MEDIZIN: Originalarbeit
Akuter Thoraxschmerz
Diagnostische Genauigkeit und präklinischer Einsatz von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern
Acute chest pain—diagnostic accuracy and pre-hospital use of anticoagulants and platelet aggregation inhibitors
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Hintergrund: Ein akuter Thoraxschmerz (aTS) kann ein Symptom lebensbedrohlicher Erkrankungen wie einem akuten Koronar- oder Aortensyndrom sein, allerdings hat aTS häufig keine kardiale Ursache. Die Empfehlungen zur präklinischen medikamentösen Therapie bei Patientinnen und Patienten mit aTS sind uneindeutig.
Methode: Es wurde eine retrospektive Kohortenstudie mit 822 von einem Notarzt/einer Notärztin begleiteten Patientinnen und Patienten mit aTS durchgeführt. Die Genese des aTS wurde wie folgt eingeteilt: akutes Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung (NSTE-ACS), akutes Aortensyndrom, hypertensive Krise, Herzrhythmusstörungen, muskuloskelettale und andere Ursachen. Verdachts- sowie Entlassungsdiagnosen wurden verglichen und die präklinische Applikation von Acetylsalicylsäure (ASS) und unfraktioniertem Heparin (UFH) analysiert. Außerdem wurde untersucht, welche Parameter die diagnostische Genauigkeit verbessern.
Ergebnisse: Der positive prädiktive Wert der Diagnose durch eine Notärztin/einen Notarzt (NA-Diagnose) lag bei 39,7 %. NSTE-ACS war die häufigste Verdachtsdiagnose (74,7 %), wurde aber nur bei 26,3 % der Patientinnen und Patienten innerklinisch bestätigt. ASS wurde in 51 %, UFH in 55 % und beide Wirkstoffe in 46,4 % der Fälle verabreicht. Viele Patientinnen und Patienten erhielten präklinisch eine blutverdünnende Therapie, obwohl die Entlassungsdiagnose nicht NSTE-ACS lautete: ASS 62,9 %, UFH 66,0 %, beide Wirkstoffe 56,5 %.
Schlussfolgerung: Trotz einer geringen präklinischen diagnostischen Genauigkeit werden bei NA-begleiteten Patientinnen und Patienten mit aTS häufig ASS und UFH verabreicht. Die präklinische Messung von hoch-sensitivem Troponin T (hs Trop-T) könnte die Unterscheidung zwischen NSTE-ACS und anderen aTS-Ursachen verbessern. Das ist wichtig, da die aktuellen Leitlinien keine klaren Empfehlungen für die präklinische medizinische Therapie bei NSTE-ACS enthalten.


Akute Thoraxschmerzen (aTS) sind die Ursache von 16,4 % aller Notarzteinsätze (1) und gehören zu den häufigsten Vorstellungsgründen in der Notaufnahme (2). Sie sind sensitiv für die Erkennung potenziell lebensbedrohlicher Erkrankungen wie einem akuten Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung (NSTE-ACS) (3) oder einem akuten Aortensyndrom (AAS) (4). Allerdings sind aTS nicht spezifisch genug, um weniger gefährliche, nicht kardiale Ursachen auszuschließen und nur weniger als 1 % der Personen mit aTS in der Notaufnahme benötigen eine akute Intervention (5). In der Präklinik ist diese diagnostische Unterscheidung zusätzlich erschwert. Das deutsche Rettungswesen basiert auf approbierten Notärztinnen und Notärzten (NA) verschiedener Fachrichtungen. Die aTS sind ein typischer Alarmierungsgrund für den NA, der die Notfallsanitäterinnen und -sanitäter in der Regel am Einsatzort trifft. Leitlinienbasierte Empfehlungen für die präklinische medizinische Therapie für Patientinnen und Patienten mit aTS sind uneindeutig. Ziel der vorliegenden Studie war es,
- die diagnostische Genauigkeit der NA-Diagnosen bei aTS zu untersuchen,
- den präklinischen Einsatz von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern bei aTS zu bewerten und
- diese Ergebnisse mit der definitiven Ätiologie von aTS zu korrelieren.
Methoden und Charakteristika der Patientinnen und Patienten
In dieser retrospektiven Kohortenstudie wurden Patientinnen und Patienten mit aTS analysiert, die zwischen Juli 2018 und Dezember 2020 in NA-Begleitung in die Chest Pain Unit (CPU) der Uniklinik Köln eingeliefert wurden. Lag ein ST-Hebungsinfarkt (STEMI) vor oder wurde keine präklinische Behandlung durch einen NA eingeleitet, wurden die Betroffenen ausgeschlossen. Die Studie wurde in Übereinstimmung mit den ethischen Standards der Deklaration von Helsinki durchgeführt und durch die Ethikkommission der Universität zu Köln genehmigt (Referenznummer 21–1143).
Parameter und Klassifizierung
Folgende Parameter wurden erfasst: Alter, Geschlecht, bekannte kardiovaskuläre Risikofaktoren und ausgewählte Dauermedikation mit Thrombozytenaggregationshemmern wie Acetylsalicylsäure (ASS) oder Adenosindiphosphat(ADP)-Rezeptorantagonisten, Vitamin-K-Antagonisten (VKA) oder direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK). Darüber hinaus wurden Vitalparameter, Veränderungen des Elektrokardiogramms (EKG) und ausgewählte Laborwerte bei Ankunft im Krankenhaus dokumentiert. Die vom NA prähospital verabreichte Therapie mit ASS und/oder unfraktioniertem Heparin (UFH) wurde dokumentiert. Untergruppen für die aTS-Ätiologie wurden definiert als NSTE-ACS, AAS, hypertensive Krise (HK), Herzrhythmusstörungen (HRST), muskuloskelettale und andere Ursachen, das heißt Schmerzen mit gastrointestinaler, pneumologischer, neurologischer oder psychiatrischer Ursache (6). Die Einteilung in die einzelnen Untergruppen wurde dem NA-Protokoll beziehungsweise dem CPU-Arztbrief entnommen und lag somit im Ermessen des NA (präklinische Diagnose) beziehungsweise der behandelnden Ärztin/des behandelnden Arztes der CPU (Entlassungsdiagnose). Fälle von chronischem Koronarsyndrom (CCS) wurden gemäß aktueller Leitlinien (7) bei positivem Ergebnis als NSTE-ACS klassifiziert.
Statistische Auswertung
Die Verteilung der quantitativen Variablen wurde als Mittelwert ± Standardabweichung (SD) und die der qualitativen Variablen als absolute sowie relative Häufigkeiten zusammengefasst. Die Assoziation von präklinischen Merkmalen mit Diagnosegruppen wurde durch eine Kreuztabellierung (für kategorische Daten) oder Varianzanalyse auf der Basis von Rängen (für quantitative Daten) bewertet. Paarweise Vergleiche von Gruppen basierten auf dem Chi-Quadrat-Test beziehungsweise dem Mann-Whitney-U-Test. Der Vergleich von Verdachts- oder Entlassungsdiagnose und vorbestehender/verabreichter Medikation wurde mit dem McNemar-Test durchgeführt. Als Hinweis auf statistische Signifikanz wurden p-Werte kleiner als 0,05 betrachtet, zumindest auf explorative Weise, da keine Anpassung für die Multiplizität vorgenommen wurde. Alle statistischen Berechnungen wurden mit SPSS Statistics (IBM Corp.) durchgeführt.
Ergebnisse
822 Patientinnen und Patienten mit einem Durchschnittsalter von 65 ± 17 Jahren (64 % Männer) wurden untersucht. 548 Personen (66,6 %) hatten ≤ 1 Risikofaktor, 99 Personen (12 %) hatten 2 bis 3 und 175 Personen (21,3 %) hatten > 3 Risikofaktoren für eine koronare Herzkrankheit. Bei 368 Personen (45 %) lag eine KHK in der Vorgeschichte vor. Die vorbestehende medikamentöse Therapie bestand bei 303 Erkrankten (36,9 %) aus ASS, bei 120 (14,6 %) aus ADP, bei 46 (5,6 %) aus VKA und bei 142 (17,3 %) aus DOAK. Die vollständigen Ausgangsparameter sind in Tabelle 1 aufgeführt.
Präklinische medikamentöse Therapie
In der untersuchten Kohorte von Patientinnen und Patienten mit aTS wurden präklinisch bei 419 Betroffenen ASS (51 %), bei 453 UFH (55 %) und bei 381 beide Wirkstoffe (46,4 %) verabreicht (Tabelle 2). Dieser Anteil stieg, sobald die Verdachtsdiagnose NSTE-ACS gestellt wurde. In diesem Fall wurden 395 Personen (64,4 %) mit ASS, 427 (69,5 %) mit UFH und 361 (58,8 %) mit beiden Wirkstoffen behandelt. Insgesamt erhielt ein großer Teil der Patientinnen und Patienten eine medikamentöse Therapie, obwohl die Entlassungsdiagnose nicht NSTE-ACS lautete: 266 Erkrankten (62,9 %) wurde ASS, 279 (66,0 %) UFH und 239 (56,5 %) beide Wirkstoffe verabreicht. Wenn der/die NA eine andere Ursache als NSTE-ACS vermutete, erhielten 24 Personen (11,5 %) ASS, 26 (12,5 %) UFH und 20 (9,6 %) beide Substanzen. Bei 287 Patientinnen und Patienten (34,9 %) wurde eine invasive Koronarangiografie durchgeführt, von denen 155 (18,9 %) eine perkutane Koronarintervention erhielten (PCI).
Beim Vergleich zwischen Dauermedikation und durch den/die NA verabreichter Medikation zeigte sich ein Einfluss der Dauermedikation auf die NA-Entscheidung, eine zusätzliche „loading dose“ zu verabreichen: Eine vorbestehende Therapie mit ASS oder ADP reduzierte die Zahl der Patientinnen und Patienten, die eine zusätzliche „loading dose“ ASS erhielten (beide p < 0,001). Ebenso führte eine vorherige Therapie mit VKA oder DOAK zur selteneren Gabe einer zusätzlichen „loading dose“ UFH (beide p < 0,001, eTabelle).
Diagnostische Genauigkeit
NSTE-ACS war die häufigste prähospitale Verdachtsdiagnose für aTS (614 Personen, 74,7 %), gefolgt von anderen Ursachen (96 Personen, 11,7 %), HRST (53 Personen, 6,4 %), HK (25 Personen, 3,1 %), AAS (24 Personen, 2,9 %) und schließlich muskuloskelettalem aTS (10 Patienten, 1,2 %) (Grafik). Im Gegensatz zur präklinischen Diagnose waren muskuloskelettale aTS die häufigste Diagnose bei der Entlassung (223 Personen, 27,1 %). Nur bei 217 Betroffenen (26,3 %) wurde bei Entlassung ein NSTE-ACS diagnostiziert. Bei insgesamt 23 Patientinnen und Patienten (10,6 %) stellte sich retrospektiv ein CCS heraus. 19 Personen (2,3 %) wurden mit der endgültigen Diagnose NSTE-ACS entlassen, obwohl zunächst der Verdacht auf eine andere aTS-Ursache bestand (Grafik). Der Vergleich von Verdachts- und Entlassungsdiagnose ergab einen positiven Vorhersagewert (PPV) von insgesamt 39,7 %. Die Analyse der Subgruppen ergab, dass der PPV am niedrigsten bei Verdacht auf AAS war (7 von 24 Personen oder 29,2 %), gefolgt vom Verdacht auf NSTE-ACS (198 von 614 Personen oder 32,2 %). Andererseits war der PPV hoch bei HK (20 von 25 Personen oder 80 %), muskuloskelettaler aTS (8 von 10 Personen oder 80 %) und HRST (42 von 53 Personen oder 79,2 %). Die präklinische Diagnose von NSTE-ACS hatte die höchste Sensitivität (91,2 %), einen hohen negativen Vorhersagewert (NPV) von 91 % und die niedrigste Spezifität (31,2 %). Für die übrigen Diagnosekategorien betrugen Sensitivität und Spezifität 28,2 % und 93,0 % bei anderen Ursachen, 58,3 % und 97,9 % bei AAS, 17,5 % und 99,3 % bei HK, 3,6 % und 99,7 % bei muskuloskelettalen Ursachen sowie 56,0 % und 98,5 % bei HRST.
Anhand der präklinischen Variablen konnten Patientinnen und Patienten mit NSTE-ACS von allen anderen Gruppen nicht ausreichend unterschieden werden. Der initiale präklinische systolische Blutdruck war bei HK im Vergleich zu anderen aTS-Ursachen höher (185 ± 27 mm Hg versus 140 ± 28 mm Hg, p < 0,05). Bei HRST war die Herzfrequenz höher (115 ± 52 versus 82 ± 21 bpm, p < 0,05) als bei anderen Ursachen für aTS. Wenn das erste verfügbare hoch-sensitive Troponin T (hs Trop-T) hinzugenommen wurde, konnte zwischen NSTE-ACS und allen anderen aTS-Ursachen differenziert werden (0,18 ± 0,43 versus 0,03 ± 0,1µg/L, p < 0,05, Tabelle 1).
Diskussion
Die vorliegende Studie zeigt, dass die Häufigkeit lebensbedrohlicher Ätiologien von aTS präklinisch häufig überschätzt wird. Daraus resultiert eine oft nicht indizierte präklinische Behandlung mit Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern.
Der PPV aller untersuchten Patientinnen und Patienten lag bei 39,7 %, was hauptsächlich auf die häufigen Verdachtsdiagnosen NSTE-ACS und AAS zurückzuführen war. Für die Risikobewertung von Personen mit NSTE-ACS stehen verschiedene Scores zur Verfügung: Während die Scores Thrombolysis in Myocardial Infarction (TIMI) (8) und Global Registry of Acute Coronary Events (GRACE) (9) hauptsächlich für die Prognose nach gesicherter Diagnose eines NSTE-ACS verwendet werden, konnte mithilfe des HEART-Scores („history, electrocardiography, age, risk factors, troponin“, HEART) eine frühzeitige und sichere Entlassung aus der Notaufnahme erreicht werden (10). Die Einführung zuverlässiger Point-of-Care-Troponin-Tests (11) könnte es der/dem NA ermöglichen, ein NSTE-ACS in der präklinischen Phase auszuschließen. Dieses Konzept hat sich in einer großen Beobachtungskohorte (12) bewährt und wird derzeit in einer randomisierten Studie (13) untersucht. Analog dazu wurde ein Score zum Ausschluss eines AAS mit einer Sensitivität von 91 % publiziert (14). Eine präklinische POCT-Testung (POCT, Point-of-Care-Testing) von Troponin könnte zukünftig hilfreich sein.
Verbessert sich die präklinische diagnostische Genauigkeit von NSTE-ACS und AAS, würden nach Ausschluss dieser Diagnosen einerseits unnötige Transporte in tertiäre Zentren reduziert werden. Andererseits ließen sich Sekundärtransporte von verzögert diagnostiziertem NSTE-ACS verhindern. Besonders in ländlichen Gebieten mit eingeschränkter Verfügbarkeit von interventionellen Therapien wie PCI wäre dies von Vorteil. Darüber hinaus verbirgt sich hier das Potenzial, den präklinischen Einsatz von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern zu verbessern. Wie in dieser Studie gezeigt, wird ein großer Teil der Patientinnen und Patienten bereits bei einem Verdacht auf ein NSTE-ACS präklinisch mit ASS und UFH behandelt.
In den aktuellen European Society of Cardiology(ESC)-Leitlinien zum NSTE-ACS wird der Stellenwert einer Abwägung zwischen Ischämie- und Blutungsrisiko im Hinblick auf die Thrombozytenhemmung sowie Antikoagulation betont (15). Sowohl ASS als auch UFH haben eine Klasse-1A-Empfehlung für die Anwendung bei Patientinnen und Patienten mit bestätigtem NSTE-ACS, die sich einer PCI unterziehen. Auch wenn die wissenschaftliche Grundlage für diese Empfehlung aus einer Zeit vor flächendeckend verfügbarer Bildgebung und hochsensitiver Troponin-Tests stammt (16, 17), steht die Bedeutung beider Medikamente bei bestätigtem NSTE-ACS während einer PCI nicht in Frage. Allerdings enthalten weder die europäischen (15) noch die amerikanischen (18) Leitlinien spezifische Empfehlungen für den präklinischen Einsatz von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern – dieser Mangel an Evidenz wurde bereits kritisiert (19). Tatsächlich werden nach einem aktuellem ESC-Positionspapier weder ASS noch UFH präklinisch empfohlen, wenn der oder die Betroffene nicht innerhalb von < 2 Stunden einer akuten PCI unterzogen wird (19). Für den präklinischen Einsatz von ASS oder UFH bei NSTE-ACS existieren praktisch keine belastbaren Daten (20).
Die Kombination aus geringer diagnostischer Genauigkeit und breitem Einsatz von ASS und UFH bei Personen mit vermutetem NSTE-ACS birgt verschiedene Probleme. Zunächst einmal werden sowohl ASS als auch UFH regelmäßig ohne Indikation verabreicht. Die Inzidenz der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT) bei Patientinnen und Patienten mit ACS reicht von < 1 % (21) bis 9,5 % (22) und eine HIT ist mit einem schlechteren Outcome assoziiert (23). Selbst die Einmalgabe von UFH kann eine schwere HIT auslösen (24). Die Blutungszeit kann sich nach Einmalgabe von ASS erheblich verlängern (25, 26), mit potenziell tödlichen Komplikationen (27). Stellt sich statt eines vermuteten NSTE-ACS ein AAS als Grund für die Beschwerden heraus, zeigt sich ein signifikanter Anstieg der tödlichen Komplikationen durch eine präklinische Behandlung mit ASS und UFH (28). Für einen präklinischen Einsatz von UFH sprechen hingegen die Erfahrungen bei Patientinnen und Patienten mit STEMI, wo sich diese Behandlung als sicher und möglicherweise vorteilhaft erwies (29, 30).
Es ist nicht bekannt, ob der präklinische Einsatz von Antikoagulanzien oder Thrombozytenaggregationshemmern im Vergleich zur Gabe nach innerklinisch gesicherter Diagnose überlegen ist. Personen mit non-STEMI sind älter, haben mehr Komorbiditäten und ein höheres Blutungsrisiko als diejenigen mit STEMI oder instabiler Angina pectoris (31, 32). Hervorzuheben ist die erheblich verbesserte Diagnostik für „rule in/out“ eines Myokardinfarktes durch die Einführung der hochsensitiven Troponin-Tests sowie des 0/1-Stunden-Algorithmus der ESC. Insbesondere in dicht besiedelten Gebieten vergehen oft nur wenige Stunden zwischen Notruf und dem „rule in/out“ eines Myokardinfarkts in der Notaufnahme. Es ist nicht bekannt, ob eine um nur wenige Stunden frühere Gabe von ASS und/oder UFH die potenziellen Komplikationen aufwiegt, insbesondere im Kontext der geringen präklinischen diagnostischen Genauigkeit. Erinnert sei in diesem Zusammenhang, dass eine Vorbehandlung von an NSTE-ACS erkrankten Patientinnen und Patienten mit Prasugrel (33) oder Ticagrelor (34) keinen positiven Effekt auf harte Endpunkte hatte und zu mehr Blutungskomplikationen führte.
Viele vom ACS Betroffene nehmen regelmäßig ein VKA- oder DOAK-Präparat ein. Bei gesichertem STEMI empfiehlt ein aktuelles Konsensuspapier der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) eine zusätzliche „loading dose“ mittels UFH und ASS, unabhängig vom Zeitpunkt der letzten VKA- oder DOAK-Einnahme (35). In der vorliegenden Studie wurde festgestellt, dass eine vorbestehende Therapie mit ASS/ADP beziehungsweise VKA/DOAK die präklinische Gabe einer zusätzlichen Dosis ASS oder UFH bei aTS beeinflusst. Auch wenn dieses Ergebnis in Summe nicht überraschen mag, zeigt sich im Detail ein heterogenes Vorgehen der NA: Nur 24 % der Patientinnen und Patienten mit vorbestehender VKA-Therapie, aber 54 % der Personen mit vorbestehender DOAK-Therapie wurden mit einer zusätzlichen Dosis UFH behandelt. Es ist zu vermuten, dass diejenigen mit aTS, deren Symptomatik tatsächlich auf einen partiellen oder kompletten Koronarverschluss zurückzuführen ist, von einer zusätzlichen „loading dose“ profitieren. Belastbare Daten, die dieses Vorgehen stützen, existieren jedoch nicht und im Kontext der relativ hohen Inzidenz von aTS bleibt offen, ob seltene Komplikationen übersehen werden.
Diese Studie hat mehrere Limitationen. Wir präsentieren retrospektive monozentrische Daten aus einer deutschen Metropolregion, die nicht auf eine Region beziehungsweise ein Land mit unterschiedlich strukturiertem Rettungswesen übertragen werden können. Darüber hinaus bedürfen klinisch-praktische Schlussfolgerungen einer prospektiven und optimalerweise randomisierten Untersuchung von harten Endpunkten wie schwerwiegenden kardiovaskulären Ereignissen (MACE) oder Blutungskomplikationen und HIT-Inzidenz. Die Entlassungsdiagnosen wurden ohne detaillierte Nachverfolgung aus den Arztbriefen der CPU übernommen, weshalb in der Gruppe „andere Ursachen“ Ungenauigkeit besteht und „muskuloskelettale Ursachen“ höchstwahrscheinlich überschätzt wurden. Der Schwerpunkt dieser Studie lag jedoch auf Patientinnen und Patienten mit NSTE-ACS – diese Gruppe wird innerklinisch dank fester Algorithmen und hochsensitiver Diagnostik praktisch nicht übersehen beziehungsweise fehldiagnostiziert. Schlussendlich überschätzt die Verwendung des ersten innerklinisch verfügbaren hsTrop-T die tatsächliche hsTrop-T-Konzentration zum Zeitpunkt einer hypothetischen Analyse durch den NA am Einsatzort, wenngleich die kurzen innerstädtischen Transportzeiten diesem Effekt entgegenwirken.
Zusammenfassend zeigen wir, dass die präklinische Diagnose eines NSTE-ACS schwierig ist und häufig zu einem übermäßigen Einsatz von ASS und UFH führt. Die schlechte Datenlage spiegelt sich in der Unsicherheit der NA wider, insbesondere wenn mit VKA oder DOAK vorbehandelt wurde. Die relative Inzidenz der damit verbundenen Komplikationen ist wahrscheinlich sehr gering. Angesichts der großen absoluten Zahl von Patientinnen und Patienten mit NSTE-ACS und des auch weltweit verbreiteten präklinischen Einsatzes von Thrombozytenaggregationshemmern sowie Antikoagulanzien kann ein Einfluss dieses übermäßigen Einsatzes auf die Inzidenz oben genannter Komplikationen aber nicht ausgeschlossen werden. Eine verbesserte präklinische Diagnosegenauigkeit ist nötig, um NA die Entscheidungsfindung bei aTS zu erleichtern. In künftigen Studien sollte untersucht werden, ob eine präklinische Therapie mit ASS und UFH bei vermutetem NSTE-ACS von Vorteil ist oder schadet.
Finanzierung:
Diese Forschung erhielt keine spezifischen Zuschüsse von öffentlichen, kommerziellen oder gemeinnützigen Einrichtungen.
Interessenkonflikt
Die Autorinnen und Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 20.09.2022, revidierte Fassung angenommen: 07.03.2023
Anschrift für die Verfasser
PD Dr. med. Christoph Adler
Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln
Klinik III für Innere Medizin
Universität zu Köln
Kerpener Straße 62, 50937 Köln
Christoph.Adler@uk-koeln.de
Zitierweise
Braumann S, Faber-Zameitat C, Macherey-Meyer S, Tichelbäcker T, Meertens M, Heyne S, Nießen FS, Nies RJ, Nettersheim FS, Reuter H, Pfister R, Hellmich M, Burst V, Baldus S, Lee S, Adler C: Acute chest pain—diagnostic accuracy and pre-hospital use of anticoagulants and platelet aggregation inhibitors. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 317–23.
DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0065
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eTabelle:
www.aerzteblatt.de/m2023.0065 oder über QR-Code
Universität zu Köln, Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln, Klinik III für Innere Medizin: Dr. med. Simon Braumann, Christian Faber-Zameitat, Dr. med. Sascha Macherey-Meyer, Dr. med. Tobias Tichelbäcker, Max Meertens, Dr. med. Sebastian Heyne, Dr. med. univ. Franz Nießen, Dr. med. Richard Julius Nies, Dr. med. Felix Nettersheim, Prof. Dr. med. Hannes Reuter, Prof. Dr. med. Roman Pfister, Prof. Dr. rer. medic. Martin Hellmich, Prof. Dr. med. Volker Burst, Prof. Dr. med. Stephan Baldus, Dr. med. Samuel Lee, PD Dr. med. Christoph Adler
Evangelisches Klinikum Köln Weyertal, Abteilung für Innere Medizin: Prof. Dr. med. Hannes Reuter
Universität zu Köln, Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln, Institut für medizinische Statistik: Prof. Dr. rer. medic. Martin Hellmich
Universität zu Köln, Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln, Schwerpunkt Klinische Akut- und Notfallmedizin: Prof. Dr. med. Volker Burst
Universität zu Köln, Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln, Klinik II für Innere Medizin: Prof. Dr. med. Volker Burst
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