MEDIZIN: Kurzmitteilung
„Fracture Liaison Service“ zur Sekundärprävention von Osteoporose: eine monozentrische Beobachtungsstudie
A fracture liaison service for the secondary prevention of osteoporosis
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In Deutschland leiden knapp sechs Millionen Menschen an Osteoporose (80 % Frauen) (1). Da die Osteoporose klinisch stumm ohne Krankheitssymptome verläuft, manifestiert sie sich zumeist mit Auftreten der ersten Fraktur. Im europäischen Vergleich weist das deutsche Gesundheitssystem Optimierungspotenzial bei der Primär-, Sekundär- und Tertiärprophylaxe auf. Während andere europäische Länder (Großbritannien, Finnland) nahezu flächendeckend Frakturnetzwerke zur strukturierten Osteoporosediagnostik etabliert haben, bleibt in Deutschland die Rate an Osteoporosediagnostik und -therapie gering (1). Nach einer Fragilitätsfraktur wird hier bei etwa 14 % der Verletzten eine Osteoporosediagnostik durchgeführt und nur 21 % der Patientinnen und Patienten mit Osteoporose beziehungsweise 15 % der Patientinnen und Patienten mit Osteoporose-assoziierten Frakturen erhalten eine entsprechende medikamentöse Therapie (2). Dieses Missverhältnis zwischen zunehmenden Fragilitätsfrakturen und der selten durchgeführten Osteoporosediagnostik/-therapie verdeutlicht die eklatante Versorgungslücke im deutschen Gesundheitssystem bezüglich der Behandlung des Krankheitsbildes der Osteoporose.
An einem universitären Traumazentrum wurde im Jahr 2016 ein Koordinator-basierter „Fracture Liaison Service“ (FLS) etabliert. Die Auswirkung der Etablierung des FLS wurde in dieser Studie analysiert.
Methoden
Der Effekt des FLS wurde prospektiv über 25 Monate (11/2016–11/2018) untersucht. Eingeschlossen wurden Patientinnen und Patienten mit Frakturen (Frauen über 50 beziehungsweise Männer über 60 Jahre), die an der Klinik (Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie der Universitätsmedizin Göttingen) behandelt wurden. Mit Einverständnis der Patientinnen und Patienten wurde eine Osteoporosediagnostik an der Universitätsklinik beziehungsweise in einer kooperierenden osteologischen Praxis eingeleitet. Die Betroffenen erhielten im Anschluss eine konkrete Therapieempfehlung nach den Richtlinien des Dachverband Osteologie (DVO) (www.dv-osteologie.org). Nach Abschluss des Studienzeitraumes wurden die Untersuchungsergebnisse analysiert, alle Studienteilnehmenden kontaktiert und zur Einnahme der empfohlenen Osteoporosemedikamente befragt. Es wurde eine deskriptive Statistik erstellt.
Ergebnisse
Im Beobachtungszeitraum wurden 400 Patientinnen und Patienten mit insgesamt 492 Frakturen erfasst. Bei 82,6 % der eingeschlossenen 304 Betroffenen wurde die vollständige Diagnostik durchgeführt (80 % Frauen, 20 % Männer). Der Altersdurchschnitt betrug 71,5 Jahre (± 10 Jahre).
Bei 31,1 % der Erkrankten wurde eine Osteoporose und bei 53,4 % eine Osteopenie diagnostiziert. Grafik 1 und 2 zeigen die wesentlichen Frakturen mit den jeweiligen Knochendichtewerten. Bei 42,8 % (n = 130) der Betroffenen bestand nach DVO-Richtlinien die Indikation zur Basistherapie. Diese umfasst die Einnahme von Vitamin D und Kalzium sowie eine knochengesunde Lebensweise. 42,1 % (n = 128) erfüllten die Kriterien für eine spezifische Therapie. Hier werden antiresorptiv und osteoanabol wirkendende Medikamente unterschieden. Von den 258 Behandelten nahmen vor der FLS-Diagnostik 10,8 % (n = 14) ein Basismedikament und 5,5 % (n = 7) eine spezifische Medikation ein. In der 1-Jahres-Evaluation, die auf Selbstauskunft der Erkrankten basierte, zeigte sich insgesamt eine Steigerung hinsichtlich der Medikamenteneinnahme. 41,5 % nahmen die Basismedikamente ein. Die empfohlene spezifische Medikation erhielten jedoch weiterhin nur 35 der 128 Erkrankten (27,3 %). Nach zwei Jahren konnte eine hohe Therapieadhärenz nachgewiesen werden (92,6 % Basismedikation, 88,6 % spezifische Therapie).
Diskussion
Osteoporose-assoziierte Frakturen nehmen aufgrund der demografischen Entwicklung weltweit stetig zu. Die erste erlittene Fragilitätsfraktur gilt als der Risikofaktor für Folgefrakturen, die sich häufig innerhalb eines Jahres ereignen. Entsprechend Registerdaten erhalten 90 % der Frauen und 97 % der Männer nach der ersten Osteoporose-assoziierten Fraktur keine entsprechende Behandlung (3). In unserem Kollektiv konnte bei über 80 % der Patientinnen und Patienten mit FLS die vollständige Osteoporosediagnostik realisiert werden. Bei über 80 % dieser vollständig diagnostizierten Betroffenen wurde eine therapiebedürftige Osteopenie/Osteoporose diagnostiziert. Die Literatur beschreibt nach Implementierung verschiedener FLS-Konstrukte ähnlich verbesserte Abklärungsraten. Entsprechend den DVO-Kriterien bestand in unserer Studie bei circa 85 % der FLS-Teilnehmenden die Indikation zur Therapie der Osteopenie bzw. Osteoporose – jeweils die Hälfte dieser Patientinnen und Patienten benötigten eine Basis- beziehungsweise eine spezifische medikamentöse Therapie. 12 Monate nach FLS-Beginn konnte die Einnahme der Osteoporosemedikamente insgesamt gesteigert werden. Verschiedene Autorinnen und Autoren konnten nach FLS-Implementierung ebenfalls deutliche Zunahmen der Therapieraten zeigen – Axelsson et al. zum Beispiel beschrieb einen zu unserer Studie vergleichbaren Anstieg der Behandlungsrate von 12,6 % auf 31,8 % (4). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass bei 128 Teilnehmenden unseres Kollektivs nach DVO-Richtlinien die Indikation zur spezifischen Therapie bestand. Die entsprechende Medikation erhielten jedoch weniger als 30 % der Erkrankten. Die BEST-Studie zeigte hier eine ähnlich geringe Verordnungsprävalenz bezüglich der Basistherapie (13 %) und der spezifischen Medikation (18 %) (2). Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der nachgewiesenen hervorragenden Wirksamkeit dieser Medikamente äußert kritisch zu bewerten – nur 20 Betroffene müssen in einem FLS medikamentös therapiert werden, um eine Folgefraktur zu verhindern (5). Bemerkenswert war in unserem FLS-Programm hingegen die hohe Therapieadhärenz.
Im Zusammenhang mit der Implementierung des FLS konnten wir eine Verbesserung der Versorgungsrealität bezüglich der Osteoporosediagnostik und -therapie beobachten. Gleichzeitig zeigte sich trotz dringender Empfehlung eine persistierend geringe Compliance bei der Durchführung der spezifischen Osteoporosetherapie. Die Studienergebnisse weisen daher auf das Verbesserungspotenzial der Osteoporosebehandlung durch ein FLS hin, verdeutlichen jedoch auch die Herausforderungen die Versorgungsqualität für Osteoporosepatientinnen und -patienten in Deutschland weiter zu optimieren.
Swantje Oberthür, Annkathrin Lendeckel, Katharina Blanka Jäckle, Heide Siggelkow, Wolfgang Lehmann, Stephan Sehmisch
Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie, Universitätsmedizin Göttingen (Oberthür, Lendeckel, Jäckle, Lehmann, Sehmisch)
Klinik für Unfallchirurgie, Medizinische Hochschule Hannover (Oberthür, Sehmisch) oberthuer.swantje@mh-hannover.de
Klinik für Gastroenterologie, gastrointestinale Onkologie und Endokrinologie, Universitätsmedizin Göttingen (Siggelkow)
MVZ Endokrinologikum Göttingen (Siggelkow)
Interessenkonflikt
Die Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 02.10.2022, revidierte Fassung angenommen: 06.12.2022
Zitierweise
Oberthür S, Lendeckel A, Jäckle K, Siggelkow H, Lehmann W, Sehmisch S: A fracture liaison service for the secondary prevention of osteoporosis:
a single-center observational study. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 211–2.
DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0400
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
1. | Willers C, Norton N, Harvey NC, et al.: Osteoporosis in Europe: a compendium of country-specific reports. Arch Osteoporos 2022; 17: 23 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
2. | Hadji P, Klein S, Gothe H, et al.: The epidemiology of osteoporosis—Bone Evaluation Study (BEST): an analysis of routine health insurance data. Dtsch Arztebl Int 2013; 110: 52–7 VOLLTEXT |
3. | Smektala R, Endres HG, Dasch B, Bonnaire F, Trampisch HJ, Pientka L: Die stationäre Behandlungsqualität der distalen Radiusfraktur in Deutschland: Ergebnisse eines Frakturregisters mit 1201 älteren Patienten. Unfallchirurg 2009; 112: 46–54 CrossRef MEDLINE |
4. | Axelsson KF, Jacobsson R, Lund D, Lorentzon M: Effectiveness of a minimal resource fracture liaison service. Osteoporos Int 2016; 27: 3165–75 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
5. | Hesse E, Böcker W, Kammerlander C, Stumpf U, Weber I, Maus U: Etablierung von Frakturnetzwerken in Deutschland. Unfallchirurg 2019; 122: 766–70 CrossRef MEDLINE |
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