ArchivDeutsches Ärzteblatt12/2023Krankenhausreform: Ineffiziente Strukturen überwinden

POLITIK

Krankenhausreform: Ineffiziente Strukturen überwinden

Karagiannidis, Christian; Busse, Reinhard; Augurzky, Boris

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Bund und Länder wollen in diesem Jahr eine Krankenhausreform beschließen. Dabei müssen sie berücksichtigen, dass die Strukturen von heute infolge des demografischen Wandels nicht bewahrt werden können. Ohne mutige Entscheidungen droht dem stationären Sektor ein Desaster.

Viele Krankenhausbetten können in Deutschland nicht betrieben werden, weil das Personal fehlt. Foto: picture alliance/ROBIN UTRECHT
Viele Krankenhausbetten können in Deutschland nicht betrieben werden, weil das Personal fehlt. Foto: picture alliance/ROBIN UTRECHT

Das Risiko der Beibehaltung des Ist-Zustands wird in der aktuellen Diskussion um eine notwendige tiefgreifende Struktur- und Vergütungsreform der Krankenhausversorgung zu wenig thematisiert. Die Auswirkung des demografischen Wandels und die zunehmenden Veränderungen der Arbeitswelt werden immer noch unterschätzt. Prognosen zur Personalentwicklung und damit zum Betreiben von Standorten sind unabdingbar, um einschätzen zu können, wie die Patientenversorgung auch 2030 noch flächendeckend sichergestellt werden kann.

Die vorliegende Arbeit betrachtet daher den Ist-Zustand der stationären Versorgung auf Standortebene, verknüpft mit Personal- und wirtschaftlichen Prognosen im Falle einer reinen Fortschreibung des Ist-Zustands. Hierzu werden stationäre Betten- und vollstationäre Fallzahlen aus dem Jahr 2021 sowie die Altersstruktur des Pflegefachpersonals zugrunde gelegt. Nach Angaben der Qualitätsberichte der Krankenhäuser stehen bundesweit rund 460 000 Betten zur Verfügung, das heißt 5,5 Betten pro 1 000 Einwohner (Grafik 1). Die Zahl liegt damit etwa fünf Prozent höher als die vom Statistischen Bundesamt für „Allgemeine Krankenhäuser“ angegebene (1).

Verteilung der Krankenhausbetten auf die deutschen Krankenhäuser nach Notfallstufen
Grafik 1
Verteilung der Krankenhausbetten auf die deutschen Krankenhäuser nach Notfallstufen

Einordnung nach Notfallstufen

Die Gesamtfallzahl der im Jahr 2021 vollstationär behandelten Patienten in der Somatik beläuft sich nach den Qualitätsberichten 2021 auf etwa 16,7 Millionen, verteilt auf rund 1 400 nach DRGs abrechnende Krankenhäusern mit fast 1 700 Standorten (Grafik 2). Diese werden seit 2018 vom Gemeinsamen Bundesausschuss in drei Notfallstufen eingeordnet (2). 602 Standorte ohne Notfallstufe erbringen hierbei 10,9 Prozent aller vollstationären Fälle und 647 Standorte der Notfallstufe 1 („Basis“) 32,2 Prozent der Fälle. Auf 260 Standorte der Stufe 2 („erweitert“) entfallen 26,1 Prozent der Fälle und 164 Standorte der Stufe 3 („umfassend“) erbringen 30,8 Prozent aller Fälle (Grafik 3). Der Schweregrad der Erkrankungen unterscheidet sich dabei naturgemäß nach dem Ausmaß großer Interventionen und nach dem Umfang der intensivmedizinischen Behandlung, wie beispielhaft in der Coronapandemie gezeigt (3). Die hier dargestellten Zahlen aus den Qualitätsberichten können mit Unsicherheiten behaftet sein, was nochmals die Wichtigkeit der vollständigen und zeitnahen Offenlegung der Versorgungsdaten für die Forschung unterstreicht.

Verteilung der Krankenhausfälle auf die deutschen Krankenhäuser nach Notfallstufen
Grafik 2
Verteilung der Krankenhausfälle auf die deutschen Krankenhäuser nach Notfallstufen
Vergleich der Anzahl der Standorte und Fallzahlen in Krankenhäusern der Notfallstufe I–III und ohne Notfallstufe
Grafik 3
Vergleich der Anzahl der Standorte und Fallzahlen in Krankenhäusern der Notfallstufe I–III und ohne Notfallstufe

Die Verteilung der Fallzahlen über die verschiedenen Standorte nach der jeweiligen Notfallstufe lassen Ineffizienzen des aktuellen Systems vermuten. Die 424 Standorte der Notfallstufen 2 und 3 erbringen zusammen 57 Prozent aller vollstationären Fälle, insbesondere personal- und kostenintensive komplexe Fälle. Die übrigen 43 Prozent werden von 1 249 Standorten erbracht, die alle rund um die Uhr in Betrieb sein und das entsprechende Personal vorhalten müssen. Um für 99 Prozent der Bevölkerung eine flächendeckende Erreichbarkeit innerhalb von 30 Minuten zu gewährleisten, bräuchte es rein theoretisch nur mindestens 337 Standorte in Deutschland (4). Zur Vermeidung von Monopolen und überdimensioniert großen Standorten in Städten sollten es aber eher 700 bis 800 sein.

Zu viele Standorte

Die aktuell sehr hohe Zahl an Standorten im Ist-Zustand scheint daher auf Ineffizienzen hinzudeuten. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht liegt die optimale Krankenhausgröße bei 600 bis 900 Betten (Grafik 4). Auch eine schwarze Null, die in der Vergangenheit ab etwa 200 Betten im Durchschnitt erreichbar war, genügt nicht nachhaltig. Ein Überschuss von mindestens einem Prozent der Erlöse sollte für Eventualitäten erzielt werden, was eher ab etwa 350 Betten erreicht wird. Wir gehen davon aus, dass sich die in Grafik 4 dargestellte Kurve im Jahr 2022 insgesamt weiter nach unten und damit zuungunsten der Kliniken verschieben wird. Im Ist-Zustand haben allein 1 137 Krankenhausstandorte weniger als 300 Betten und 1 320 weniger als 400 Betten.

Auswirkung der Größe eines Krankenhauses auf das Betriebsergebnis
Grafik 4
Auswirkung der Größe eines Krankenhauses auf das Betriebsergebnis

Bereits heute werden nach stichprobenartigen Erhebungen der Autoren im Vergleich zu den in den Qualitätsberichten ausgewiesenen Betten etwa 20 Prozent nicht mehr mit Personal betrieben. Auch im DIVI-Intensivregister zeigt sich eine Reduktion von etwa 25 Prozent der mit Personal betreibbaren High-Care-Intensivbetten in den vergangenen beiden Jahren. Neben dem erhöhten Krankenstand dürften dafür auch die stufenweise eingeführten Pflegepersonaluntergrenzen verantwortlich sein, wodurch etwa ein Personalschlüssel von einer Pflegekraft zu 30 Patientinnen und Patienten in Nachtdiensten der Vergangenheit angehören. Die Anzahl der Pflegekräfte pro Fall – gemessen als Vollzeitäquivalente – hat bis 2021 deutlich zugenommen: auf 20,9 Vollzeitpflegekräfte pro 1 000 stationäre Fälle (1). Damit ist der Wert in Deutschland aber weiter nur rund halb so hoch wie in Dänemark oder den Niederlanden, wobei der Unterschied im Wesentlichen in den dort niedrigeren stationären Fallzahlen begründet liegt (5).

Eine Reduktion der tatsächlich betriebenen Betten in der Größenordnung von 20 Prozent würde bedeuten, dass aktuell etwa 4,4 statt 5,5 Betten pro 1 000 Einwohner zur Verfügung stünden. Das würde jedoch noch immer über dem EU-Durchschnitt liegen, bei dem im Jahr 2019 nach Eurostat auf 1 000 Einwohner 3,9 somatische „Acute Care“-Betten kamen. Eine aktuelle Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt zudem im Jahr 2022 weiterhin deutlich geringere Fallzahlen der Krankenhäuser: 15 Prozent weniger im Vergleich zum Jahr 2019 (6). Gleichzeitig zeigt der tägliche Bericht des Pandemieradars über das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (DEMIS) Auslastung von 85 Prozent der „betreibbaren“ Betten unter der Woche.

Weniger Pflegekräfte

Auch dies deutet auf eine erhebliche Zahl von nicht mehr mit Personal betriebenen Betten hin und bestätigt den Klinikalltag. Um ein exaktes Bild zu bekommen, ist aber eine genaue Erhebung der betreibbaren Betten mit öffentlicher Darstellung ebenso notwendig wie die Erhebung des am Patienten tätigen Personals. Hinzu kommt aufgrund des nunmehr beschleunigten demografischen Wandels eine deutliche Abnahme der zu erwartenden Zahl an Pflegekräften in den kommenden zwölf Jahren, beginnend etwa im Jahr 2023. Die Daten der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen zeigen beispielhaft, dass 29 Prozent der Pflegefachpersonen über 55 Jahre und nur 15 Prozent unter 30 Jahre alt sind (7). Bei einer reinen Fortschreibung der Alterszusammensetzung sind die Auswirkungen dramatisch. Ähnliche Daten liegen aus Niedersachsen für das Jahr 2018 vor. Die Autoren schätzen, dass zusammengenommen von den im Jahr 2021 im Qualitätsbericht ausgewiesenen Betten in zehn Jahren maximal noch etwa zwei Drittel auch mit Personal betreibbar sein werden, verbunden mit vielen Unwägbarkeiten. Da die im EU-Vergleich immer noch sehr hohen stationären Fallzahlen durch weitere Ambulantisierung und Verzicht auf vermeidbare Fälle noch deutlich – vermutlich um etwa 20 Prozent – zurückgehen dürften, ist diese verringerte betreibbare Bettenzahl für die stationäre Versorgung der Bevölkerung im Mittel noch akzeptabel, verschlechtert aber die Einnahmesituation der Krankenhäuser gravierend. Damit sind ohne tiefgreifende Reformen und strukturelle Veränderungen die Mehrheit der Standorte in den nächsten zehn Jahren existenzbedroht.

In Anbetracht der dramatischen bevorstehenden Entwicklung im stationären Sektor empfehlen die Autoren als eine Lösung neben vielen anderen die Zusammenlegung möglichst vieler kleinerer Kliniken zu größeren Kliniken der Level II oder III gemäß Reformvorschlag der Regierungskommission ( 51–52/2022). Mehr als 350 Betten pro Standort, die auch mit Personal betreibbar sind, mit einem zukunftsträchtigen ambulanten Schwerpunkt, halten die Autoren für zukunftssicher. Es werden nicht nur ineffiziente Personalvorhaltung eingespart, sondern solche Häuser können auch leichter Konzepte wie „Magnet“ umsetzen, die sie zugleich für Personal attraktiver machen und die Qualität der Versorgung steigern ( 19/2019) (8).

Hinzu kommen zur Flächendeckung vor allem in ländlichen Regionen kleinere Level-I-Standorte, die vor allem die stationäre medizinische Grundversorgung sicherstellen müssen. Auch dies ist ein sehr wertvoller Teil der medizinischen Versorgung. Eine etwaige Zentralisierung der Kapazitäten geht innerhalb eines Verbunds naturgemäß einfacher. Jedoch müssen auch trägerübergreifende Konzepte schnell angegangen werden, weil es nicht überall lokale Verbünde gibt.

Effiziente Krankenhausstruktur

Ein Festhalten an den aktuellen Strukturen würde aufgrund der schwierigen Personalsituation desaströs enden. Es muss daher ein Ruck durch die Krankenhauslandschaft gehen. Das Potenzial für eine effiziente Krankenhausstruktur ist jetzt noch vorhanden. Um es zu realisieren, braucht es Investitionsmittel im Rahmen eines Strukturfonds 3, vor allem für Standortverlagerungen und auch, um bauliche Voraussetzungen für integriert ambulant/stationäre Angebote zu schaffen. Zusätzlich ist es für fundierte Entscheidungen zwingend notwendig, dass es eine zeitnah zu erhebende, transparente Darstellung der mit Personal betreibbaren Betten gibt. Dies betrifft Pflegefachpersonen, Assistenzpersonal, den Rettungsdienst und andere ebenso wie Ärztinnen und Ärzte.

Prof. Dr. med. Christian Karagiannidis

Kliniken Köln, Lungenklinik Köln-Merheim,

ARDS und ECMO Zentrum Universität Witten/Herdecke

Prof. Dr. med. Reinhard Busse

Technische Universität Berlin
Prof. Dr. rer. pol. Boris Augurzky

RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1223


aerzteblatt.de

Die Regierungskommission hat einen Vorschlag für eine grundlegende Krankenhausreform vorgelegt.
https://www.aerzteblatt.de/archiv/228968

1.
Statistisches Bundesamt: Grunddaten der Krankenhäuser 2021. Fachserie 12, Reihe 6.1.1. Statistisches Bundesamt Wiesbaden 2022.
2.
Gemeinsamer Bundesausschuss: Regelungen zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern gemäß § 136 c Abs. 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) 2018.
3.
Hentschker C, Mostert C, Klauber J, Malzahn J, Scheller-Kreinsen D, Schillinger G, Karagiannidis C, Busse R: Stationäre und intensivmedizinische Versorgungsstrukturen von COVID-19-Patienten bis Juli 2020. Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin 2021; 116 (5): 431–9 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
RWI: Notfallversorgung 2018.
5.
Köppen J, Busse R: Die Personalsituation im Krankenhaus im internationalen Vergleich. In: Klauber J, Wasem J, Beivert A, Mostert C (Hrsg.). Krankenhaus-Report 2023. Springer 2023.
6.
https://www.wido.de/news-presse/pressemitteilungen/2023/krankenhaus-fallzahlenrueckgang-2022/.
7.
https://www.pflegekammer-nrw.de/fachkraeftemangel-in-der-pflege-spitzt-sich-zu-2/.
8.
Kleine J, Maier CB, Köppen J, Busse R: Magnet®-Krankenhäuser: Eine Chance für Deutschland? In: Klauber J, Wasem J, Beivert A, Mostert C (Hrsg.). Krankenhaus-Report 2023. Springer 2023.
Verteilung der Krankenhausbetten auf die deutschen Krankenhäuser nach Notfallstufen
Grafik 1
Verteilung der Krankenhausbetten auf die deutschen Krankenhäuser nach Notfallstufen
Verteilung der Krankenhausfälle auf die deutschen Krankenhäuser nach Notfallstufen
Grafik 2
Verteilung der Krankenhausfälle auf die deutschen Krankenhäuser nach Notfallstufen
Vergleich der Anzahl der Standorte und Fallzahlen in Krankenhäusern der Notfallstufe I–III und ohne Notfallstufe
Grafik 3
Vergleich der Anzahl der Standorte und Fallzahlen in Krankenhäusern der Notfallstufe I–III und ohne Notfallstufe
Auswirkung der Größe eines Krankenhauses auf das Betriebsergebnis
Grafik 4
Auswirkung der Größe eines Krankenhauses auf das Betriebsergebnis
1. Statistisches Bundesamt: Grunddaten der Krankenhäuser 2021. Fachserie 12, Reihe 6.1.1. Statistisches Bundesamt Wiesbaden 2022.
2. Gemeinsamer Bundesausschuss: Regelungen zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern gemäß § 136 c Abs. 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) 2018.
3. Hentschker C, Mostert C, Klauber J, Malzahn J, Scheller-Kreinsen D, Schillinger G, Karagiannidis C, Busse R: Stationäre und intensivmedizinische Versorgungsstrukturen von COVID-19-Patienten bis Juli 2020. Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin 2021; 116 (5): 431–9 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.RWI: Notfallversorgung 2018.
5. Köppen J, Busse R: Die Personalsituation im Krankenhaus im internationalen Vergleich. In: Klauber J, Wasem J, Beivert A, Mostert C (Hrsg.). Krankenhaus-Report 2023. Springer 2023.
6. https://www.wido.de/news-presse/pressemitteilungen/2023/krankenhaus-fallzahlenrueckgang-2022/.
7. https://www.pflegekammer-nrw.de/fachkraeftemangel-in-der-pflege-spitzt-sich-zu-2/.
8. Kleine J, Maier CB, Köppen J, Busse R: Magnet®-Krankenhäuser: Eine Chance für Deutschland? In: Klauber J, Wasem J, Beivert A, Mostert C (Hrsg.). Krankenhaus-Report 2023. Springer 2023.

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