebene, wie die Einführung einer nach Nährwertprofil gestaffelten Mehrwertsteuer oder die verpflichtende Kennzeichnung mit dem Nutri-Score für alle Lebensmittel (19). Neben der Prävention sollte auch auf eine adäquate ambulante und stationäre Versorgung von Menschen mit Diabetes geachtet werden, gerade angesichts der hohen Anzahl von stationär behandelten Menschen mit Diabetes (20). Im ambulanten Bereich könnten Menschen mit T2D von der Teilnahme an strukturierten Behandlungsprogrammen („disease management“) profitieren, da diese mit einer verbesserten Versorgungsqualität einhergehen können (21). Durch den demografischen Wandel wird die Anzahl von Menschen mit T2D in hohen Altersgruppen in den kommenden Jahrzehnten vermutlich deutlich zunehmen (4). Die diabetologischen Versorgungsstrukturen sollten entsprechend angepasst und ausgebaut werden.
Stärken und Limitationen
Eine Stärke der vorliegenden Arbeit ist die große Datenbasis, die in Verbindung mit dem räumlich-zeitlichen Regressionsmodell präzise Schätzungen auch auf kleinräumiger Ebene ermöglichte. Im Vergleich zu ähnlichen Studien mit deutschen Daten umfasst diese Arbeit zudem einen längeren Beobachtungszeitraum von sechs Jahren. Allerdings sollten bei der Interpretation der Ergebnisse Limitationen berücksichtigt werden. Zum einen erlauben die zugrunde liegenden Daten lediglich Rückschlüsse zum diagnostizierten T2D. Dies führt zu einer Unterschätzung der Inzidenzrate, da Personen mit unbekanntem T2D (22) nicht berücksichtigt werden. Zum anderen kann dies die zeitlichen Trends beeinflussen, zum Beispiel wenn sich der Anteil des unbekannten T2D an allen T2D-Fällen über den betrachteten Zeitraum verändert. Weiterhin hängt die Datenbasis vom Codierverhalten der abrechnenden Ärzte und Ärztinnen ab. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass zeitliche Veränderungen in der T2D-Inzidenzrate teilweise auf Anpassungen in der Dokumentation basieren, zum Beispiel aus administrativen Gründen. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass in einer älteren Studie mit vertragsärztlichen Abrechnungsdaten circa 200 000 falsch positive T2D-Diagnosen vorlagen (23). Verglichen mit Mitgliedern der privaten Krankenversicherung weisen Personen in der GKV tendenziell einen schlechteren Gesundheitszustand auf (24). Werden die vorliegenden Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung übertragen, kann demnach die Inzidenz überschätzt werden. Da jedoch circa 90 % der Bevölkerung in Deutschland Mitglied in der GKV sind, dürfte diese potenzielle Überschätzung eher gering ausfallen. Der Beobachtungszeitraum in der vorliegenden Studie ist im Vergleich zu bisherigen Studien aus Deutschland vergleichsweise lang, aber dennoch zu kurz, um langfristige Trends abzuschätzen. Beispielsweise stehen in den USA und Dänemark Datenquellen zur Verfügung, die eine Beobachtung der T2D-Inzidenzrate über mehrere Jahrzehnte ermöglichen (7, 25). Derart lange Beobachtungszeiträume sind notwendig, um kurzfristige Trends in den Kontext langfristiger Entwicklungen einzuordnen.
Zusammenfassend deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die Inzidenzrate des T2D in Deutschland zwischen 2014 und 2019 jährlich um circa 2 % sank. Hierbei zeigten sich altersspezifische Unterschiede mit stärker sinkenden Inzidenzraten in den Altersgruppen ab 60 Jahren und sogar steigenden Inzidenzraten in der Altersgruppe von 20–39 Jahren. Beträchtliche regionale Unterschiede in der alters- und geschlechtsadjustierten Inzidenzrate blieben über den betrachteten Zeitraum bestehen. Die Entwicklung sollte weiter beobachtet werden, um einzuordnen, ob sich diese kurzfristigen Trends längerfristig und auch über die COVID-19-Pandemie hinaus fortsetzen. Ursachen und Maßnahmen zur Überwindung anhaltender regionaler Unterschiede in der T2D-Inzidenzrate sollten weiter erforscht werden.
Interessenkonflikt
Die Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 08.09.2022, revidierte Fassung angenommen: 14.12.2022
Anschrift für die Verfasser
Dr. PH Thaddäus Tönnies
Deutsches Diabetes-Zentrum (DDZ)
Auf’m Hennekamp 65, 40225 Düsseldorf
thaddaeus.toennies@ddz.de
Zitierweise
Tönnies T, Hoyer A, Brinks R, Kuss O, Hering R, Schulz M: Spatio-temporal trends in the incidence of type 2 diabetes in Germany—analysis of the claims data of 63 million persons with statutory health insurance from 2014 to 2019. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 173–9. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0405
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eLiteratur, eMethodenteil, eTabellen, eGrafiken, eKasten:
www.aerzteblatt.de/m2022.0405 oder über QR-Code
Biostatistik und Medizinische Biometrie, Medizinische Fakultät OWL, Universität Bielefeld: Dr. rer. nat. Annika Hoyer
Lehrstuhl für Medizinische Biometrie und Epidemiologie (MBE), Fakultät für Gesundheit (Department für Humanmedizin), Universität Witten/Herdecke: Dr. rer. nat. Ralph Brinks
German Center for Diabetes Research, Partner Düsseldorf, München-Neuherberg: Dr. sc. hum. Oliver Kuss
Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät und Universitätsklinikum Düsseldorf, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: Dr. sc. hum. Oliver Kuss
Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland, Fachbereich Data Science und Versorgungsanalysen, Berlin: Ramona Hering, MSc, Dr. PH Mandy Schulz
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