MEDIZIN: Originalarbeit
Langzeitfolgen von Schädelhirntraumen mit 10 Jahren Nachbeobachtung
Gematchte Kohortenstudie auf der Basis von Abrechnungsdaten einer gesetzlichen Krankenkasse
The long-term sequelae of traumatic brain injury over 10 years of follow-up—a matched cohort study based on routine data of a statutory health insurance carrier
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Hintergrund: Während die akuten Folgen des Schädelhirntraumas (SHT) gut dokumentiert sind, fehlt in der deutschen Literatur eine systematische Quantifizierung der langfristigen Folgen. In dieser Arbeit wurden Inzidenzraten für SHT-assoziierte Folgeerkrankungen ermittelt und mit der Bevölkerung ohne SHT verglichen.
Methode: Es wurde eine gematchte Kohortenstudie, basierend auf den Routinedaten des gesetzlichen Krankenversicherers Barmer, durchgeführt. Die Expositionsgruppe umfasste Patientinnen und Patienten mit Schädelhirntrauma verschiedener Behandlungsintensitäten, inklusive Personen mit Polytrauma, im Zeitraum 2006–2009. Die Kontrollgruppe bildeten Versicherte der Krankenkasse mit jeweils zum Expositionszeitpunkt vergleichbarem Alter, Geschlecht und vergleichbaren Vorerkrankungen. Über einen Zeitraum von zehn Jahren wurden Spätfolgen in den Routinedaten untersucht. Die Outcome-Raten zwischen Expositionsgruppe und Kontrollgruppe wurden mittels Kaplan-Meier-Schätzer und Poisson-Regression miteinander verglichen.
Ergebnisse: Im Beobachtungszeitraum konnten 114 296 Personen mit SHT eingeschlossen werden. Die Sterberate nach einem SHT lag innerhalb von zehn Jahren bei 305 je 1 000 Personen. Die relative Sterberate in der Expositionsgruppe war mit einem Verhältnis („incidence rate ratio“ [IRR]) von 1,67 (95-%-Konfidenzintervall: [1,60; 1,74]) im Vergleich zur Kontrollgruppe gleichen Alters und Geschlechts erhöht. Weiterhin wurden Immobilität, Demenz, Epilepsie, endokrine Störungen, Funktionsstörungen, Depression und Angst, kognitive Defizite, Kopfschmerzen und Schlafstörungen häufiger in der Expositionsgruppe gefunden. Personen mit behandlungsintensivem SHT zeigten die höchsten relativen Inzidenzraten im 10-Jahres-Zeitraum für die untersuchten Erkrankungen. Personen mit stationärer Behandlung wiesen höhere relative Inzidenzraten für Epilepsie und Demenz im Vergleich zu Personen mit ambulanter Betreuung auf.
Schlussfolgerung: Negative Folgen eines SHT sind auch zehn Jahre nach der Exposition erkennbar. Patientinnen und Patienten versterben eher und leiden häufiger und früher an assoziierten Erkrankungen als Personen ohne SHT.


Das Schädelhirntrauma (SHT) zählt zu den großen medizinischen und sozioökonomischen Herausforderungen unserer Zeit (1). In Deutschland wurden 2019 insgesamt 225 183 Patientinnen und Patienten aufgrund eines SHT jedweden Schweregrades (ICD-10 S06: Intrakranielle Verletzung) vollstationär behandelt (2). Das SHT steht damit an fünfter Stelle der Krankenhausdiagnosen (2). Wenngleich einzelne Aspekte nach einem SHT wie Demenz (3), Epilepsie (4) und psychoorganische Störungen (5) umfänglich untersucht worden sind, fehlen systematische Betrachtungen zu den Folgeerkrankungen des SHT.
In einem Projekt der ZNS-Hannelore-Kohl-Stiftung zusammen mit der gesetzlichen Krankenkasse Barmer wurde ein routinedatenbasiertes Post-SHT-Monitoring durchgeführt. Das Ziel der Studie war es, mögliche Besonderheiten in der Krankenhistorie nach einem SHT zur erkennen.
Methode
Die Studie wurde als gematchte Kohortenstudie gemäß „Gute Praxis Sekundärdatenanalyse“ designt (6). Da alle notwendigen Informationen anonymisiert und standardisiert vorlagen, war kein Ethikvotum erforderlich. Die Studiendaten umfassten die Jahre 2005–2019 für 7,7 Millionen Personen mit mindestens einem Jahr Vor- und 10 Jahren Nachbeobachtungszeit. Neben demografischen Charakteristiken (Alter, Geschlecht, Todesdatum) waren sämtliche Informationen über die Inanspruchnahme des deutschen Gesundheitssystems enthalten. Dies beinhaltete
- quartalsgenaue Diagnosen (entsprechend der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems German Modification, ICD-10 GM)
- Prozeduren (gemäß Operationen- und Prozedurenschlüssel, OPS)
- ambulant durchgeführte medizinische Tätigkeiten (gemäß Einheitlichem Bewertungsmaßstab, EBM)
- Arzneimittelabgaben (Pharmazentralnummer, PZN).
Individuen wurden in eine Expositions- und eine Kontrollgruppe eingeteilt. Die Expositionsgruppe umfasste Personen mit diagnostiziertem SHT (ICD: S06) zwischen dem 01.01.2006 und dem 31.12.2009 (ein Jahr Wash-out-Phase). Da im Datensatz der Krankenhäuser nach § 301 SGB V keine genauen Angaben über Schweregrad oder Dauer der Bewusstlosigkeit vorliegen, wurden folgende Indikatoren für das Vorliegen eines behandlungsintensiven SHT festgelegt:
- Versterben am Tag des SHT oder/und
- Bewusstlosigkeit > 30 min (Haupt- oder Nebendiagnose im Krankenhausfall: S06.71–S06.73) oder/und
- künstliche Beatmung oder/und
- mindestens eine der folgenden Prozeduren aus den Bereichen Kraniotomie, Inzision Gehirn, Hämatomausräumung, Liquordrainage, Messsonde, Intensivmedizin (OPS: 5–012.0, 5–012.2, 5–013.1, 5–013.4f, 5–013.8, 5–013.x, 5–022.00f, 5–029.1, 5–029.10, 8–980).
SHT ohne eine entsprechend indizierte Behandlungsintensität wurden danach unterschieden, ob die Anschlussbehandlung ausschließlich ambulant oder stationär erfolgte. Das Datum des SHT bestimmte das Indexquartal.
Die Kontrollgruppe umfasste ausschließlich Personen ohne SHT, die anhand von Alter, Geschlecht und prävalenten Vorerkrankungen innerhalb der vier Quartale vor dem Indexquartal den Patientinnen und Patienten mit SHT entsprachen. Als Vorerkrankungen wurden beobachtet (nach Charlson 1987) (7):
- Myokardinfarkt
- Herzinsuffizienz
- periphere vaskuläre Erkrankung
- zerebrovaskuläre Erkrankung
- Demenz
- chronische pulmonale Erkrankung
- rheumatische Erkrankung
- Ulkuskrankheit
- leichte Lebererkrankung
- Diabetes mit und ohne Komplikation
- Hemiplegie oder Paraplegie
- Nierenerkrankung
- solide Tumoren
- sonstiger Krebs
- schwere Lebererkrankung
- AIDS.
Für das Vorliegen einer Vorerkrankung wurden eine stationäre Hauptdiagnose oder eine ambulante Diagnose oder stationäre Nebendiagnose aus zwei Quartalen (M2Q-Kriterium) verlangt. Ferner wurde auf die Gabe von Antikoagulanzien im Matching kontrolliert. Als Matchingverfahren wurde ein 1 : 5-Propensity-Score-Matching ohne Zurücklegen nach Rosenbaum und Robin (1983) verwendet (8).
Als primärer Outcome-Parameter wurde der Tod der Patientinnen beziehungsweise Patienten untersucht. Sekundär wurden die von Stocchetti und Zanier (9) identifizierten neun Erkrankungen als typische Spätfolgen des SHT betrachtet:
- Immobilität
- Demenz
- Epilepsie
- endokrine Störung
- Sprach- und Sehbehinderung
- kognitive Defizite (psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns)
- Kopfschmerzen
- Schlafstörungen
- Depression.
In der eTabelle 1 sind die Definitionen der Vorerkrankungen und Spätfolgen gemäß ICD-10 aufgelistet.
Die statistische Auswertung der Unterschiede zwischen Expositionsgruppe und Kontrollgruppe erfolgte über die zwei Verfahren Kaplan-Meier-Schätzer und Poisson-Regression. Über Kaplan-Meier-Kurven wurde die Zeit bis zum inzidenten Auftreten der Spätfolgen modelliert. Angegeben werden die 1-Jahres-Überlebensrate (1-year survival rate [1ySR]) und die Hazard Ratio (HR). Da das Auftreten der Spätfolgen nicht taggenau bestimmt werden konnte, wurden zusätzlich über Conditional (Fixed Effects) Poisson-Regressionen die relativen Risiken („incidence rate ratios“, IRR) inklusive 95-%-Konfidenzintervallen bestimmt (10). Zudem wird die absolute Differenz der Inzidenzraten zwischen Expositions- und Kontrollgruppe (ΔIR) angegeben. Die Zeit unter Risiko (10 Jahre, verkürzt durch Tod) diente hierbei als Offset (fixierte logarithmierte Variable in der Poisson-Regression zur Modellierung von Raten). Kontrollvariablen waren die dichotom codierten Vorerkrankungen und Fixed Effects für die Expositionspersonen und deren fünf Kontrollpersonen.
Ergebnisse
Stichprobenstatistik
Im Beobachtungszeitraum konnten 114 296 Patientinnen und Patienten mit SHT in die Studie eingeschlossen werden. Eine genauere Beschreibung der Studienpopulation findet sich in eTabelle 2 und eGrafik 1. Die Verteilung war:
- 6 % behandlungsintensive Fälle
- 57 % Fälle mit stationärer Behandlung
- 37 % Fälle mit ausschließlich ambulanter Behandlung.
Die Altersverteilung und die Prävalenzen von Vorerkrankungen sind eTabelle 2 zu entnehmen. Ein Vergleich des Matchings zwischen Expositionsgruppe und Kontrollgruppe wird in eTabelle 3 gezeigt.
Die Personen mit SHT verschiedener Behandlungsintensität unterschieden sich deutlich hinsichtlich ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen. Behandlungsintensive SHT waren zumeist bei älteren Patienten mit entsprechend höherer Vorerkrankungsrate zu finden.
Überlebenszeitanalyse
Die Überlebensraten nach einem SHT lagen unterhalb der Überlebensraten der jeweiligen Kontrollgruppen (Grafik 1, eGrafik 2). Dieser Befund zeigte sich für
- ambulant versorgte SHT
(1YSR = 97,9 %; HR = 1,19 [1,11; 1,18]) - stationär versorgte SHT
(1YSR = 92,7 %; HR = 1,27 [1,25; 1,29] - behandlungsintensive SHT
(1YSR = 61,7 %; HR = 2,34 [2,27; 2,42]).
Die HR waren nach einem SHT nicht zeitlich konstant. Nach SHT mit ambulanter Versorgung lag die HR im ersten Jahr bei 0,97 [0,90; 1,04] und für die Überlebenden in den folgenden neun Jahren bei 1,09 [1,06; 1,13]. Nach stationär versorgtem SHT betrug die HR im ersten Jahr 1,13 [1,10; 1,17] und in den Folgejahren 1,14 [1,12; 1,16]. Nach behandlungsintensivem SHT lag die HR bei 2,35 [2,21; 2,50] im ersten Jahr und bei 1,19 [1,14; 1,25] für die Überlebenden. Die HR war für die Überlebenden somit in jedem Fall auch ein Jahr nach dem SHT größer als eins (Grafik 1).
Spätfolgen des SHT
Bezogen auf alle Spätfolgen nach einem SHT beliebiger Behandlungsintensität zeigten sich höhere Inzidenzraten (Tabelle 1). Die absolut höchsten Anstiege in den Inzidenzraten innerhalb von 10 Jahren je 1 000 Versicherten fanden sich, abgesehen vom Tod (ΔIR = 67), bei Depressionen (ΔIR = 70), kognitiven Störungen (ΔIR = 30), Schlafstörungen (ΔIR = 29) und Sprach- und Sehbehinderungen (ΔIR = 24). Die relativ gesehen höchsten Anstiege gab es bei Kopfschmerzen (IRR = 4,89 [9,27; 10,86]) (Tabelle 1).
Grafik 2 zeigt die relativen Inzidenzraten der mit dem SHT assoziierten Folgeerkrankungen aufgeschlüsselt nach Behandlungsintensität des SHT. Alle Spätfolgen haben eine IRR größer eins. Mit zunehmender Behandlungsintensität nahmen die jeweiligen IRR zu. Dies galt insbesondere für behandlungsintensive SHT bei Tod (IRR = 3,20 [2,91; 3,53]), Epilepsie (IRR = 4,81 [4,4; 5,27]), endokrinen Störungen (IRR = 5,54 [4,58; 6,69]) und Kopfschmerzen (IRR = 13,46 [9,81; 18,47]). Bei Demenz, Sprach- und Sehbehinderungen, Depression und Schlafstörungen konnte kein Unterschied nach Behandlungsintensität festgestellt werden (Grafik 2).
Bezüglich des Zeitpunkts des Auftretens von SHT-assoziierten Spätfolgen lassen sich Folgen unterscheiden, die kurz nach dem Unfall auftreten, und solche, die sich erst über einen längeren Zeithorizont zeigen. Tabelle 2 listet die mittlere Zeitspanne in Jahren zwischen Indexdatum und inzidentem Auftreten der Spätfolgen auf. Je behandlungsintensiver das SHT, desto zeitiger wurden Spätfolgen detektiert. Insbesondere nach behandlungsintensivem SHT traten kurzfristig Tod, Kopfschmerzen oder Epilepsien auf. Längerfristig entwickeln sich Immobilität oder Demenz. Gleiches galt für stationär versorgte SHT und kognitive Defizite (Tabelle 2).
Diskussion
Die vorliegende Studie untersuchte die Langzeitfolgen für Patientinnen und Patienten nach einem SHT. Basierend auf 114 296 Fällen wurde im Vergleich zu Personen mit gleichen Vorerkrankungen und gleichem Alter gezeigt, dass bei Menschen, die ein SHT erlitten haben, zusätzlich zu erheblichen Kurzzeitfolgen weitere Langzeitfolgen im Hinblick auf Mortalität und Morbidität zu beobachten sind. Der Routinedatensatz der Krankenkassen enthält aber keine Informationen über die Komatiefe (zum Beispiel Glasgow Coma Scale) und Dauer, was die Zuordnung zu den klinischen Schweregradeinteilungen erschwert. Die hier beschriebenen „behandlungsintensiven SHT“ sind nur näherungsweise mit dem schweren SHT zu vergleichen. Bei 9,7 % der hospitalisierten Personen beziehungsweise 6,1 % bei allen Patientinnen und Patienten mit SHT wurde ein behandlungsintensives SHT identifiziert. Vergleichsangaben aus der Literatur variieren stark. Cuthbert et al. (11) und Langlois (12) geben 20 % schwere SHT im stationären Bereich für die USA an. Für Großbritannien werden von Lawrence et al. sogar 26 % berichtet (13). Styrke et al. ordnen für Skandinavien 2 % den schweren SHT zu (14). Die vorliegende Studie zeigt, dass sich die SHT verschiedener Behandlungsintensitäten hinsichtlich der Patientencharakteristika unterscheiden. Stark behandlungsintensive SHT zeichnen sich insbesondere durch ein höheres Alters- und Morbiditätsprofil aus. Während frühkindliche Verletzungen häufiger stationär abgeklärt werden, bedingen sie aber seltener eine behandlungsintensive Versorgung (15). Eine Ursachenzuordnung kann in dieser Studie nicht untersucht werden, da eine entsprechende Ursachenstatistik in den Daten der Krankenversicherung fehlt. Die Schwere der SHT konnte ebenfalls nicht ermittelt werden und ist nicht mit der Behandlungsintensität gleichzusetzen.
Für den Aspekt Letalität ergab sich aus den Angaben des Statistischen Bundesamtes 2019 bei 225 183 stationären SHT-Fällen und 6 467 Verstorbenen eine Rate von 2,9 % pro Jahr (2). Diese Zahl beschreibt den Zusammenhang zwischen SHT und Tod nur im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Trauma. Im vorliegenden Datensatz wurde eine Gesamtletalität innerhalb von 10 Jahren von 3,1 % inklusive der Langzeitfolgen ermittelt. Bei behandlungsintensiven SHT ergab sich eine erhöhte Sterblichkeit im Vergleich zur Kontrollgruppe schon primär unmittelbar nach dem Trauma. Zusätzlich zeigen stationär und ambulant versorgte Patientinnen und Patienten mit SHT eine erhöhte Sterblichkeit langfristig über den Zeithorizont von 10 Jahren.
In Bezug auf die Spätfolgen von SHT wurde festgestellt, dass Patientinnen und Patienten mit SHT generell, aber auch im Vergleich zur Gruppe ohne SHT, mit gleichem Vorerkrankungsmuster eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, zusätzliche Erkrankungen zu erleiden. Eine Annäherung an das Erkrankungsrisiko der Personen, die nicht von einem SHT betroffen waren, findet in dem betrachteten Zeitraum von 10 Jahren nicht statt. Die Literatur bildet vergleichbare Ergebnisse zu dieser Studie ab.
Angaben zur Inzidenz von Spastizität nach SHT sind in der Literatur selten und liegen zwischen 13 % und 20 % (16) beziehungsweise bis 75 % bei schweren SHT (17). Eine Metaanalyse von Gu et al. zeigt eine erhöhte Gefahr für die Ausbildung einer Demenz (gepooltes Chancenverhältnis 1,81 [1,53; 2,14]) bei Nachbeobachtungszeiten zwischen 4 und 40 Jahren (18). Epilepsien können sich zu jedem Zeitpunkt nach einem SHT entwickeln. Spätfälle (> 7 Tage) werden in der Literatur bei 1,9–30 % der SHT berichtet (19). Wir konnten darüber hinaus zeigen, dass Anfälle für alle Schweregrade sich auch noch in der Spätphase (circa 5 Jahre) nach dem Trauma erstmals manifestieren. Bei schweren und mittleren SHT geht man von einer Häufigkeit der Hypophyseninsuffizienz von circa 27,5 % [22,8; 28,9] aus (20). Da man erst in den letzten Jahren dieser Komplikation Aufmerksamkeit schenkt, mag dies die geringe Rate im 10-Jahres-Beobachtungszeitraum erklären.
Sehstörungen aller Art wurden unter amerikanischen Veteranen bei 33 von 50 (explosionsbedingt) beziehungsweise bei 34 von 49 SHT-Fällen (sonstige) berichtet (21). Die 10-Jahres-Verlaufsbeobachtung von Chen et al. 2017 ergab ebenfalls eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für eine Sehstörung im Zeitverlauf nach SHT (22). Für den Teilaspekt der komplexen Sprach- und Sprechstörungen bei den Funktionsstörungen fanden Wilde et al. in einer der wenigen zusammenfassenden Arbeiten Sprachstörungen bei 26 % und Sprechstörungen bei 46 % der Fälle (23).
Gemäß der englischen SHEFBIT-Studie lag bei bis zu 56,3 % [52,8; 59,8] der Patientinnen und Patienten mit SHT innerhalb von 10 Wochen beziehungsweise bei 41,2 % [37,6; 44,9] noch nach einem Jahr eine Depression vor (24). Bei schwereren Verläufen gaben in einem Review Guillamondegui et al. 2011 die Häufigkeit nach einem Jahr mit 33 % an (25). Wir konnten zeigen, dass die Ausbildung dieser Komplikation in den Folgejahren erst deutlich wird, aber in Anbetracht der generellen Häufigkeit dieser Diagnose keine solche Bedeutung erlangt, wie es die Absolutzahlen erwarten lassen. Li et al. beschrieben 2016, dass die altersbedingte kognitive Beeinträchtigung durch ein SHT im Vergleich zu Patientinnen und Patienten ohne SHT beschleunigt wird. Kopfschmerzen sind siebenmal häufiger nach leichtem SHT anzutreffen als bei den Patientinnen und Patienten ohne SHT (26). Wir fanden insgesamt hier eine dreimal höhere Inzidenz als in der Nicht-SHT-Gruppe, und diese Differenz findet sich im gesamten Beobachtungszeitraum.
Castriotta et al. geben 2011 eine Häufigkeit von Schlafstörungen nach SHT von 46 % an (darunter 23 % Schlafapnoe, 11 % posttraumatische Hypersomnie und 6 % Narkolepsie) (27). In unserem Datensatz ist diese Diagnose seltener zu finden, trotzdem bleibt aber eine eindeutige Differenz zwischen den Schlafstörungen in der Vergleichspopulation und den Patientinnen und Patienten mit SHT, und dies über den gesamten Beobachtungszeitraum.
Beachtenswert ist die Erkenntnis, dass Demenz, Sehstörungen, Depression und Schlafstörungen zwar zu Recht als häufige Folge des SHT beschrieben werden. Sie haben gleichwohl eine große Häufigkeit in der Gesamtbevölkerung, sodass die bislang dem SHT zugeordnete Zunahme untersucht werden sollte.
Limitationen
Die Ergebnisse dieser Studie lassen keine kausale Interpretation zu, da es sich lediglich um Beobachtungen ohne eine randomisierte Kontrolle handelt. Der Evidenzgrad des Zusammenhangs von SHT und Spätfolgen nimmt hierbei naturgemäß mit zunehmenden zeitlichen Abstand ab.
Aufgrund der fehlenden Randomisierung kann es zu Unterschieden in den Charakteristiken der Expositions- und Kontrollgruppe kommen, die die vorgelegten Ergebnisse beeinflussen. Unterschiede die aufgrund von Alter, Geschlecht und durch die kontrollierten Vorerkrankungen hervorgerufen worden wären, wurden durch das statistische Verfahren des Propensity Score Matching ausgeglichen. Soziale Unterschiede oder die Gabe von Thrombozytenaggregationshemmern sind nicht beobachtet worden und konnten demnach auch nicht berücksichtigt werden. Zudem könnten weitere Umstände bei den eingeschlossenen Personen aufgetreten sein, zum Beispiel Polytrauma oder das Vorhandensein einer Patientenverfügung, die das Outcome maßgeblich beeinflusst haben.
Wir nehmen an, dass die durch Ärztinnen und Ärzte ausgestellten Diagnosen eine tatsächliche Krankheitslast widerspiegeln. Es besteht ein Detektionsbias, wenn Patientinnen und Patienten nach einem SHT intensiver als die Allgemeinbevölkerung nachbeobachtet werden. Aufgrund des langen Zeithorizonts von zehn Jahren kann dieser Effekt jedoch als gering eingeschätzt werden.
Die Schweregrade der SHT konnten in dieser Studie nicht über gängige Maße wie den Glasgow Coma Score bestimmt werden. Ein Vergleich zu anderen, insbesondere klinischen Studien ist daher nur sehr eingeschränkt möglich. Die verwendete Stratifizierung nach der Behandlungsintensität ist im Allgemeinen mit der Schwere des SHT assoziiert, darf jedoch nicht als Schweregraddifferenzierung interpretiert werden, da in jeder Variante der Behandlungsintensität alle Schweregrade des SHT vorkommen können. Insbesondere können die genannten Prozeduren (OPS-Schlüssel) auch bei mittleren oder leichten SHT durchgeführt worden sein.
Aufgrund der unzureichenden Abbildung der Schwere der SHT können Effektmodifikationen auftreten, wenn unbetrachtete Einflussvariablen vorliegen, die mit der tatsächlichen Schwere des SHT, nicht aber mit der Behandlungsintensität assoziiert sind. Eine mögliche Einflussvariable ist das Geschlecht der Personen. Bei einer Sensitivitätsanalyse wurde keine Effektmodifikation durch das Geschlecht gefunden (eGrafik 2). Dies schließt nicht aus, dass über andere Variablen, zum Beispiel der sozioökonomischen Herkunft, eine Effektmodifikation vorliegt.
Fazit
Die Auswertung von Routinedaten von Patientinnen und Patienten mit SHT und der Vergleich zum Verlauf mit Personen ohne SHT ermöglicht neue Erkenntnisse zu den beträchtlichen Langzeitfolgen, zeigt aber auch Relativierungen der sonst zugeordneten Folgeerkrankungen auf. Schwierigkeiten ergeben sich bei der Differenzierung der unterschiedlichen Schweregrade.
Interessenkonflikt
ER ist Mitglied im Beirat der ZNS-Hannelore-Kohl-Stiftung.
Die übrigen Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 11.10.2022, revidierte Fassung angenommen: 09.02.2023
Anschrift für die Verfasser
Dr. rer pol. Danny Wende
Zitierweise
Rickels E, Steudel WI, Repschläger U, Schulte C, Weißgärber H, Wende D: The long-term sequelae of traumatic brain injury over 10 years of follow-up—a matched cohort study based on routine data of a statutory health insurance carrier. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 271– 6. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0046
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eTabellen, eGrafiken:
www.aerzteblatt.de/m2023.0046 oder über QR-Code
observational studies for causal effects. Biometrika 1983; 70: 41 CrossRef
J Comp Eff Res No. 25. 2011.
Prof. Dr. med. Eckhard Rickels, Prof. Dr. med. Wolf-Ingo Steudel
Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg), Berlin:
Dipl.-Ök. Uwe Repschläger, Claudia Schulte, Harald Weißgärber,
Dr. rer pol. Danny Wende
Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg)
Axel-Springer-Straße 44, 10969 Berlin
danny.wende@Barmer.de
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