

Als Lehre der Coronapandemie setzt die Weltgesundheitsorganisation stärker auf frühzeitige Erfassung von Krankheitsausbrüchen, die zu globalen Bedrohungen werden könnten. Eine Abteilung in Berlin sorgt für das Handwerkszeug, das zu besserer Erkennung und Reaktion führen soll.
Als Ideenmanufaktur könnte man das Zentrum für Pandemie- und Epidemieaufklärung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Berlin am besten beschreiben. Im September 2021 eröffneten die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Hub. Dieser sei ein Stück Hoffnung in schwierigen Zeiten, sagte Merkel damals.
„Vor der Pandemie gab es wenig Anreize, globale Gesundheitsprobleme schnell und effizient zu lösen“, erklärte der Leiter des WHO Hubs, Dr. Chikwe Ihekweazu, im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Die Coronapandemie habe gezeigt, dass fehlende Entscheidungsmöglichkeiten zu Problemen führten. „Deshalb wollen wir Länder und Organisationen bessere Möglichkeiten an die Hand geben, um im Fall der Fälle bessere und schnellere Entscheidungen zu treffen“, so Ihekweazu. Ähnlich wie im Bankensystem, wo man aufgrund von gemeinsamen Standards in jedem Land der Welt mit einer Kreditkarte Geld abheben könne, müsse es auch in gesundheitlichen Fragen entsprechende Kooperationen geben, auch wenn die Länder sehr unterschiedlich sind und geografisch weit voneinander entfernt liegen. „Wir leben in einer großen, globalen Gemeinschaft. Ein Risiko irgendwo auf der Welt kann auch ein Risiko für den Rest der Welt darstellen“, so Ihekweazu.
Von fünf auf rund 60 Angestellte
Zu Beginn bestand das Team des WHO Hubs zunächst aus fünf Personen, die zur Untermiete in Charité-Gebäuden gearbeitet hatten, berichtete Pierre Grand, Leiter des Bereichs Partnerschaften und Kooperationen im Hub. „Der erste Fokus des Hubs lag auf den frühen Partnerorganisationen Robert Koch-Institut und Charité.“ Anfang 2022 zog das WHO-Team in das neue Gebäude mitten in Berlin-Kreuzberg, das bis 2023 fertiggestellt wurde.
Dabei orientiert sich der Aufbau des Gebäudes an der Arbeitsweise des Hubs. Die Großraumbüros und gemeinschaftlich genutzten Räumlichkeiten sollen eine Plattform schaffen, auf der Organisationen, Länder, aber auch die Privatwirtschaft und Wissenschaft gemeinsam an der Pandemieaufklärung arbeiten können, erklärte Grand. „In den letzten zwölf Monaten trafen wir uns mit über 200 Institutionen weltweit zum Austausch von Ideen und Erfahrungen – eine Voraussetzung für Kooperationen.“ Unter den bereits aufgesetzten Kooperationen seien etwa die Europäische Kommission und die europäische Gesundheitsbehörde für die Krisenvorsorge und -reaktion HERA. Darüber hinaus gebe es Kooperationen etwa mit dem brasilianischen Gesundheitsinstitut „Fiocruz“ oder den afrikanischen Zentren für Krankheitsbekämpfung und Schutzmaßnahmen (Africa CDC).
„Hier in Berlin haben wir 120 Arbeitsplätze, davon sollen allerdings nur etwa die Hälfte von WHO-Personal genutzt werden. Die Idee ist, dass die Hälfte der Arbeitskraft von außen etwa von Universitäten oder Public Health-Instituten temporär gestellt wird“, sagte Grand. Das internationale Team ist allerdings noch nicht komplett, derzeit sind rund 40 Personen am Hub tätig. Insbesondere sind dies Expertinnen und Experten aus der Datenanalyse, der Medizin und der Epidemiologie, erklärte Oliver Morgan, Direktor für Informationen bei Gesundheitsnotfällen und Risikobewertung bei der WHO. Künftig sollen aber auch Soziologinnen oder Wissenschaftler für Klima- und Tiergesundheit zum Team gehören.
Im Gegensatz zu Berlin sitzen in der Abteilung Health Emergency Response im WHO-Hauptquartier in Genf hingegen Datenanalystinnen und -analysten, die in Echtzeit Informationen zur Gesundheitssituation weltweit überprüfen. Monatlich werden rund 45 000 Fälle möglicher Ausbrüche gescannt, von denen 300 eingehend untersucht werden, berichtet Morgan. Um aber das gesamte Bild zu sehen, wurde der Hub in Berlin eröffnet. Dieser sei zwar nicht abgekoppelt vom Hauptquartier, könne aber trotzdem eigenständig arbeiten, so Morgan. „Die Einrichtung des Hubs ist ein großes Investment in die Zukunft.“
Um die Pandemieaufklärung zu verbessern, sollen langfristig Gesundheitsdaten, etwa wer mit welchen Symptomen erkrankt, mit kontextuellen Daten verbunden werden. Diese sind etwa Informationen zu Charakteristiken der Bevölkerung, Impfraten, aber auch Wetterdaten oder Informationen zur jeweiligen Infrastruktur. Zudem sollen künftig auch stärker Daten zur Genomik eingebunden werden.
Ein Beispiel wie diese Daten verknüpft werden, veranschaulicht das System „Epidemic Intelligence from Open Sources“ (EIOS), das die WHO 2017 ins Leben gerufen hat und jetzt am Berliner WHO Hub weiterentwickelt wird. Auf Deutsch übersetzt heißt EIOS epidemische Informationen aus offenen Quellen. Wie der Name verrät, liegt der Fokus dabei auf öffentlich zugängliche Daten. In dem System werden die weltweit verfügbaren Daten in nahezu Echtzeit gebündelt. Die regionalen WHO-Büros, der WHO-Hauptsitz sowie die Mitgliedsländer können das System nutzen, Daten teilen und sich über mögliche Vorkommnisse austauschen, wie etwa rasch ansteigende Fallzahlen einer neuen Viruserkrankung. Jede Woche werden innerhalb des Systems rund 100 000 öffentlich zugängliche Artikel, Medienberichte oder Twitterfeeds gescannt, erklärte der verantwortliche Teamleiter Philip Abdelmalik.
„Wenn etwa jemand in Genf sieht, dass es einen Medienbericht über neue Fälle einer bestimmten Krankheit gibt, kann die Person über das System mit dem WHO-Büro im jeweiligen Land kommunizieren, um diesen Vorfall schnell zu überprüfen“, erklärte Abdelmalik (Kasten). Zudem könnten Organisationen und Institute bereits heute das EIOS-System nutzen und dadurch schneller und besser Informationen miteinander teilen.
Darüber hinaus arbeite der Hub auch an Programmen, die mittels automatisierter Sprach- und Textanalyse sowie Methoden aus der künstlichen Intelligenz Texte in Kategorien unterteilen oder das Wesentliche in wenigen Sätzen zusammenfassen. Damit sollen Datenanalystinnen und -analysten Vorfälle schneller entdecken und einordnen können. „Dieses Programm läuft derzeit nur in englischer Sprache, soll aber bald auch in weiteren Sprachen verfügbar sein“, so Abdelmalik.
Die Weiterentwicklung der Überwachung von gesundheitlichen Gefahren sei zudem für andere gesellschaftliche Bereiche wichtig, betonte Sara Hersey, Direktorin für kollaborative Intelligenz. Insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen fallen ökonomische und soziale Errungenschaften etwa nach einem Ebolaausbruch weit zurück. „Beispielsweise bezüglich der Bildung von Mädchen fallen manche Länder nach so einem Vorfall um etwa zehn bis 20 Jahre zurück“, so Hersey.
Besseres Wissen für Reaktion
Weil die Welt mittlerweile global vernetzt sei und Krankheitsanstiege in einem Land, auch die in einem weit entfernten, beeinflussen können, müssten erste Anzeichen von Krankheitsanstiegen früh erkannt und schnell gehandelt werden, so Hersey. Insbesondere die Gefahr von Zoonosen sei nicht zu unterschätzen. Vorherzusagen wann es eine nächste Pandemie gebe, könne aber niemand. Allerdings könne heute frühzeitiger erkannt werden, was auf der Welt passiert. „Wir haben jetzt tiefergehendes weltweites Wissen, um entsprechende Reaktionen zu verbessern“, so Hersey.
Das Team in Berlin bereite sich damit auch auf ein Worst-Case-Szenario, also etwa eine gefährliche neue Coronavirusvariante, vor, sagte der Leiter des Hubs, Ihekweazu. Erfolgreiche Pandemiebekämpfung bedeutet, dass sie für die breite Öffentlichkeit nicht sichtbar ist, weil sie Ausbrüche eindämmt, bevor diese zu Bedrohungen werden. „Der größte Erfolg für uns bedeutet wohl, dass niemand jemals von unserer Arbeit erfährt“, betonte Ihekweazu. Charlotte Kurz
Reaktionskette zur Vermeidung eines globalen Ausbruchs
Wenn die Datenanalystinnen und -analysten im WHO-Hauptquartier in Genf innerhalb der gescannten Daten einen bedrohlichen Vorfall, etwa einen neuen Krankheitsausbruch, entdecken, kontaktieren sie über das EIOS-System zuerst das jeweilige Länderbüro der WHO. Das Personal vor Ort spreche die Landessprache, kenne zuständige Personen und könne sich deshalb ein besseres Bild verschaffen, erklärte Oliver Morgan. Zudem kontaktiere die WHO direkt auch die entsprechende Landesregierung. „Jedes einzelne der 194 WHO-Mitgliedsländer hat eine oder mehrere Personen benannt, die 24/7 für Notfälle der öffentlichen Gesundheit erreichbar sein müssen“, sagte Morgan. Diese müssten innerhalb von 24 bis 48 Stunden antworten. Gemeinsam mit der Regierung werde beurteilt, welche Maßnahmen getroffen werden müssen, um frühzeitig zu agieren. Allerdings gebe es auch Vorfälle, bei denen strategische und politische Bedenken überwiegen und die WHO kaum mehr ins Boot geholt werde. „Wenn sich etwa ein Vorfall in einem Land ereignet, das auf möglichen Bioterrorismus hinweist, dann handelt es sich um einen Fall nationaler Sicherheit. Die Regierung wird in diesem Fall keine Informationen mit uns teilen, obwohl der Fall Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben könnte“, erklärte Morgan.
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.