ArchivDeutsches Ärzteblatt11/2023Kampf gegen Antibiotikaresistenzen: Neue finanzielle Anreize

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Kampf gegen Antibiotikaresistenzen: Neue finanzielle Anreize

Haserück, André; Osterloh, Falk

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Während sich Antibiotikaresistenzen weltweit ausbreiten, gibt es weiterhin kaum neue Antibiotika auf dem Markt. Sowohl die EU als auch Deutschland wollen nun Vergütungsanreize setzen, damit die großen Pharmafirmen wieder mehr in die Produktion von Antibiotika investieren.

Foto: mauritius images/Viesturs Davidcuks Alamy
Foto: mauritius images/Viesturs Davidcuks Alamy

Über viele Jahrzehnte haben Antibiotika zahlreichen Infektionskrankheiten ihren Schrecken genommen. Je weiter sich jedoch Resistenzen gegen Antibiotika in der Welt ausbreiten, umso mehr kehrt der Schrecken wieder zurück. Der „Global Burden of Disease Study“ zufolge verstarben im Jahr 2019 schätzungsweise 1,27 Millionen Menschen auf der Welt, weil Antibiotika nicht mehr gewirkt haben (-Ausgabe 29/30, 2022).

Vor diesem Hintergrund forderten die Bundesärztekammer (BÄK) und der Europaabgeordnete Peter Liese (EVP) vor Kurzem von der Politik mehr Einsatz im Kampf gegen antimikrobielle Resistenzen (AMR). „Europa- und weltweit erleben wir eine Zunahme von Antibiotikaresistenzen, die zu einer schleichenden Pandemie führen“, sagte der Präsident der BÄK, Dr. med. (I) Klaus Reinhardt. „Wir sind dazu aufgerufen, uns diesem Thema noch stärker zu widmen, als wir es heute tun.“ Wichtig sei dabei einerseits ein verantwortungsvoller Umgang mit Antibiotika in der Humanmedizin. Hier seien in der Vergangenheit einige Erfolge erzielt worden. Wichtig sei aber zugleich ein Verbot von Reserveantibiotika in der Tiermedizin (Kasten).

Einen Kompromiss finden

„Die Bundesärztekammer hat vor Kurzem wieder den Dialog mit der Bundestierärztekammer aufgenommen, um gemeinsam einen vernünftigen Kompromiss zu finden“, sagte Reinhardt. „Wir sollten versuchen, einen Weg zu finden, Reserveantibiotika auch im Veterinärbereich nicht mehr prophylaktisch einzusetzen.“ Dafür müsse sich auch die Gesellschaft Gedanken darüber machen, ob eine Massentierhaltung noch zeitgemäß sei – sowohl im Hinblick auf den Klimawandel als auch im Hinblick auf das Tierwohl. „Denn wenn wir uns von der Massentierhaltung in ihrer heutigen Form verabschieden würden, könnte auch der Einsatz von Reserveantibiotika in der Tiermedizin deutlich reduziert werden“, so Reinhardt.

Auch der Arzt und gesundheitspolitische Sprecher der EVP, Peter Liese, sprach sich für ein Verbot von Reserveantibiotika in der Tierhaltung aus. „Wir brauchen einen anderen Umgang mit Antibiotika: sowohl in der Tier- als auch in der Humanmedizin“, betonte er. „In der Humanmedizin brauchen wir einen gezielteren Einsatz, indem wir Schnelltests verwenden, bevor wir Antibiotika verordnen.“ Im ambulanten Bereich beginne das gerade erst.

„Wir werden das Problem aber nicht lösen, wenn wir nicht neue Substanzen bekommen“, sagte Liese. „Denn die Resistenzen, die es heute schon gibt, sind ja nun einmal da.“ Unter den derzeitigen Bedingungen könnten Arzneimittelhersteller mit Antibiotika aber kein Geld verdienen, da neue Antibiotika ja als Reservemittel betrachtet und nur im Notfall verordnet würden. „Wir brauchen also Anreizsysteme, damit es sich für die Hersteller lohnt, neue Antibiotika auf den Markt zu bringen“, erklärte Liese. „In den USA gibt es solche Anreize bereits. Und in Europa will die EU-Kommission sie jetzt mit einem Pharmapaket einführen, das sie im März vorstellen will.“

Neues Gutscheinsystem

Offiziell hat die Kommission ihre Ideen bislang noch nicht präsentiert. Aus einem Entwurf des „Pharmaceutical Package“, der dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) vorliegt, geht jedoch hervor, dass sich die Kommission die Einführung eines Gutscheinsystems vorstellen kann.

Dabei würden Arzneimittelhersteller, die ein Antibiotikum mit einem neuen Wirkmechanismus oder eine neue Antibiotikaklasse auf den Markt bringen, einen Gutschein erhalten, mit dem sie die Marktexklusivität eines anderen ihrer Arzneimittel um ein Jahr verlängern können. Alternativ könnten sie diesen Gutschein auch an ein anderes pharmazeutisches Unternehmen verkaufen. Zudem überlegt die Kommission, Packungsgrößen von Antibiotika zu verkleinern, die Verordnungsdauer zu reduzieren und die Nutzung von diagnostischen Tests vor einer Verordnung vorzuschreiben. Rezeptfreie Antibiotika könnten vom Markt genommen werden.

Liese befürwortet die Vorschläge der Kommission. Zwar würde es die Arzneimittelausgaben erhöhen, wenn Generika erst ein Jahr später auf den Markt kommen könnten. „Aber solange es keinen besseren Vorschlag gibt, werde ich die Kommission unterstützen“, sagte er. „Denn wir brauchen dringend neue Antibiotika.“ BÄK-Präsident Reinhardt schlug vor, dass man für ein neues Antibiotikum auch eine virtuelle Verkaufszahl annehmen und den Hersteller auf diese Weise gesondert vergüten könne.

Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will innerhalb des deutschen Gesundheitssystems finanzielle Anreize für die Entwicklung neuer Antibiotika setzen. Mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln (ALBVVG) will der Minister eine Sonderregelung für anerkannte Reserveantibiotika mit neuen Wirkstoffen einführen. Dabei soll es den Herstellern ermöglicht werden, den von ihnen bei Markteinführung gewählten Abgabepreis auch über den Zeitraum von sechs Monaten hinaus beizubehalten. Die Verhandlung mit dem GKV-Spitzenverband zur Höhe des Erstattungsbetrags soll entfallen. Bei Mengenausweitungen durch Indikationserweiterungen sind Preis-Mengen-Vereinbarungen vorgesehen.

Die Pharmaindustrie befürwortet die Ideen der Politik. „Der Bundesgesundheitsminister hat erkannt, dass Margendruck im Arzneimittelsektor auf immer mehr Feldern zu schlechter Medizin führt. So braucht es bei Antibiotika neue Forschungsanreize, damit Ärztinnen und Ärzte auch künftig wirksame Mittel in den Händen haben“, sagte der Präsident des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (vfa), Han Steutel, dem .

Den Vorschlag seitens der EU-Kommission begrüßt er ebenfalls. „Das Konzept eines Gutscheins kann tatsächlich für Dynamik in der Antibiotikaforschung sorgen. In der Diskussion hierzulande ist es bislang aber noch nicht angekommen. Ein Herstellerpreis für resistenzbrechende Antibiotika in Deutschland, der wieder Forschungsanreize setzt, wäre aber sicher ein Schritt nach vorne.“

Komplexe Herausforderung

Auch die Roche Pharma AG bewertet die Idee, nach der Zulassung eines neuen Antibiotikums eine übertragbare Verlängerung der Marktexklusivität zu erhalten, positiv. „Wie weit dieses Modell tatsächlich greifen kann, hängt jedoch von der konkreten Ausgestaltung ab“, betont das Unternehmen. So müsse die übertragbare Verlängerung der Marktexklusivität sowohl für Patente als auch für ergänzende Schutzzertifikate gelten, die die Patente begleiten. Nur dann werde ein wirklich veritabler Anreiz für die Antibiotikaforschung geschaffen.

„Wir erleben eine Zunahme von Antibiotikaresistenzen, die zu einer schleichenden Pandemie führen.“ Klaus Reinhardt, Bundesärztekammer. Foto: Die Hoffotografen
„Wir erleben eine Zunahme von Antibiotikaresistenzen, die zu einer schleichenden Pandemie führen.“ Klaus Reinhardt, Bundesärztekammer. Foto: Die Hoffotografen

Für sich alleine genommen werde diese Maßnahme jedoch nicht ausreichen, um die Entwicklung neuer Antibiotikaklassen zu fördern. „Die Komplexität der Herausforderung erfordert vielschichtige Lösungen, bei der private und universitäre Forschung, Human- und Tiermedizin, die Landwirtschaft und nicht zuletzt auch Behörden und Politik in Deutschland und global an einem Strang ziehen müssen.“ Dazu zähle auch, dass auf nationaler Ebene eine „adäquate Erstattung und Finanzierung von Reserveantibiotika im stationären Sektor sichergestellt ist“. Die geplanten Maßnahmen aus dem ALBVVG seien begrüßenswert, würden jedoch zu kurz greifen, warnt das Unternehmen: „So bleibt unter anderem das grundsätzliche Problem ungelöst, dass die Erstattung für den stationären Einsatz von Reserveantibiotika weder im System der Fallpauschalen noch über Zusatzentgelte in angemessener Weise sichergestellt ist.“

Denn der für den ambulanten Bereich ausgehandelte Erstattungsbetrag gelte nicht automatisch für den stationären Bereich. Das sei insofern „besonders problematisch“, als das diese Substanzen vorwiegend in der stationären Versorgung eingesetzt werden.

Neue Wirkstoffe in der Pipeline

Derzeit engagieren sich vor allem Universitäten und Start-ups in der Entwicklung neuer Antibiotika. Ihnen fehlen jedoch das Know-how und die Finanzmittel, um die Wirkstoffe auch zur finalen Marktreife zu bringen. „Die Landschaft im Bereich der Erforschung und Entwicklung neuer Antibiotikaklassen hat sich verschoben“, bestätigt Roche, weist aber darauf hin, dass die großen forschenden Gesundheitsunternehmen im Jahr 2020 den „AMR Action Fund“ ins Leben gerufen hätten, der durch die beteiligten Unternehmen mit mehr als einer Milliarde US-Dollar gefüllt worden sei. Das Ziel sei nicht nur, die Zusammenarbeit zwischen akademischer und privatwirtschaftlicher Forschung zu fördern, sondern auch bis 2030 zwei bis vier neue Antibiotika zu entwickeln. 

Aktuell befinden sich bei Roche zwei neuartige Antibiotika gegen gramnegative Bakterien in der Phase 1 der klinischen Studie: zum einen eine Substanz zur Behandlung von Carbapenem-resistenten Acinetobacter baumannii (CRAB), das am Standort in Basel entwickelt wurde, und zum anderen ein Prüfmedikament aus der Klasse der Arylomycine gegen multiresistente gramnegative Keime, das aus dem Standort in South San Francisco stammt.

Im Rahmen einer Ende 2021 begonnenen Forschungskooperation mit dem US-amerikanischen Unternehmen Venatorx Pharmaceutical arbeite Roche zudem daran, um Penicillin-Binding-Protein-(PBP-)Inhibitoren gegen Carpapenem-resistente gramnegative Erreger zu identifizieren und zu erforschen. Einen gleichermaßen hohen Stellenwert im Kampf gegen multiresistente Keime nehme auch die Diagnostik ein.

„Wir werden das Problem nicht lösen, wenn wir nicht neue Substanzen bekommen.“ Peter Liese, Europäische Volkspartei. Foto: privat
„Wir werden das Problem nicht lösen, wenn wir nicht neue Substanzen bekommen.“ Peter Liese, Europäische Volkspartei. Foto: privat

Unterdessen betont das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) in einem aktuellen Bericht, dass antimikrobielle Resistenzen nicht nur infolge eines unsachgemäßen Gebrauchs von Antibiotika in der Human- und Tiermedizin entstehen. Eine weitere Ursache – die ebenfalls auf die Gesundheitssysteme der Welt verweist – sei die Verschmutzung der Umwelt durch Krankenhaus- und kommunale Abwässer, durch Abwässer aus der pharmazeutischen Produktion sowie Abflüsse aus der Pflanzen- und Tierzucht. Diese könnten nicht nur resistente Mikroorganismen enthalten, sondern auch antimikrobielle Wirkstoffe, verschiedene Arzneimittel, Mikroplastik, Metalle und andere Chemikalien.

„Mit dem One-Health-Ansatz, der anerkennt, dass die Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen und der Umwelt eng miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, kann AMR erfolgreich bekämpft werden“, betont die UNEP. Der Schlüssel liege in der Vorbeugung. Deshalb ruft die Organisation Regierungen und internationale Akteure dazu auf, die wesentlichen Quellen der Verschmutzung anzugehen – darunter Abwasser, städtische Abfälle sowie Abfälle aus dem Gesundheitswesen und der Pharmaindustrie.

Surveillance in Europa

Ein klares Signal für den vorhandenen Handlungsbedarf: Die Problematik der Antibiotikaresistenzen ist mittlerweile nicht nur bei den Spitzen der Europäischen Union angekommen, sondern beschäftigt auch die Gesundheitsminister der G7. Unter der deutschen G7-Präsidentschaft im Jahr 2022 wurde eine entsprechende Deklaration verabschiedet. Damit sind die G7-Gesundheitsminister weitreichende Verpflichtungen zum Aufbau integrierter Surveillancesysteme, zum sachgerechten Antibiotikaeinsatz, zur Stärkung von Infektionsprävention und -kontrolle, der Bekämpfung der Sepsis sowie zu Forschung und Entwicklung eingegangen.

In Deutschland existiert mit der beim Robert Koch-Institut (RKI) angesiedelten Antibiotika-Resistenz-Surveillance in Deutschland (ARS) eine Infrastruktur für die flächendeckende Datenerfassung, die sowohl die stationäre Krankenversorgung als auch den Sektor der ambulanten Versorgung abdeckt. ARS bildet als nationales Surveillance-Netzwerk auch die Grundlage für die Beteiligung Deutschlands an den internationalen Surveillancesystemen zur Antibiotikaresistenz: am European Antimicrobial Resistance Surveillance Network (EARS-Net) sowie am Global Antimicrobial Resistance Surveillance System (GLASS) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Eine Auswertung aktueller Daten der europäischen Surveillance zeigt, dass bereits viele Erfolge erzielt wurden, aber neue Gefahren drohen (siehe nachfolgenden Artikel).

André Haserück, Falk Osterloh

Antibiotikaresistenzen aus der industriellen Tierhaltung

Umwelt- und Gesundheitsverbände haben jüngst härtere Regeln gegen den Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung gefordert. Knapp 20 Prozent der multiresistenten Keime weltweit stammten aus tierischen Lebensmitteln und resultierten aus übermäßigen oder falschen Dosierungen von Antibiotika in der Tierhaltung, heißt es in einem Positionspapier von 23 Verbänden. Darauf seien jährlich etwa 1,3 Millionen Todesfälle weltweit zurückzuführen. Das von Germanwatch und der Deutschen Umwelthilfe initiierte Bündnis äußerte sich anlässlich des Inkrafttretens der EU-Tierarzneimittelversorgung vor einem Jahr. Aus Sicht der Organisationen werden die in der Verordnung festgelegten Ziele derzeit konterkariert. Statt auf eine Reduzierung des Antibiotikaverbrauchs um 50 Prozent bis 2030 deuteten Prognosen derzeit auf einen Anstieg um etwa 6,5 Prozent in dem Zeitraum hin. Deutschland gehöre mit im Schnitt 73 Milligramm Antibiotika pro Kilogramm Fleisch zu den Höchstverbrauchern der EU, kritisieren die Organisationen. Die Petition wurde den Angaben zufolge unter anderem an Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geschickt. Darin werden auch gesetzliche Regelungen angemahnt, die etwa den Einsatz von Reserveantibiotika, die bei schweren Infektionen verabreicht werden, verbieten oder zumindest strenger reduzieren. Denn so könnten sich Resistenzen auf den Menschen übertragen. Zudem dürften Antibiotika Tieren nicht vorsorglich verabreicht werden, so die Verbände.

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