POLITIK: Das Interview
Das Interview mit dem Präsidium der Bundesärztekammer: Dr. med. (I) Klaus Reinhardt, Dr. med. Ellen Lundershausen und Dr. med. Günther Matheis — Nur mit ärztlichem Sachverstand
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Das Präsidium der Bundesärztekammer ist sich einig: Die politische Bundesebene bindet die Selbstverwaltung zu wenig ein. Insbesondere bei der Krankenhausreform sei dies offensichtlich. Auf Landesebene sei dies besser.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will sich eher auf die Wissenschaft verlassen als auf die Selbstverwaltung. Haben Sie das Gefühl, dass in dieser Legislatur vieles anders läuft als gewöhnlich?
Reinhardt: Eines darf ich vorwegnehmen: Natürlich wird die Bundesärztekammer in alle wichtigen Gesetzgebungsprozesse eingebunden. Ich stehe im kontinuierlichen persönlichen Austausch mit dem Minister. Wie viele andere Organisationen aus dem Gesundheitswesen sehen wir es aber als ernstes Problem an, dass wir nicht von Anfang an strukturell an der Konzeption von Gesetzesinitiativen beteiligt werden. Hier grenzt der Minister, wie Sie richtig sagen, die Selbstverwaltung vielfach aus. Es braucht aber den medizinisch-fachlichen Sachverstand und das Versorgungswissen der tatsächlich vor Ort Verantwortlichen, wie es die Ärztekammern sektorenübergreifend bündeln, um wirklich praxistaugliche Lösungen für die Herausforderungen in unserem Gesundheitswesen zu finden.
Ein Beispiel?
Nehmen Sie die geplante Krankenhausreform. Die kürzlich vorgelegten Empfehlungen der vom Minister einberufenen Kommission waren nicht wirklich überraschend. Viele Komponenten kennen wir in ähnlicher Form aus dem laufenden Reformprozess in Nordrhein-Westfalen. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, dass dort alle Beteiligten, also Landesärztekammern, die Vertragsärzteschaft, die Landeskrankenhausgesellschaften, die Krankenkassen sowie die kommunalen Verbände bei der Konzeption und Umsetzung eng eingebunden sind. Alle Beteiligten überlegen gemeinsam, wie man gute Strukturen für den Krankenhaussektor aufbauen kann. Von einem solchen Miteinander sind wir auf der Bundesebene ein großes Stück entfernt.
Aber um noch einmal direkt auf Ihre Frage zurückzukommen: Der Minister behauptet, er wisse im Vorhinein, in welcher Weise sich sogenannte Lobbyisten in Reformdebatten einbringen würden, nämlich ausschließlich mit Blick auf ihre eigene Klientel. Für die Bundesärztekammer und die Ärztekammern kann ich sagen, dass für die Selbstverwaltung eines Freien Berufes die Gemeinwohlorientierung das ausschlaggebende Charakteristikum ist. Wir sind sicher keine Lobbyorganisationen, wie es uns der Minister mehrfach unterstellt hat.
Haben Sie bei den anstehenden Versorgungsgesetzen wieder die Sorge, nicht einbezogen zu werden?
Matheis: Wir werden auf jeden Fall nicht warten, bis man uns zu den Beratungen dazu bittet. Zu vielen wichtigen Einzelprojekten der Versorgungsgesetze bringen wir uns proaktiv ein, zum Beispiel zum Thema Datennutzung zu Forschungszwecken, zur Opt-out-Lösung bei der elektronischen Patientenakte oder auch zur Regulierung von investorengetragenen MVZ. Aber bleiben wir doch bitte noch etwas bei der Krankenhausreform. Hier pochen natürlich auch die Bundesländer auf eine enge konzeptionelle Einbindung. Denn sie sind für die Krankenhausplanung verantwortlich. Aus eigenem Erleben weiß ich, dass der Umgang auf Landesebene mit den Organisationen der Selbstverwaltung ein anderer ist – nicht immer und überall, aber oftmals. Wir hatten gerade in Rheinland-Pfalz eine Sitzung des Krankenhausplanungsausschusses. Die Politik hat ganz klar gesagt, wir brauchen die Kammer. Wir wollen eure Meinung hören und eure Expertise nutzen, weil sie unglaublich wichtig ist. Das ist völlig diametral zu dem, was wir auf Bundesebene hören.
Das betrifft auch die ärztliche Weiterbildung, die durch Krankenhausreform nicht mehr in der Breite angeboten werden könnte, die notwendig ist?
Reinhardt: Ja, das gehört zu den ärztlichen Aspekten der geplanten Krankenhausstrukturreform, die viel zu wenig berücksichtigt werden. Viele Fächer lassen sich bei einer zunehmenden Ambulantisierung nicht mehr komplett am Krankenhaus abbilden. Die geplante neue, feingliedrigere Planungssystematik mit sogenannten Leistungsgruppen wird dazu führen, dass manche Weiterbildungsstätten nicht mehr die volle Weiterbildungszeit anbieten können. Leistungsaufträge müssen deshalb medizinisch sinnvoll zugeschnitten werden, und wir brauchen Kooperationen zwischen Krankenhäusern unterschiedlicher Versorgungsstufen und flächendeckende Weiterbildungsverbünde. Bleibt dies außer Acht, droht die Reform die ohnehin bestehenden Nachwuchsprobleme weiter zu verschärfen. Wir stehen zu diesem Thema mit vielen Verantwortlichen im Austausch, unter anderem mit verantwortlichen Gesundheitspolitikern, mit den Partnern in der Selbstverwaltung und mit Vertretern der Fachgesellschaften. Ende März haben wir mit einer Fachtagung auf wichtige Gesichtspunkte aus ärztlicher Sicht aufmerksam gemacht.
Grundsätzlich gilt für die Krankenhausreform: So sinnvoll Spezialisierungen und Konzentrationsprozesse sind, die Gegebenheiten vor Ort und die wohnortnahe stationäre Versorgung dürfen wir dabei nicht aus dem Blick verlieren. Man kann nicht einfach von der Bundesebene eine Schablone über Deutschland legen, um die Krankenhausstandorte zu definieren. Man muss die gewachsenen Strukturen und den regionalen Bedarf beachten und auf dieser Grundlage ein besseres System schaffen. Das erfordert ein hohes Maß an Sachkenntnis der Details.
Richten Sie Ihren Fokus daher jetzt eher auf die Landesebene?
Lundershausen: Es muss möglich sein, die Vorarbeiten in den Ländern mit den Reformplänen auf Bundesebene abzugleichen. In Thüringen sind wir schon lange in die Krankenhausplanung involviert. Wir sehen aufgrund des Ärztemangels und des Fachkräftemangels in den anderen Gesundheitsberufen und angesichts des demografischen Wandels die Notwendigkeit der Umstrukturierung. Als Ärztekammer wollen wir im Sinne von Patientensicherheit und Qualität mitgestalten. Das Thüringer Gesundheitsministerium fragt unsere Experten in diesen Fragen auch an. Nur so kann es funktionieren. Auf Bundesebene scheint man sich nicht so sehr dafür zu interessieren, wie es an der Basis aussieht. Da lebt man noch in dem Irrglauben, am grünen Tisch planen und entscheiden zu können, was die Menschen vor Ort brauchen.
Haben Sie denn Hoffnung, dass die Eckpunkte dann etwas gefälliger ausfallen?
Reinhardt: Ja, ich glaube, dass die Eckpunkte deutlich pragmatischer gefasst werden. Die große Kunst wird sein, eine ausgewogene Gleichung zwischen notwendigen bundesweiten Strukturveränderungen und regionalen Anpassungsmöglichkeiten zu finden. Zu viele Ausnahmeregelungen vonseiten der Länder wären natürlich kontraproduktiv. Aber das System muss flexibel sein. Das ist letztlich allen Beteiligten klar. Daher glaube ich an einen Kompromiss.
Matheis: Dem schließe ich mich an. Die Öffnungsklauseln, die wir sicherlich regional brauchen, dürfen nicht dazu führen, dass man am Ende keine Bewegung im System hat. Das muss jedem klar sein.
Wie nehmen Sie als Kammern die Ärztinnen und Ärzte vor Ort mit? Wie man hört, schreiben Geschäftsführer kleinerer Kliniken die Belegschaft an und warnen vor Schließungen?
Lundershausen: Wir haben Gesprächsangebote in kleinen Gruppen von ärztlichen Direktoren gestartet. Allerdings ist der Stand der Bundesreform zurzeit noch zu nebulös. Es bleibt derzeit noch unklar, wie die Bund-Länder-Gespräche verlaufen werden. Niemand möchte medizinisches Personal beunruhigen oder Patientinnen und Patienten ängstigen, bevor es nicht klare Reformvorschläge in den Ländern gibt. Dass es zu Strukturveränderungen kommen wird, muss man aber transparent kommunizieren.
Reinhardt: Es ist eine schwierige Zeit, weil die Krankenhäuser nicht wissen, was auf sie zukommt – auch auf der kaufmännischen Seite. Insofern brauchen wir bald klar erkennbare Linien, wohin es gehen wird.
Bis aber der Gesetzgebungsprozess abgeschlossen ist, was sicher eine Zeit lang dauert, brauchen wir eine Art von Zwischenlösung, ein Vorschaltgesetz. Denn der wirtschaftliche Druck in der Krankenhauswelt ist groß, verbunden mit der Sorge, dass man unter Umständen ganze Abteilungen oder sogar Häuser verliert.
Hinzu kommt, dass der enorme Produktivitätsdruck bei medizinischen Leistungen in sehr vielen Häusern an die Beschäftigten im ärztlichen wie im pflegerischen Dienst weitergegeben wird. Ein Ziel der Krankenhausreform sollte deshalb sein, durch sinnvolle Konzentration von Einheiten und durch die Nutzung von Synergieeffekten bei vollständigem Erhalt der Personalzahl den enormen Druck zu senken, um den Beschäftigten mehr Zeit für die Patientenversorgung zu verschaffen. Wenn man sich auf dieses Ziel einigen könnte, würden Patientinnen und Patienten dafür sicher in Kauf nehmen, zehn Kilometer weiter in die nächste Klinik fahren zu müssen.
Haben Sie den Eindruck, dass sich die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen in den vergangenen fünf Jahren noch einmal verstärkt hat?
Lundershausen: Ja, den Eindruck habe ich. Der kommerzielle Druck erhöht sich. Immer damit verbunden ist das Klagen der Kolleginnen und Kollegen über mangelnde Zeit für die Patientenversorgung und die zum großen Teil sinnlose Zunahme der Bürokratie. Das hören wir aus allen Bereichen der Medizin und von allen Gesundheitsfachberufen.
Reinhardt: Bei der Kommerzialisierung muss man auch und gerade die privaten Investoren im Bereich der Medizinischen Versorgungszentren im Blick haben. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich erachte MVZ ausdrücklich als sinnvolle Ergänzung der ambulanten Versorgungsstrukturen. Auch Investitionen in Gesundheitseinrichtungen sind nicht per se schlecht, ganz im Gegenteil. Unsere Kritik ist differenziert. Wir haben in einem viel beachteten Positionspapier vor möglichen negativen Folgen für die Versorgungsqualität gewarnt, wenn private Investitionen ausschließlich an hohe Renditeerwartungen geknüpft werden. Solche Fehlentwicklungen müssen wir frühzeitig stoppen.
In diesem Sinne bringt Bayern im Auftrag der Gesundheitsministerkonferenz einen Bundesratsantrag zur Regulierung von iMVZ ein. Auf Bundesebene erwarten wir noch in der ersten Jahreshälfte einen Gesetzentwurf. Im Übrigen, dass unser Vorstoß auch Gegenreaktionen ausgelöst hat, werten wir mal als Zeichen, dass unsere Vorschläge Wirkung zeigen könnten.
Lundershausen: Die Entwicklung in den iMVZ wird auch von denen kritisch gesehen, die in Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften tätig sind. Sie sehen mit Sorge, wie sich ihre Versorgungsmodelle in dieser wachsenden Konkurrenzsituation behaupten können. Die Politik hat das Problem der Kommerzialisierung im ambulanten Bereich viel zu lange überhaupt nicht beachtet. Sicher auch deshalb, weil man die ambulante Versorgung insgesamt zu wenig im Blick hat.
Der ambulante Bereich kommt in der aktuellen Debatte also zu kurz?
Matheis: Das ist definitiv so. Im stationären Sektor sehen wir ganz genau, wer Träger ist. Wir wissen ganz genau, wie da die Restrukturierungen laufen. Und wenn ich das mal selbstkritisch sagen darf: Was die Kommerzialisierung insgesamt angeht, hat es unsere Ärztegeneration verpasst, sich rechtzeitig einzumischen in diesen ganzen Prozess. Wir waren im Dauerstress und haben gesagt, die in der Verwaltung, die machen das schon. Die Ärztinnen und Ärzte hat man deshalb aus diesem Prozess herausgelassen. Das Resultat sehen wir heute.
Ist der Zug da abgefahren oder kann man ihn noch einholen?
Matheis: Dieser Zug ist abgefahren. Wir müssen jetzt auf den nächsten Zug warten, und vor allem die Haltestellen entsprechend neu definieren.
Lundershausen: Oder, um im Bild zu bleiben, der Zug kommt zum Halten durch die Abstimmung der jungen Generation mit den Füßen.
Zur Kommerzialisierung gehört auch die Frage der sinkenden Arztzeit?
Matheis: Da beobachten wir eine ähnliche Entwicklung. Ich überblicke 40 Jahre im chirurgischen Fach. Früher haben wir uns am Ende des Tages über die Arbeit, über die OPs und die Befindlichkeiten der Patienten ausgetauscht. Das alles findet heute nicht mehr statt. Wir haben eine Leistungsverdichtung, die ärztlich nicht mehr vertretbar ist. Mittlerweile haben wir eine neue, junge Generation von Chefärzten, die diesen kollegialen Austausch früherer Zeiten nicht mehr kennt, sondern nur noch die Patientenversorgung unter Druck.
Lundershausen: Andererseits: Was die Arztzeit betrifft, lässt die nachwachsende Generation nicht mehr alles mit sich machen. Es wird oft so dargestellt, als ob die jungen Ärztinnen und Ärzte zu freizeitorientiert wären. Das ist nicht so. Sie wollen strukturiert und qualifiziert arbeiten. Dass diese Arztgeneration verkürzt arbeiten will, ist bei der hohen Arbeitsverdichtung reiner Selbstschutz. Und schließlich möchte man auch mal seine Kinder sehen. Eine wichtige Rolle dabei spielen die jungen Frauen, die inzwischen etwa zwei Drittel der Medizinstudierenden ausmachen. Das ist ein riesiges Potenzial an Fachkräften der Zukunft. Es kann nur genutzt werden, wenn die Arbeitsbedingungen adäquat sind. Kindertagesstätten auf dem Klinikgelände können da nicht einfach mal um 16 Uhr schließen. Ich glaube, hier setzen diese Kolleginnen und auch Kollegen Grenzen. Die junge Generation setzt ihre Prioritäten heute anders, das ist auch gut so.
Reinhardt: Insofern kann man dem ärztlichen Fachkräftemangel zumindest an dieser Stelle etwas Positives abgewinnen. Denn wir laufen auf einen Arbeitnehmermarkt zu. Die Jüngeren können sich den Arbeitsplatz aussuchen. Und wenn ein Arbeitgeber nicht dafür sorgt, dass die Arbeitsbedingungen angemessen sind, dann bekommt er den Zuschlag nicht.
Sie fordern auch mehr Medizinstudienplätze. Allerdings dauert es Jahre, bis die Studierenden in der Versorgung sind. Wie kann man schneller gegensteuern?
Lundershausen: Es kann viel ärztliche Arbeitszeit besser im Sinne der Patientenbetreuung genutzt werden, wenn Bürokratie reduziert würde – in den Praxen und in den Kliniken. Natürlich müssen bestimmte Vorgänge administrativ abgebildet werden, aber sicher nicht in dem bisherigen Übermaß. Vieles von dem, was wir jetzt dokumentieren müssen, ist schlichtweg überflüssig. Bei anderen Gesundheitsberufen sieht es übrigens nicht besser aus. In den Kliniken müssen Pflegekräfte rund drei Stunden ihres Arbeitstages mit Bürotätigkeiten verbringen. Das ist definitiv zu viel. Dafür hat auch kein Patient mehr Verständnis.
Matheis: Deshalb ist auch eine vernünftige Digitalisierungsstrategie für Kliniken und Praxen so wichtig. Funktionierende und versorgungsorientierte digitale Anwendungen und Prozesse können uns die Zeit verschaffen, die uns bisher für die Patientenversorgung fehlt. Im Moment beobachten wir aber vor allem im ambulanten Bereich, dass digitale Prozesse rund um die elektronische Gesundheitskarte mehr Arbeit machen, als dass sie entlasten.
Finden sich denn Ihre Wünsche für die Digitalisierung in der jetzt vorgestellten Strategie des Bundesgesundheitsministeriums wieder?
Reinhardt: Es ist schon mal vernünftig, dass sich die Digitalstrategie an Versorgungsnotwendigkeiten ausrichten soll. Es ist wichtig, sich stärker darüber Gedanken zu machen, wie digitale Technik ärztliches Handeln unterstützen kann. Man muss vor allem die digitalen Anwendungen vorantreiben, die einen echten Mehrwert in der Patientenversorgung haben. Dass das bislang nicht geschehen ist, ist kein Versäumnis der Ärzteschaft, sondern eines der Politik, die jahrelang die falschen Prioritäten gesetzt hat. Man hat nie die Anwender gefragt, welche digitalen Tools sie brauchen. Wäre man sonst auf die Idee gekommen, das Versichertenstammdatenmanagement, die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder das E-Rezept als erste Anwendungen in die Fläche zu bringen? Das sind ganz sicher nicht die Anwendungen, die mir als erstes einfallen, wenn es um echte Verbesserungen in der Patientenversorgung geht. Mit der elektronischen Patientenakte sind wir zumindest auf dem richtigen Weg, auch wenn die Pläne noch sehr vage sind. Die Digitalisierungsstrategie muss unbedingt um eine Implementierungs- und Kommunikationsstrategie ergänzt werden. Dass zukünftig jeder Versicherte eine ePA erhalten wird und seine Daten für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt werden, wenn er nicht widerspricht, ist erklärungsbedürftig.
Welche Rolle spielt für Sie denn der Datenschutz bei der Digitalisierung?
Reinhardt: Wir haben im Vergleich zu anderen europäischen Staaten, wie etwa Dänemark, Estland oder Schweden, ein sehr hohes Datenschutzniveau in Deutschland. Ob das so sein muss, wird kontrovers diskutiert. Der Bundesdatenschützer wird zur Zeit ja gerne als Verhinderer der Digitalisierung kritisiert. Solange nicht eindeutig klar ist, dass durch die Informationen in der elektronischen Patientenakte tatsächlich Versorgungsverbesserungen zu erzielen sind, bin ich eher zurückhaltend, ob wirklich alle Informationen abschließend aufgeführt werden müssen. Man darf nicht von einem Extrem in ein anderes verfallen.
Lundershausen: Ich sehe das nicht ganz so: Wenn wichtige Informationen vorenthalten werden, nützt die elektronische Patientenakte weder den Patienten noch der Ärztin oder dem Arzt.
Matheis: Genau. Deswegen muss zwar der Missbrauch der Zugriffsrechte hochgradig sanktioniert werden. Aber bei bestimmten Sachverhalten muss eine umfängliche Information sichergestellt sein, um entsprechend reagieren zu können.
Vielleicht wäre es eine Lösung, einen Notfallzugriff auf einen Datensatz in der ePA zu ermöglichen, in dem der Patient nicht alles verschatten kann. Als Vorlage könnte der Notfalldatensatz dienen, den die BÄK federführend erarbeitet hat.
Zum Schluss: Welche große Themen werden künftig noch die Gesundheitspolitik bestimmen?
Reinhardt: Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft mit einem rasanten und kostenintensiven medizinischen Fortschritt sowie neuen Möglichkeiten der Digitalisierung. Damit stehen wir vor einer echten Zeitenwende, die intensive politische und gesellschaftliche Debatten notwendig macht. Das muss sich die Politik endlich einmal vergegenwärtigen.
Wir brauchen Konzepte, wie die Finanzierung unseres Krankenversicherungssystems bei stetig steigender Inanspruchnahme medizinischer Leistungen auf eine breitere und damit zukunftsfeste Basis gestellt werden kann. Wir müssen digitale Anwendungen und perspektivisch natürlich auch künstliche Intelligenz im Sinne arztunterstützender Anwendungen praxistauglich und für die Patientenversorgung sicher nutzbar machen. Wir müssen die Gesundheitsprävention im Sinne von Health in all Policies noch viel stärker als heute im politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein verankern. Und natürlich dürfen wir in unseren Anstrengungen für einen gesundheitsbezogenen Klimaschutz nicht nachlassen. Das sind nur einige der Themen, die die Bundesärztekammer intensiv bearbeitet und die unsere Agenda in den nächsten Jahren weiter bestimmen werden.
Lundershausen: Ich sehe in diesem Kontext besonders die Probleme der jungen Generation, der wir als Kammersystem und auch als ältere Arztgeneration verpflichtet sind. Wir müssen die Probleme und die besonderen Herausforderungen dieser Generation beachten. Die jungen Kolleginnen und Kollegen starten mit Freude, großen Erwartungen und viel Motivation in den Arztberuf. Wir müssen sie dabei unterstützen, dass sie sich diese Einstellungen trotz aller Widrigkeiten unseres Berufsalltags bewahren. Das heißt auch, dass wir als Kammern für die jungen Kolleginnen und Kollegen ansprechbar sind, wenn sie zum Beispiel mit ökonomischen Vorgaben konfrontiert werden, die in Konflikt zu ihren ärztlichen Entscheidungen stehen. Und natürlich müssen wir uns dafür einsetzen, dass endlich die Reform des Medizinstudiums vorankommt. Wir warten seit mehreren Jahren auf den Entwurf einer neuen Approbationsordnung, der vom vorvorherigen Gesundheitsminister initiierte Masterplan Medizinstudium trug mal das Jahr 2020 in seinem Titel. Passiert ist bisher wenig. Wir werden nicht aufhören zu insistieren, bis sich Bund und Länder hier endlich bewegen.
Matheis: Klaus Reinhardt hat es angesprochen. Wir sind schlecht auf die Auswirkungen der demografischen Entwicklung vorbereitet. Nicht nur in der Medizin, sondern als Gesellschaft insgesamt. Die Zahl der Jüngeren sinkt, die Zahl der Älteren wächst, und zwar sehr schnell. Wie also können wir die Versorgung einer Gesellschaft des langen Lebens nachhaltig sicherstellen? Diese Grundsatzfrage ist im gesellschaftlichen Diskurs noch nicht angekommen. Aber genau darauf müssen wir hinwirken. Es geht um nicht weniger als um unsere Zukunft.
Das Interview führten Rebecca Beerheide und Michael Schmedt.
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