ArchivDeutsches Ärzteblatt12/2023Klinische Prüfungen: Chaos um das neue EU-Portal

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Klinische Prüfungen: Chaos um das neue EU-Portal

Richter-Kuhlmann, Eva

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Der Frust ist groß: Nach einem Jahr Erfahrung mit der europäischen IT-Plattform CTIS beklagen Ethikkommissionen, Bundesärztekammer sowie Pharmafirmen Probleme mit dem Portal zur Bewertung von Anträgen für klinische Studien. Es sei unstrukturiert, benutzerunfreundlich und fehleranfällig.

Foto: JEGAS RA/stock.adobe.com
Foto: JEGAS RA/stock.adobe.com

Als sich am Nachmittag des 6. März die Mitglieder des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in Deutschland (AKEK) nach ihrem Erfahrungsaustausch auf den Heimweg begeben, kreisen die Gespräche immer noch um ein Thema: CTIS, das europäische „Clinical Trials Information System“. Die Probleme mit diesem IT-Portal der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), über das seit knapp zwei Monaten alle Anträge auf die Durchführung klinischer Arzneimittelstudien eingereicht werden müssen, sind ihnen zufolge massiv. Die als chaotisch beschriebenen Zustände waren es auch, die sie zu der außerordentlichen Mitgliederversammlung in Berlin zusammenkommen ließen.

Viele Funktionsmängel beklagt

Am Endes dieses unplanmäßigen Sitzungstages sind sich die Medizinischen Ethik-Kommissionen einig: So kann es nicht weitergehen. Die Funktionsmängel bei CTIS sind strukturell und nicht nur technischer Natur – es herrscht das Gefühl vor, sich durch ein Chaos kämpfen zu müssen. „Das System ist nicht benutzerfreundlich, verschwendet Ressourcen und gefährdet die Patientensicherheit“, bringt es der AKEK-Vorsitzende Prof. Dr. med. Georg Schmidt gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt auf den Punkt.

Da das CTIS-Portal quasi die Drehscheibe der Kommunikation zwischen Antragstellern, Behörden und Ethikkommissionen ist, warnt neben dem AKEK auch die Bundesärzteärztekammer (BÄK) vor erheblichen Risiken für die Zukunftsfähigkeit des Forschungsstandortes Deutschland beziehungsweise Europa. „Wir sind dem Bundesministerium für Gesundheit dankbar, die Probleme mit CTIS bei der Tagung der EU-Gesundheitsministerinnen und -ministern im Dezember 2022 eindringlich adressiert zu haben“, sagt BÄK-Präsident Dr. med. (I) Klaus Reinhardt dem Deutschen Ärzteblatt. 13 weitere Mitgliedstaaten hätten sich den von Deutschland geäußerten Bedenken damals spontan angeschlossen. „Trotz der zwischenzeitlich eingeleiteten Maßnahmen der EMA ist das CTIS derzeit jedoch nicht voll funktionsfähig, nicht technisch fortgeschritten und nicht benutzerfreundlich. Dieser Umstand bedarf höchster Aufmerksamkeit der Verantwortlichen auf europäischer Ebene, um weiteren Schaden für den Forschungsstandort Europa zu verhindern“, fordert Reinhardt.

Nutzende sind frustriert

Der Frust der Nutzerinnen und Nutzer der IT-Plattform, die eigentlich die Bewertung von klinischen Studien europaweit erleichtern und harmonisieren soll (Kasten), ist mittlerweile groß: „Bisher war unsere Arbeit sachbezogen, doch jetzt besteht sie hauptsächlich aus Formalismen“, erläutert Schmidt. Generell sei CTIS nicht aus der Perspektive der Nutzenden programmiert, meint er. „Aus unserer Sicht ist das nicht zu heilen.“ Wenn der Fokus auf Formalismen statt auf Inhalten liege, seien falsche Entscheidungen programmiert, warnt Schmidt, selbst auch Vorsitzender der Ethikkommission der Technischen Universität München.

Zwar seien anfängliche technische Schwierigkeiten, wie Systemabstürze, reduziert worden, räumt Jan Paus, Leiter der Geschäftsstelle der Ethik-Kommission Westfalen-Lippe, ein. Trotzdem gebe es in zentralen Bereichen immer noch gravierende Fehler, beispielsweise bei der Verwaltung von Fristen und Aufgaben. Außerdem sei die Plattform noch nicht benutzerfreundlich genug. An zahlreichen Stellen sei die Bearbeitung dadurch sehr anfällig für Fehler, sodass sich oft mehrere Personen im Vier- oder Sechs-Augen-Prinzip damit beschäftigten, um nichts zu übersehen.

„Das System ist nicht benutzerfreundlich, verschwendet Ressourcen und gefährdet die Patientensicherheit.“ Georg Schmidt, AKEK-Vorsitzender. Foto: privat
„Das System ist nicht benutzerfreundlich, verschwendet Ressourcen und gefährdet die Patientensicherheit.“ Georg Schmidt, AKEK-Vorsitzender. Foto: privat

Damit wird der hohe Zeitaufwand für die zusätzliche kleinteilige Arbeit zu einem weiteren Problem. Er habe bereits jetzt dazu führt, dass sich einzelne Ethikkommissionen aus dem Vergabesystem zur Bewertung der Anträge abmeldeten, heißt es beim AKEK. „Wir sind hauptsächlich damit beschäftigt, Dokumente zu zählen und zu ordnen, da diese unsortiert in den Ordnern des Systems landen“, kritisiert Prof. Dr. med. Wolfgang Berdel, Vorsitzender der Ethik-Kommission Westfalen-Lippe. Das sei nicht nur zeitintensiv, sondern vor allem völlig überflüssig und nervenaufreibend.

Nach den Beobachtungen des AKEK hat sich durch das neue System die Zeit, die benötigt wird, um die Anträge auf klinische Prüfungen im Sinne der Patientensicherheit zu bewerten, etwa vervierfacht. Eine Alternative gibt es jedoch nicht: Die EU-Verordnung 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln, die seit dem 31. Januar 2022 in Kraft ist, verpflichtet zur Einreichung von Arzneimittelstudien über das CTIS-System. Bis Ende Januar dieses Jahres konnten Anträge noch nach altem Recht eingereicht werden. Doch seit Februar 2023 müssen alle universitären oder pharmazeutischen Antragsteller ihre Anträge zu Arzneimittelstudien über das CTIS-System einreichen, da die einjährige Übergangsfrist abgelaufen ist.

„Um den Jahreswechsel herum haben noch einmal viele Antragsteller diese Möglichkeit genutzt“, berichtet Antje Kettner-Ottilie, Leiterin der Geschäftsstelle der Ethik-Kommission des Landes Berlin am Landesamt für Gesundheit und Soziales. Jetzt sei es zu einem deutlichen Rückgang der Antragstellungen gekommen.

„Die Industrie wird aus Europa abwandern”, befürchtet Dr. med. Guido Grass, Leiter der Geschäftsstelle der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. Frustration herrsche überall und könne schließlich zu einem Abziehen von Innovationen aus Europa führen. „Das kann nicht in unserem Sinne sein.“

Auf Nachfrage berichtet in der Tat auch die pharmazeutische Industrie in Deutschland derzeit über „mehr Aufwand, als bei einem funktionierenden regulären Verfahren nötig wäre“. Zwar habe die EMA seit Dezember 2022 intensiv an CITS gearbeitet. Neben direkten Korrekturen am Portal habe sie zahlreiche „Workarounds“ geschaffen und so alternative Wege außerhalb von CTIS eingerichtet, auf denen bestimmte Informationen zwischen dem Studienantragsteller und der Behörde ausgetauscht werden konnten, wenn es Probleme mit dem Portal gab. Doch: „Auch dann, wenn Antragsverfahren durchgeführt werden können, läuft mit CTIS vieles schlechter als zuvor“, erklären der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI), der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) und der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) einhellig. 

„Dieser Umstand bedarf höchster Aufmerksamkeit der Verantwortlichen auf europäischer Ebene.“ Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. Foto: picture alliance/dpa
„Dieser Umstand bedarf höchster Aufmerksamkeit der Verantwortlichen auf europäischer Ebene.“ Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. Foto: picture alliance/dpa

Die Beobachtungen der Ethikkommissionen bestätigen sie: „Da unklar war, ob die EMA erfolgreich sein würde, haben Unternehmen bis zum Januar zahlreiche geplante Studien noch nach dem alten Verfahren national beantragt“, räumen die Verbände ein. Dementsprechend hätte es in den letzten Wochen weniger Anträge gegeben als sonst. Einige Unternehmen hätten aber auch über erste Erfahrungen mit dem System vom Februar berichtet. Daraus sei ersichtlich, dass es zwar fast immer, jedoch meist über den Umweg eines Workarounds gelungen sei, Antragsverfahren auf dem Weg zu bringen.

Optimal sei das Prozedere aber keineswegs: Beispielsweise hätten nach altem Recht wenige Mitarbeitende eine Antragstellung und -bearbeitung betreuen können. Jetzt gelinge das nur den größeren Teams, berichten die Industrieverbände.

Zudem hätte sich die in der EU-Verordnung 536/2014 vorgesehene maximale Bearbeitungsdauer von 106 Tagen (gesetzeswidrig) auf bis zu 175 Tage verlängert, obwohl die EU selbst den Anspruch formuliert hätte, dass Studienanträge leichter gestellt, einheitlicher bearbeitet und schneller zum Abschluss gebracht werden sollten, um die Attraktivität der Studienregion Europa zu steigern.

Auch der AKEK bemängelt, dass eigentlich spätestens jetzt – nach dem Ablaufen der Übergangsfrist – das IT-Portal dem Art. 80 der genannten EU-Verordnung zufolge „auf dem jeweils neuesten Stand der Technik und benutzerfreundlich“ sein sollte, damit kein unnötiger Arbeitsaufwand entstehe. Inzwischen sei offensichtlich, dass diese Anforderung nicht erfüllt sei, betont Schmidt. Die Mitglieder des AKEK seien wegen der schweren Funktionsmängel zu dem Schluss gekommen, dass dringender Handlungsbedarf bestehe.

Konfrontiert damit, widerspricht die EMA dieser Ansicht: Bis zum 8. März 2023 seien 322 klinische Prüfungen genehmigt worden, antwortet sie auf Nachfrage. Dies beweise, dass das System es Sponsoren und Mitgliedstaaten (einschließlich der zuständigen nationalen Behörden und Ethikkommissionen) ermögliche, im Rahmen der Verordnung über klinische Prüfungen über CTIS zu arbeiten. Nichtsdestotrotz arbeite die EMA weiter kontinuierlich an der Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit von CTIS.

„Die neue Verordnung hat für alle, die an klinischen Prüfungen beteiligt sind, große Veränderungen mit sich gebracht, und die EMA arbeitet intensiv daran, die Beteiligten bei diesen Veränderungen zu unterstützen“, betont die Europäische Arzneimittelagentur.

Der CTIS-Arbeitsplan 2023 konzentriere sich auf die Umsetzung von Verbesserungen in den wichtigsten Funktionsbereichen des Systems sowie auf die Zukunftssicherung und Minimierung von technischen Risiken von CTIS, erläutert die EMA. So seien seit dem 31. Januar dieses Jahres mehrere Verbesserungen in das System implementiert worden. Beispielsweise sei der CTIS User Support Service verstärkt worden, um eine schnellere Lösung von Benutzeranfragen zu ermöglichen.

Zudem werde der Betrieb von CTIS genau überwacht: Wöchentliche Daten würden im „CTIS Newsflash“ veröffentlicht, monatliche Berichte mit den wichtigsten Leistungsindikatoren für die Umsetzung der Verordnung auf der EMA-Website. Weiterhin gebe es einen Plan zur Risikominderung: Bei Bedarf könnten kurzfristig geeignete Maßnahmen ergriffen werden.

BfArM appelliert an Kooperation

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bewertet die Bemühungen der EMA als Betreiber von CTIS positiv: Sie habe in den vergangenen Wochen und Monaten intensiv an einer Verbesserung gearbeitet und damit die Nutzerfreundlichkeit des Systems kontinuierlich vorangebracht, erklärt die Behörde. Sie selbst unterstütze die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten – einerseits die EMA durch intensive Mitarbeit beispielsweise bei der Gestaltung von Schnittstellen und andererseits die deutschen Ethik-Kommissionen durch intensive Schulungen und Support sowie die Entwicklung und Bereitstellungen von nationalen IT-Lösungen. „CTIS wird in den kommenden Jahren schrittweise zur zentralen Anlaufstelle für Unternehmen ausgebaut werden, die klinische Studien in der EU durchführen möchten“, ist das BfArM überzeugt. Mit nur einem einzigen Antrag könnten sie eine Genehmigung für die EU-Länder beziehungsweise den europäischen Wirtschaftsraum beantragen. Auch die Behörden könnten über das System verbessert mit dem Sponsor in Kontakt treten und schneller mit anderen Behörden zusammenarbeiten. 

Zu diesem Zeitpunkt ist das jedoch für viele Nutzende noch Zukunftsmusik: Nach Ansicht der Pharmaindustrie ist es zunächst „unbedingt nötig, dass die EMA schnellstens die Handlungsfähigkeit aller CTIS-User gewährleistet“. Die „Workarounds“ müssten durch sauber konzipierte und programmierte Funktionalitäten innerhalb von CTIS ersetzt und zudem nationale Zusatzansprüche zurückdrängt werden, die über die EU-Verordnung 536/2014 hinausgehen. Darüber hinaus müsse die EMA gemäß der Verordnung die IT-Plattform auf den neuesten Stand der Technik bringen und halten sowie die Nutzerfreundlichkeit verbessern, damit kein unnötiger Arbeitsaufwand entstehe, fordern BPI, vfa und BAH. „Erst wenn das alles geschafft ist, wird man sagen können, dass mit CTIS das europäische Studienwesen verbessert wurde.“

Evaluation von CTIS angemahnt

Nach Ansicht des AKEK muss die Funktionsfähigkeit der IT-Plattform dringend evaluiert werden – am besten noch in diesem Jahr. Die BÄK unterstützt den AKEK in dieser Forderung und betont, dass sie sich weiterhin dafür engagieren wolle. Zudem schlagen AKEK und BÄK einen Verzicht auf die Überführung von Klinischen Prüfungen in CTIS vor, die noch vor dem Inkrafttreten der EU-Verordnung genehmigt wurden. Dabei handele es sich europaweit um Tausende Studien, erklärt Prof. Dr. med. Roland Jahns, Direktor der Interdisziplinären Biomaterial- und Datenbank Würzburg und Vorsitzender der Ethik-Kommission der Universität Würzburg. „Sie nicht in den nächsten drei Jahren zu überführen, würde „Druck aus dem Kessel nehmen“, ist er überzeugt.

So nachdrücklich die Forderungen und Warnungen im Schulterschluss von Ärzteschaft und Pharmaindustrie jetzt auch sind – neu sind sie nicht. Bereits Ende November 2022 – vor Auslaufen der Übergangsfrist – hatte sich der AKEK gemeinsam mit der Bundesärztekammer, dem Medizinischen Fakultätentag (MFT), dem Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD) und den Verbänden der Antragsteller von Arzneimittelprüfungen aus der pharmazeutischen Industrie an die Öffentlichkeit gewandt. Übereinstimmend hatten sie bereits damals festgestellt, dass das CTIS-Portal an gravierenden Mängeln leide und für alle Beteiligten zu weiten Teilen nicht handhabbar sei. Nun warnen sie erneut vor der Gefahr, dass die Dysfunktionalität des CTIS-Portals zu einer Abwanderung von Medikamentenerprobungen in andere Weltregionen führen könne – der Ausgang ist noch ungewiss.

Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann

Clinical Trials Information System – CTIS

Das von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) betriebene Informationssystem für klinische Prüfungen (Clinical Trials Information System – CTIS) ist seit knapp zwei Monaten die zentrale Anlaufstelle, um Informationen zu klinischen Prüfungen in der Europäischen Union (EU) einzureichen und diese zu bewerten. Es besitzt einen Arbeitsbereich für Sponsoren (Unternehmen und Forschungseinrichtungen), der diesen helfen soll, ihren Antrag auf klinische Prüfung und die zugehörigen Unterlagen für die Einreichung zur Bewertung zusammenzustellen. Ein weiterer geschützter Arbeitsbereich steht den Ethikkommissionen und Behörden als Unterstützung der Tätigkeiten der EU-Mitgliedstaaten, der Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und der Europäischen Kommission bei der Bewertung und Überwachung klinischer Prüfungen zu Verfügung.

Entsprechend der EU-Verordnung über klinische Prüfungen gab es einen Übergangszeitraum für die Nutzung von CTIS: Vom 31. Januar 2022 bis zum 31. Januar 2023 konnten Anträge noch über nationale Einreichungsverfahren eingereicht werden. Trotz Kritik der Nutzenden und aufgetretener Mängel im vergangenen Jahr war die Übergangsfrist nicht verlängert worden. Seit Februar ist die IT-Plattform „scharf“ geschaltet.

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