

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will der elektronischen Patientenakte und dem E-Rezept mit neuen Gesetzen in diesem Jahr zum Durchbruch verhelfen. Die nun vorgestellte Digitalstrategie seines Hauses soll den Weg in ein zeitgemäßes Gesundheitswesen aufzeigen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will fertigstellen, was er vor 20 Jahren begonnen hat: Anfang des Jahrtausends war er Teil eines Teams, das Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingesetzt hatte und die elektronische Gesundheitskarte erdachte. Auf ihr sollten all die Daten gespeichert werden, die heute für die elektronische Patientenakte (ePA) vorgesehen sind. Das war 2003; 2023 haben immer noch weniger als ein Prozent der gesetzlich Versicherten eine ePA. Warum schaffen es demgegenüber Länder wie Österreich, innerhalb kurzer Zeit eine nahezu vollständige Abdeckung zu erreichen? Aus Lauterbachs Sicht hat das einen recht einfachen Grund: Versicherte erhalten ihre Akte dort automatisch von ihrer Krankenkasse und müssen aktiv widersprechen, falls sie keine haben wollen – das sogenannte Opt-out-Verfahren. In Deutschland ist es bisher andersherum, Versicherte müssen selbst aktiv werden. Das will Lauterbach seit Langem ändern, nun hat er neben der Digitalstrategie seines Hauses die Eckpunkte für zwei geplante Gesetze vorgelegt, die unter anderem diesen Punkt des ePA-Zugangs regeln sollen.
ePA für alle
Den Anfang soll in wenigen Wochen ein bisher nur schlicht als Digitalgesetz betitelter Entwurf machen. Zentraler Punkt ist hier das Opt-out-Verfahren für die ePA: „Das ist ein Automatismus. Man muss sich dann nicht mehr umständlich bewerben“, erklärte Lauterbach bei der Vorstellung in Berlin. Dabei sollen die Versicherten vom Smartphone aus auf ihre Daten zugreifen und sie managen können. Das sogenannte feingranulare Zugriffsmanagement, bei dem Versicherte bis auf die Ebene einzelner Dokumente entscheiden können, welche Ärztin oder welcher Arzt sie sehen oder eben nicht sehen kann, soll erhalten bleiben. Das war den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten besonders wichtig.
Den Durchbruch soll das Gesetz auch für das E-Rezept bringen: Ab kommendem Jahr soll seine Nutzung verbindlich sein und es dann sowohl via Gesundheitskarte als auch über die ePA-App eingelöst werden können. Die Verknüpfung von ePA und E-Rezept soll künftig auch die Arzneimittelsicherheit erhöhen: Ein vollständiger, weitestgehend automatisch erstellter Medikationsplan soll ungewollte Wechselwirkungen vermeiden. Innovationen in der Versorgung sollen assistierte Telemedizin in Apotheken und den Gesundheitskiosken bringen. Gleiches gilt für digitalisierte Disease-Management-Programme (dDMG), die das Bundesgesundheitsministerium (BMG) als digital unterstützte DMG mit integralen digitalen Bestandteilen wie Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) konzipieren will.
Keine Lösung für alte Daten
Noch nicht geklärt wurde indes, ob und falls ja, wie Befunde und Diagnosen aus vordigitalen Zeiten in die ePA kommen: „Die Frage, wie alte Daten hineinkommen, ist noch nicht gelöst“, räumte Lauterbach ein. Priorität hätten erst einmal aktuelle Daten.
Der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) befürchtet, dass das bereits ein Menetekel ist: Man müsse Ziele, Abläufe und die Versorgungsrealität in den Praxen ausreichend einplanen und abbilden, hieß es in einer Mitteilung. Das Vorgehen der Politik erinnere „fatal an die Fehler der vergangenen Jahre bei der Digitalisierung, in denen Anwendungen teilweise unausgereift als verbindlich erklärt wurden.“ Das gilt auch für die Finanzierung, wie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) betont: Die Betriebskostenfinanzierung digitaler Lösungen sei nach wie vor ungelöst – deshalb blicke man gespannt auf die Frage, wie die Umsetzung dieser Digitalisierungsbeschleunigung finanziell sichergestellt wird. Die KBV gab weiter zu bedenken, dass konkrete inhaltliche Vorgaben, die daraus abgeleiteten technischen Festlegungen und ihre datenschutzkonformen Implementierungen in den IT-Systemen noch fehlen. Deshalb sei das erklärte Ziel einer verpflichtenden Einführung der ab 1. Juli 2024 „für jeden erkennbar unrealistisch“.
Dabei will Lauterbach bereits in wenigen Wochen Referentenentwürfe vorlegen, woraufhin die gematik umgehend mit der Spezifikation des Opt-out-Verfahrens beginnen soll. Einen dahingehenden Beschluss hat die Gesellschafterversammlung der gematik nach Informationen des Deutschen Ärzteblatts (DÄ) bereits einige Tage vor der Vorstellung des Digitalpakets getroffen.
Möglicherweise folgen diesem Beschluss nicht mehr allzu viele. Denn mit dem Digitalgesetz will Lauterbach auch vollenden, was ein anderer, diesmal sein direkter Vorgänger, begonnen hatte: Jens Spahn (CDU) hatte 2019 per Gesetz 51 Prozent der gematik-Anteile ins BMG geholt und so dafür gesorgt, dass sein Haus Entscheidungen gegen die Gesellschafterversammlung, also die Vertreterorganisationen der Selbstverwaltung, durchdrücken konnte. Lauterbach will nun auf 100 Prozent aufstocken und die Selbstverwaltung damit endgültig vor die Tür setzen. Die „geplante vollständige Verstaatlichung“ der Gematik sei „der endgültige Bruch mit den bisherigen Gesellschaftern, den Medizinern und Krankenkassen“, kritisierte der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Tino Sorge. „Ausgerechnet diese sollen bei zukünftigen digitalen Tools außen vor bleiben, obwohl sie die eigentlichen Anwender sind.“ Er setze seinen Weg fort, wichtige Akteure im Gesundheitswesen auszuschließen.
Macht abgeben sollen auch zwei andere Institutionen, die dem BMG in der Vergangenheit oft unbequem waren: Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI). Er werde ihnen ihre „klassischen Vetorechte“ entziehen, erklärte Lauterbach. Das bisherige Einvernehmen der beiden Behörden soll dann keine Voraussetzung mehr für Neuregelungen sein. Stattdessen soll künftig ein interdisziplinärer Ausschuss, der unter anderem mit Vertreterinnen und Vertretern von BfDI, BSI, Medizin und Ethik besetzt ist, die gematik bei allen Entscheidungen mit Empfehlungen zu Fragen von Datenschutz, -sicherheit und -nutzung sowie der Anwenderfreundlichkeit beraten. So verteile er die Verantwortung auf mehrere Schultern.
Nicht nur beim Stand der digitalen Versorgung ist Deutschland bereits um Jahre zurückgefallen, auch in der Forschung droht der Standort international zusehends den Anschluss zu verlieren, warnte Prof. Dr. med. Michael Hallek, Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit, bei der Vorstellung der Pläne. Hier soll das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) die Wende bringen, das nach Lauterbachs Aussage bedeutende Vereinfachungen bei Datenzugang und -nutzung beinhalten wird.
Weg von den Datensilos
So sollen zum Beispiel Krebsregister-, Genom- und Abrechnungsdaten verknüpft werden können. Über Forschungspseudonyme werde es künftig möglich sein, diese Daten eines Patienten zusammenzufügen. „Dann sind wir weg von den Datensilos, die wir heute haben“, erklärte Lauterbach. Dazu soll eine zentrale Datenzugangs- und Koordinierungsstelle aufgebaut werden, die den Zugang zu dezentral gespeicherten Forschungsdaten aus verschiedenen Quellen ermöglicht. Auch hier will das BMG den Datenschutz reformieren: Die 16 verschiedenen Landesdatenschutzbehörden stellen im Detail oft verschiedene Anforderungen, was es Forschenden enorm erschwert, länderübergreifend zu arbeiten, wie Onkologe Hallek erklärte. Deshalb werde künftig die federführende Datenschutzaufsicht für bundesländerübergreifende Forschungsvorhaben auf alle Gesundheitsdaten erweitert. Die datenschutzrechtliche Aufsicht für länderübergreifende Forschungsvorhaben im Gesundheitswesen soll dann nur noch durch eine Landesdatenschutzbehörde erfolgen.
Das Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) soll weiterentwickelt werden. Auch die forschende Industrie soll dort künftig Anträge auf Datenzugang stellen können, wobei für die Genehmigung der Nutzungszweck entscheidend sein soll, nicht der Absender. Über das FDZ sollen dann auch pseudonymisierte Daten aus der ePA abrufbar sein.
Entscheidende Detailfragen
Die Datenfreigabe soll das parallel vorgestellte Digitalgesetz regeln. Fest steht aber bereits, dass sie ausschließlich durch die Patienten erfolgen soll. Der Datenfluss ist also von Praxis oder Krankenhaus zu den Patienten (die ihre Daten in der App ihrer jeweiligen Krankenkasse speichern) und dann gegebenenfalls von dort zu Dritten – die oder die Krankenkassen haben damit keinen Zugriff auf Daten oder IT-Systeme der Leistungserbringenden.
Hier wird es auf Detailregelungen ankommen. Man brauche jetzt Strukturen und Prozeduren, welche Datensicherheit, die Einhaltung ethischer Standards und die Wahrung der Grundrechte von Patienten beim Datenhandling, der Verarbeitung und dem Datenzugang gewährleisten, forderte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. med. (I) Klaus Reinhardt: „Das ist aufwendig, aber eben auch notwendig, wenn wir zu langfristig tragfähigen Regelungen kommen wollen.“
Ob Lauterbach – anders als damals Ulla Schmidt – mit dem Vorhaben erfolgreich ist, soll sich künftig eindeutig beantworten lassen. Denn er knüpft seine Gesetzesvorhaben an quantifizierbare Erfolgskriterien: So sollen 80 Prozent der gesetzlich Versicherten bis 2025 eine ePA haben und bis Ende 2025 ebenfalls 80 Prozent der ePA-Nutzer, die in medikamentöser Behandlung sind, über eine digitale Medikationsübersicht verfügen. Bis 2026 wiederum soll es in mindestens 60 Prozent der hausärztlich unterversorgten Regionen eine Anlaufstelle für assistierte Telemedizin geben.
Die Zeitpläne sind Teil der Digitalisierungsstrategie des BMG, die zeitgleich mit den beiden Gesetzesvorhaben vorgestellt wurde. Sie soll nicht nur einen „handlungsleitenden Kompass mit der Perspektive 2030“ bieten, wie Lauterbach darin schreibt. Vielmehr formuliert sie auch relativ konkrete kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen für die drei Handlungsfelder Versorgungsprozesse, Datengenerierung und -nutzung in Versorgung und Forschung sowie Technologien und Anwendungen. Demnach soll beispielsweise die ePA „kontinuierlich so weiterentwickelt werden, dass sie als Grundlage für datenbasierte Mehrwertanwendungen dienen kann“. Dabei soll sie „perspektivisch zu einem Sozialgesetzbuch-übergreifenden Portal ausgebaut“ werden, das neben Diensten der Kranken- und Pflegeversicherung auch solche der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung integriert, wie es darin heißt. Der Zugriff soll langfristig über eine digitale Identität erfolgen – auch hier planen BMG und gematik, nach langer Ereignislosigkeit noch in diesem Jahr bedeutende Fortschritte (siehe DÄ 51-52/2022). Eine besondere Rolle werde dabei in Zukunft die Anwenderfreundlichkeit spielen und zum Zulassungskriterium aufgewertet werden.
Vom Gelingen dieser Digitalisierungsvorhaben hänge nicht weniger ab als die Frage, ob Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesen zu anderen Industrienationen aufschließen kann. Das werde nicht leicht. „Aber wir können ja nicht einfach aufgeben“, sagte Lauterbach. Man müsse nun „mit einem Turboschub aufholen“. Hallek betonte speziell mit Blick auf die Forschung, welche Bedeutung den Reformen zukomme: „Ich erhoffe mir einen großen Durchbruch und bin umgekehrt pessimistisch, falls wir es nicht schaffen, dass wir dann endgültig den Anschluss verlieren.“ Tobias Lau
Was bedeuten die Pläne für Ärzte?
Ab Januar 2024 soll das E-Rezept „verbindlicher Standard“ sein. Papierrezepte bleiben allerdings erhalten, da einige Verordnungsbereiche wie Betäubungsmittelrezepte oder Heil- und Hilfsmittelverordnungen vorerst weiter auf Papier ausgestellt werden.
Bei der ePA hingegen werde sich aus ärztlicher Sicht nicht allzu viel ändern, beteuerte Lauterbach: „Die Dokumentation der Behandlung ist ja ohnehin Teil der ärztlichen Tätigkeit.“ Es werde Software geben, die eine automatische Einspeisung der Daten aus den Praxisverwaltungs- und Krankenhausinformationssystemen (PVS und KIS) gewährleisten. „Der Datentransfer vom KIS oder PVS in die ePA dürfte nach meiner Einschätzung unkompliziert zu lösen sein“, sagt Prof. Dr. med. Hoffmann, Leiter der Stabsstelle für medizinische Prozessentwicklung am Klinikum Darmstadt und Inhaber des Lehrstuhls für Digital Health an der Apollon Hochschule Bremen. Es handele sich um Cloudtechnologien, die anderswo bereits gut funktionieren und nur geeignete Schnittstellen und Berechtigungskonzepte erfordern. Dabei sei es am besten, wenn Leistungserbringende weiterhin ihre Patientenakten führen, Patienten eine eigene ePA besitzen und die Datensätze lediglich synchronisiert werden, erklärt er:
„Wenn es gelingt, eine ePA zu etablieren, auf die Leistungserbringende ohne großen Aufwand zugreifen können, dann ist das eine immense Arbeitserleichterung.“
Gleiches gelte für den automatisierten Medikationsplan: „Ich erinnere mich an meine Zeit als Oberarzt, als ich nicht selten bis zu 45 Minuten benötigt habe, um einen einzigen Medikationsplan abzutippen.“ Auch unnötige Doppeluntersuchungen, beispielsweise Röntgen, könnte man dann oft vermeiden.
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