ArchivDeutsches Ärzteblatt11/2023Interview mit Prof. Dr. med. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): „Die evidenzbasierte Medizin hat einen zu kleinen Stellenwert“

POLITIK: Das Interview

Interview mit Prof. Dr. med. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): „Die evidenzbasierte Medizin hat einen zu kleinen Stellenwert“

Beerheide, Rebecca; Lau, Tobias; Osterloh, Falk; Schmedt, Michael

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Das IQWiG verfasst wissenschaftliche Gutachten, die sich nach den Vorgaben der evidenzbasierten Medizin richten. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt zieht der scheidende Leiter des Instituts, Prof. Dr. med. Jürgen Windeler, Bilanz und erklärt, wie viel Gehör die Wissenschaft in der Politik findet.

Herr Professor Windeler, wie fällt Ihre Bilanz nach zwölf Jahren Leitung des IQWiG aus? Worauf schauen Sie gerne zurück, worauf nicht so gerne?

Jürgen Windeler war nach seinem Medizinstudium in Göttingen unter anderem als Hochschuldozent und Leitender Arzt beim Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) tätig. Seit 2010 leitet er das IQWiG und verlässt es nun auf eigenen Wunsch. Fotos: Thorsten Maybaum
Jürgen Windeler war nach seinem Medizinstudium in Göttingen unter anderem als Hochschuldozent und Leitender Arzt beim Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) tätig. Seit 2010 leitet er das IQWiG und verlässt es nun auf eigenen Wunsch. Fotos: Thorsten Maybaum

Windeler: Es gibt nichts, auf das ich nicht gerne zurückblicke. Ich bin sehr zufrieden damit, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IQWiG leisten. Das sind alles tolle Menschen, die unheimlich engagiert arbeiten und so dazu beitragen, dass sich das Renommee des Instituts im In- und Ausland sehr erfreulich entwickelt hat. Positiv ist auch, dass wir uns mit den anderen wissenschaftlichen Akteuren im System, zum Beispiel den Fachgesellschaften, sehr gut austauschen. Noch nicht zufrieden bin ich mit dem Bekanntheitsgrad des IQWiG in der Fachwelt: Viele Ärztinnen und Ärzte haben noch nie von uns gehört. Zudem bin ich nicht zufrieden mit dem Impact, den unsere Arbeit auf die politischen Entscheidungen außerhalb des Gemeinsamen Bundesausschusses, des G-BA, hat. Ich würde mir sehr wünschen, dass die evidenzbasierte Medizin viel stärker in die politischen Entscheidungen Eingang findet – gerade jetzt, da wir einen Wissenschaftler als Gesundheitsminister haben. Man wird den Eindruck nicht los, dass es bei der Gesundheitspolitik am Ende doch in erster Linie ums Geschäft geht.

Müssten Sie dann nicht im politischen Geschäft auch präsenter sein?

Windeler: Ich bin nicht traurig, dass das Institut in Köln sitzt und nicht in Berlin. Allerdings stimmt es, dass das, was wir tun, auf der politischen Ebene nicht immer so wahrgenommen wird, wie ich es mir wünschen würde. Wenn man sich die Gesetzgebung der letzten zwölf Jahre anguckt, ist aus meiner Sicht der Stellenwert der evidenzbasierten Medizin, für die das IQWiG ja steht, immer kleiner geworden. Und das stört mich.

Können Sie Beispiele nennen?

Windeler: Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, das AMNOG, (es trat 2011 in Kraft, Anmerkung der Redaktion) wird in erster Linie als das Gesetz wahrgenommen, mit dem mehr Transparenz und mehr Wissenschaftlichkeit ins System gekommen sind. Das stimmt auch. Und ich halte das AMNOG für ein wirklich gutes Gesetz. Zugleich wurde es mit dem AMNOG aber praktisch unmöglich gemacht, Arzneimittel wieder aus der Versorgung auszuschließen – auch Arzneimittel, für die es keinen Nutzenbeleg gibt. Und die Schlüsse, die das System aus den frühen Nutzenbewertungen zieht, sind nicht konsequent. Denn es wird an keiner Stelle gefragt, ob man die Arzneimittel, die dort keinen Zusatznutzen zugesprochen bekommen haben, überhaupt im System braucht. Sind diese Arzneimittel aber erst einmal drin, werden sie so gut wie nie wieder aus dem System herausgenommen. Das gilt für nichtmedikamentöse Methoden umso mehr.

War diese Regelung politisch beabsichtigt?

Windeler: Ja, das war Absicht. Der G-BA hat das Bundesgesundheitsministerium, das BMG, damals deswegen sogar verklagt. Der G-BA wollte Arzneimittel ohne ausreichenden Nutzenbeleg explizit aus der Versorgung ausschließen, was das BMG ablehnte. Als der Bundesausschuss dann vor dem Bundessozialgericht Recht erhielt, änderte das BMG einfach das Gesetz. Absicht war es also auf jeden Fall. Über das Motiv kann ich natürlich nur spekulieren. Der Industriestandort Deutschland spielte dabei gewiss eine Rolle. Oder der Wunsch von Politikern, keine negativen Entscheidungen vertreten zu müssen. Auch Herr Lauterbach betont ja stets, dass es zu keinen Leistungskürzungen kommen wird.

Wäre es aus Ihrer Sicht denn sinnvoll, Arzneimittel ohne Zusatznutzen aus der Versorgung auszuschließen?

Windeler: Ja, natürlich. Wieso braucht ein System etwas Neues, das keinen Fortschritt gegenüber dem Alten bietet? Man würde damit jetzt keine großen Summen einsparen. Man sollte aber an möglichst vielen Stellen im System die Effizienzreserven heben. Das hat auch einen Effekt – und wenn es nur der ist, deutlich zu machen, dass rationale Entscheidungen im Sinne der Patienten getroffen werden können.

Gibt es denn Länder, die das besser machen als Deutschland?

Windeler: Ja, Schweden und Dänemark, zum Beispiel. Dort wird zunächst geschaut, welchen Bedarf an Arzneimitteln es gibt. Und dann wird die Frage gestellt: Brauchen wir ein achtes Statin im Markt? Oder einen siebten Betablocker? Ein solches Vorgehen halte ich für richtig. Und dabei kann man die Bedarfe gerne auch großzügig formulieren.

Könnte das IQWiG entscheiden, welche Bedarfe es in Deutschland gibt?

Windeler: Das IQWiG könnte beraten, ebenso das Robert Koch-Institut oder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, der G-BA könnte entscheiden. Die Industrie würde dann natürlich sagen: Drei Statine sind zu wenig. Zum einen gibt es vielleicht Patienten, die alle drei nicht vertragen. Und zum anderen belebt Vielfalt das Geschäft und eine internationale Konkurrenz verhindert monopolistische Preise. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber acht Statine braucht man sicher nicht.

Wie könnte man die Industrie denn dazu bringen, einem solchen System zu folgen?

Windeler: Ich bin der Letzte, der sagt, dass die Industrie nichts verdienen darf. Aber man könnte den Verdienst auf andere Weise erzeugen: indem man zum Beispiel für Arzneimittel das Doppelte zahlt, die wirklich gebraucht werden, wie Antibiotika. Dieses Geld könnte man dann bei den Arzneimitteln einsparen, die keinen Zusatznutzen haben.

Hat sich aus Ihrer wissenschaftlichen Sicht das System der frühen Nutzenbewertung bewährt?

Windeler: Ja, uneingeschränkt. Am Anfang hieß es, die Hersteller würden die Daten nicht liefern, die für die frühe Nutzenbewertung gebraucht werden. Das ist nicht eingetreten. Andere meinten, die frühe Nutzenbewertung finde so früh statt, dass es noch keine aussagekräftigen Informationen über die Arzneimittel gebe. Auch das ist vielfach nicht der Fall. Denn auch für die Zulassung sollten ja schon vernünftige Daten vorliegen.

In circa 30 Prozent der Fälle entscheidet der G-BA bei der frühen Nutzenbewertung anders als das IQWiG. Können Sie das aus wissenschaftlicher Sicht nachvollziehen?

Windeler: Ich kann es nachvollziehen, zumal die Abweichungen meist nur eine Ausmaßstufe betreffen und gleichmäßig in beide Richtungen erfolgen. Aber der G-BA ist auch kein wissenschaftliches Institut, sondern ein Beschlussgremium, in dem unterschiedliche Interessen oder Sichtweisen ausbalanciert werden müssen. Bei der frühen Nutzenbewertung geht es oft darum, einen Überlebensvorteil gegenüber den zu erwartenden Nebenwirkungen zu gewichten. Da gibt es Ermessensspielräume – je nachdem, ob man den Überlebensvorteil höher gewichtet als die Nebenwirkungen. Der G-BA mag keine Extreme. Wenn wir einen erheblichen Zusatznutzen feststellen, schwächt der G-BA diesen in der Regel zu einem beträchtlichen Zusatznutzen ab. Umgekehrt folgt der G-BA uns fast nie, wenn wir einen geringeren Nutzen im Vergleich zur Standardtherapie festgestellt haben.

Als Leiter des IQWiG können Sie ja einen Zeitraum von zwölf Jahren überblicken. Hat sich die Qualität der Daten in diesem Zeitraum verändert?

Windeler: Ja, die Qualität der Daten ist deutlich besser geworden, wenn auch nicht unbedingt die Qualität der Evidenz. Die gesetzliche Verpflichtung des AMNOG hat dazu geführt, dass die pharmazeutischen Unternehmen ihre Daten transparent gemacht haben. Das gibt es in keinem anderen Land der EU. Wenn wir mit Schwesteragenturen anderer EU-Länder sprechen, können die gar nicht glauben, dass die Hersteller tatsächlich diese Daten vorlegen.

Auf EU-Ebene wird ja schon seit Längerem über die Harmonisierung der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel diskutiert. Wie ist da der Stand?

Windeler: Das ist ein bisschen Kaffeesatzleserei: Wir arbeiten ja schon seit mehr als zehn Jahren in mehreren Projekten an diesem Thema. Die EU hat die Umsetzung in einem Beschluss konkretisiert. Frühestens 2025 soll es losgehen, zunächst mit Onkologika. Ich vermute, dass es noch bis 2030 dauern wird, bis das System einigermaßen ausgereift ist. Die EU-Länder waren zunächst von der Idee ziemlich begeistert. Jetzt, wenn es konkret wird, ist die Begeisterung bei manchen etwas abgekühlt. Und die Industrie ist auch nicht glücklich. Sie hatte zuerst gedacht, sie bräuchte nur noch ein Dossier zu erstellen und hätte damit dann die ganze EU abgedeckt. Das ist natürlich nicht so. Dafür sind die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder viel zu unterschiedlich. Derzeit sieht es so aus, dass sich die Mitgliedsländer zunächst darüber beraten, wie viele Teildossiers die Hersteller vorlegen müssen, damit sie alle Anforderungen der verschiedenen Gesundheitssysteme abdecken. Das kann am Ende nur ein einziges Dossier sein, aber auch eines mit drei oder gar sechs Teilen. Klar ist in jedem Fall, dass die beiden Agenturen aus Deutschland und Frankreich bei allem, was kommen wird, eine wichtige Rolle spielen werden. Das IQWiG ist dafür auch sehr gut aufgestellt und wird seinen Beitrag liefern können.

Wird das IQWiG dann auch größer werden?

Windeler: Die Bewertungen, die wir künftig für die EU machen, machen wir jetzt schon für Deutschland. Da wird sich also gar nicht so viel ändern. Allerdings wird der Koordinationsaufwand viel größer werden, denn wir müssen uns mit allen anderen abstimmen. Insofern gehe ich davon aus, dass das IQWiG weiter wachsen wird. Spannend wird dann auch noch die Frage sein, wie das deutsche System mit der Nutzenbewertung aus der EU umgeht.

Bis wann muss sich die deutsche Politik entscheiden, wie sie die EU-Nutzenbewertung ins eigene System integriert?

Windeler: Bis spätestens 2025 muss das geregelt sein. Bisher sind mir aber keine Aktivitäten des BMG hierzu bekannt.

Wie hat sich die Zahl der Mitarbeitenden im IQWiG während ihrer Amtszeit verändert?

Windeler: Heute arbeiten etwa 280 Menschen im IQWiG, viele davon in Teilzeit. Damit hat sich die Zahl der Mitarbeitenden seit 2010 fast verdreifacht. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen hat sich die Zahl der Aufträge erhöht. 2010 haben wir 20 Aufträge bearbeitet, 2022 waren es über 200. Und zum anderen sind viele neue Aufgaben dazugekommen. Zum Beispiel machen wir jetzt auch Evidenzrecherchen für Leitlinien.

Haben Sie denn das Gefühl, dass Sie mit Ihrer Arbeit auch durchdringen?

„Das System der frühen Nutzenbewertung hat sich uneingeschränkt bewährt.“
„Das System der frühen Nutzenbewertung hat sich uneingeschränkt bewährt.“

Windeler: Wenn es darum geht, wissenschaftliche Arbeiten für Auftraggeber wie den G-BA zu schreiben: ja. Weit überwiegend folgt der G-BA den Empfehlungen des IQWiG bei der frühen Nutzenbewertung, fast immer bei den Methodenbewertungen. Auch bei der Erarbeitung von Leitlinien durch die medizinischen Fachgesellschaften werden unsere Evidenzberichte verwendet. Und die Zuwächse bei den Zugriffsraten auf unsere Plattform gesundheitsinformationen.de sind nahezu exponentiell. Da sind wir sehr zufrieden.

Enthält diese Plattform auch Informationen für Ärztinnen und Ärzte?

Windeler: Wir wissen, dass insbesondere auch Hausärztinnen und Hausärzte die Plattform regelmäßig nutzen – da wir die Informationen niedrigschwellig und wissenschaftlich valide zusammenstellen. Die Hausärzte stehen bei uns ganz klar auf der Zielgruppenagenda.

Müsste die evidenzbasierte Medizin noch stärker in der Ausbildung abgebildet werden?

Windeler: Selbstverständlich! Entsprechende Inhalte sind ja auch in Ansätzen in den Curricula enthalten. Es ist aber schwierig, den richtigen Zeitpunkt für die Vermittlung evidenzbasierter Medizin im Studium zu finden. Aus meiner Sicht wäre es am besten, wenn man die Inhalte in die einzelnen klinischen Fächer mit integriert und nicht als Block gesondert vermittelt.

Bleibt Ihnen denn neben Ihren Aufgaben für den G-BA noch Zeit für andere wissenschaftliche Tätigkeiten?

Windeler: Es ist sehr wichtig, dass wir uns Zeit nehmen können, unsere methodische Arbeit weiterzuentwickeln, unsere Vorgehensweise zu evaluieren und zu verbessern. Die Ergebnisse dieser Arbeit haben wir mehrfach in hochrangigen Zeitschriften publiziert. Zudem haben wir vom G-BA auch den Auftrag, in eigenen Themenfeldern zu forschen, die dann auch vom G-BA übernommen werden. Zum Beispiel haben wir uns mit der Gefährdung durch intrakranielle Stents befasst und eine Evidenzkartierung zum Einsatz des CT bei der KHK-Diagnostik vorgelegt.

Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?

Windeler: Ich wünsche dem IQWiG, dass es sich so gut weiterentwickelt, wie es das in den letzten zwölf Jahren getan hat und dass die Menschen, die dort arbeiten, weiterhin den Raum bekommen, um ihre Motivation auszuleben und gute Arbeit zu leisten. Ich bin guten Mutes, dass dies auch so bleiben wird. Und ich wünsche mir, dass das System künftig stärker an rationalen Entscheidungen zugunsten der Betroffenen ausgerichtet wird als an den Interessen der Industrie.

Das Interview führten Rebecca Beerheide, Tobias Lau, Falk Osterloh und Michael Schmedt

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